junge Welt Wochenendbeilage 10.04.04

Der lange Weg zum Frieden  

Zwischen Newroz und Kommunalwahl: Reiseeindrücke
aus dem kurdischen Südosten der Türkei


Von Nick Brauns

Schauplatz Diyarbakir, die auch »heimliche Hauptstadt Kurdistans« genannte
Metropole im Südosten der Türkei: Bis zu einer Million Menschen versammeln
sich am 21. März zur Feier des kurdischen Neujahrsfestes Newroz. Viele gehen
den zehn Kilometer langen Weg zum Festplatz über staubige Straßen zu Fuß.
Überall wehen Fahnen in den kurdischen Farben rot-gelb-grün. Von Gasballons
getragen, steigen Bilder des auf Imrali, der Gefängnisinsel im Marmarameer,
inhaftierten Abdullah Öcalan zum Himmel auf. Unter dem Applaus von
Hunderttausenden hißt ein Jugendlicher die Fahne der
PKK-Nachfolgeorganisation Kongra-Gel (Kurdistan Volkskongreß) an einem
Laternenmast in der Mitte des Platzes. Die Polizisten auf dem Dach einer
benachbarten Schule schauen teilnahmslos zu. Im Vergleich zu den Vorjahren
zeigen sich auch auf den Straßen weniger Uniformierte. Sollte der türkische
Staat die kurdische Realität endlich anerkannt haben?

»Laßt euch nicht täuschen«, meint Mesud, den wir im
Firat-Dicle-Kulturzentrum von Diyarbakir kennenlernen. »Die Polizisten haben
nur ihre Uniformen gegen Zivilkleidung getauscht. Die Spitzel vom
Militärgeheimdienst JITEM sind überall.« Vor zwei Jahren wurde Mesud aus
Deutschland abgeschoben. Obwohl die Folter mit brennenden Zigaretten
deutliche Spuren auf seinem Körper hinterlassen hat, wurde sein Asylantrag
als »unbegründet« abgelehnt.

Durch Hunderttausende Flüchtlinge ist die Einwohnerzahl der kurdischen
Metropole in den vergangenen 15 Jahren auf über eine Million angewachsen.
Viele wohnen in schnell hochgezogenen Hochhäusern am Stadtrand. Bei Regen
verwandeln sich die nicht asphaltierten Straßen in einen Sumpf. Strom fällt
regelmäßig aus, und Wasser fließt nur stundenweise. Die Arbeitslosigkeit
beträgt hier bis zu 80 Prozent. Runde Backöfen für das traditionelle
Fladenbrot auf den Dächern der Häuser erinnern an die bäuerliche Herkunft
ihrer Bewohner. Nach dem Ende des bewaffneten Kampfes zwischen PKK-Guerilla
und türkischer Armee vor einigen Jahren wollen viele in ihre zerstörten
Dörfer zurückkehren. Doch mit den örtlichen Großgrundbesitzern verbündete
Dorfschützer haben oft das Land der Vertriebenen geraubt.

Hier am Stadtrand, inmitten von Wellblechhütten und Hochhäusern, residiert
der Anfang März gegründete KURD PEN. Momentan kämpfen die rund 30 im
kurdischen PEN-Zentrum organisierten Schriftsteller um ihre offizielle
Anerkennung beim Gouverneur. Auf Unterstützung durch das Kultusministerium
können sie nicht rechnen. Dort heißt es, in der Türkei gäbe es ja schon ein
türkisches PEN-Zentrum. »Kurdischsprachige Bücher verkaufen sich schlecht,
da die Sprache durch das jahrzehntelange Verbot und die Zwangsassimilation
der Kurden fast tot war«, erklärt KURD-PEN-Präsident Edip Polat. »Aber nur
in seiner Muttersprache kann ein Dichter wirklich seine Gefühle
ausdrücken.« Nach Urfa und Batman soll demnächst auch in Diyarbakir eine
private Sprachschule für Kurdischunterricht eröffnet werden. Ein wichtiger
symbolischer Schritt nach 80 Jahren kemalistischer Verleugnungspolitik,
meint Polat. Zur wirklichen Anerkennung der kurdischen Identität sei
allerdings ein regulärer kurdischsprachiger Ergänzungsunterricht an Schulen-
und Universitäten die Voraussetzung.

Und die kurdische Presse? »Gündem (Tagesordnung) ist eine demokratische
Zeitung für Arbeiter und Unterdrückte«, erläutert die verantwortliche
Redakteurin für Diyarbakir Sibel Güler. Die in einer Auflage von 35 000
erscheinende türkischsprachige Tageszeitung steht in der Tradition einer
prokurdischen Presse seit 1990. Bis Mitte der 90er Jahre ging die
Konterguerilla mit Morden und Bombenanschlägen gegen die freie Presse vor.
Inzwischen erzwingen Prozesse gegen Redakteure und Herausgeber, hohe
Geldstrafen und mehrwöchige Erscheinungsverbote regelmäßig Neugründungen
unter anderem Namen. Zu Newroz zeigt die Zeitung ein ganzseitiges
Öcalan-Porträt. Das Bild ist eine Anzeige, die von 5000 PKK-Gefangenen in
den türkischen Gefängnissen in Auftrag gegeben wurde. Ein Teil der Auflage
wurde deswegen von der Polizei beschlagnahmt, und dem Blatt droht ein
erneuter Prozeß.

In ihrer Ablehnung der Besetzung des Irak durch die USA weiß sich die
Gündem-Redaktion mit großen Teilen der Kurden in der Türkei
einig. »Natürlich sind wir froh, daß Saddam weg ist«, erklärt Güler. »Aber
das Volk hätte das auch allein geschafft. Die kurdische Frage kann nur durch
die demokratische Einheit der Völker ohne Angriffe von außen gelöst
werden.« Die letzte Seite jeder Ausgabe gehört den Frauen. »Auch in der
bürgerlichen Presse ist die letzte Seite eine Frauenseite - mit nackten
Frauen«, meint die Redakteurin. »Wir dagegen behandeln die sozialen Probleme
von Frauen.« Selbst Tabuthemen wie Inzest und sexueller Mißbrauch in den
Familien werden aufgegriffen.

Mit solchen Themen sowie den psychologischen Folgen des Krieges
beschäftigten sich auch die Mitarbeiterinnen des im vergangenen Jahr bei der
Stadtverwaltung geschaffenen psychologischen Beratungszentrums für Frauen
EPI-DEM. Da bis zu 90 Prozent der Frauen in den Armenvierteln - den
Gecekondus - kein Türkisch sprechen, wurde bei der Auswahl der
Mitarbeiterinnen auf Kurdischkenntnisse Wert gelegt. »Wir bieten
traumatisierten Frauen eine Therapie an. Aber das Hauptproblem ist die
soziale Umgebung, die wir nicht verändern können«, meint die 26jährige
Psychologin Nedret Güzel. »Aus wirtschaftlichen Gründen verheiraten die
Familien ihre minderjährigen Töchter. Da diese Ehen nach türkischen Gesetzen
illegal sind, haben auch die Kinder keinen legalen Status.« 90 Prozent der
Familien sind zudem nicht krankenversichert.

Wir verlassen Diyarbakir. Militärposten in der obermesopotamischen Ebene
winken die meisten Fahrzeuge noch durch. Ein anderes Bild bietet sich in der
Provinz Tunceli. Hier, wo sich die nördlichen Ausläufer des Taurus mit den
südlichen Ausläufern des Schwarzmeer-Gebirges treffen, herrscht seit Mitte
der 1930er Jahren Ausnahmezustand. Alle paar Kilometer müssen wir an
Straßensperren des Militärs halten. Unsere Namen werden telefonisch an den
nächsten Kontrollposten weitergegeben. »Das ist zu eurer Sicherheit. Hier
ist Terroristengebiet«, erläutert ein Soldat und deutet auf vergilbte Bilder
gesuchter »Terroristen« an der Wand. Der junge Türke kommt aus Stuttgart und
leistet hier seinen Wehrdienst. Anschließend möchte er seine deutsche
Freundin heiraten.

Mehr als 150 Guerillakämpfer der PKK und einige Maoisten halten sich noch in
den schwer zugänglichen Bergen auf. Auch im letzten Jahr haben PKK-Kämpfer
in dieser Region Vergeltungsaktionen für Übergriffe des Militärs
durchgeführt. Den Soldaten ist ihre Nervosität anzumerken. Während der Fahrt
in offenen Jeeps behalten sie ihre Gewehre schußbereit. Jeder Militärkonvoi
wird von gepanzerten Fahrzeugen eskortiert. Auf den Bergkämmen rund um die
Provinzhauptstadt Tunceli (kurdisch: Dersim) sind Geschützstellungen und
Radaranlagen zu erkennen. Nachts leuchten auf den Gipfeln der
schneebedeckten Berge die Scheinwerfer der Militärposten. Manchmal stehen
Ruinen am Wegrand. Über 4 000 Dörfer wurden in den 90er Jahren vom Militär
zerstört.

Dersim galt Mitte der 1930er Jahre als »letzte freie Burg« der Kurden in der
Türkei. In unzugänglichen Berghöhen waren die kleinen Bauerndörfer der
Kontrolle des Staates entzogen. Unter der Führung des Geistlichen Seyid Riza
kämpfte eine Bauernguerilla für Autonomie. »Dersim ist für die Türkische
Republik eine Eiterbeule. Es ist absolut erforderlich, diese Eiterbeule zu
operieren, bedauerlichen Vorfällen zuvorzukommen, die Gesundheit der Heimat
zu erhalten« - mit diesen Worten erklärte die Regierung in Ankara Ende 1935
Dersim den Krieg. Kurdische Schulen wurden geschlossen, das Wort »Kurde«
verboten und der Name Dersim durch »Tunceli« (Eisenfaust) ersetzt. 1937/38
ging die türkische Armee zur völligen ethnischen Säuberung über. Dörfer
wurden umzingelt, die Männer auf dem Dorfplatz erschossen, Frauen und Kinder
in ihren Häusern verbrannt. Tausende Frauen stürzten sich von den hohen
Felsen in den Fluß Munzur, um nicht von den Soldaten vergewaltigt zu werden.
Nach Ende des Massakers ließ die Regierung Hunderttausende Überlebende in
andere Landesteile deportieren. Der Genozid kostete bis zu 80 000 Kurden das
Leben.

Doch der Widerstandsgeist von Dersim konnte niemals gebrochen werden. Nicht
nur die zahlreichen kommunistischen Zeitungen in den Auslagen der Kioske
belegen dies. Im Stadtzentrum von Dersim steht eine Frauenstatue. Offiziell
soll sie die Menschenrechte symbolisieren. Doch für die Dersimer ist dies
ein Denkmal für die Guerillakämpferin Zilan, die an diesem Platz 1996 als
erste kurdische Frau ein Selbstmordattentat auf eine Militärparade verübte.

In Dersim-Stadt herrscht trotz zahlreicher Uniformierter eine lockere
Atmosphäre. Entlang des Flusses locken Teestuben zum Verweilen. Auffällig
ist der Kontrast zur benachbarten Provinz Elazig. Dort sah man selten Frauen
ohne männliche Begleitung. Viele trugen sogar eine schwarze Burka. In Dersim
sind Schleier kaum zu sehen, Gruppen modisch gekleideter junger Frauen umso
öfter. Die meisten Dersimer gehören der alevitischen Religionsgemeinschaft
an, die altiranisch-esoterische Elemente aus vorislamischer Zeit mit der
Verehrung von Ali, dem Schwiegersohn des Propheten Mohammed, verbindet.
Aleviten lehnen die islamischen Gebetsvorschriften ebenso ab wie den
Ramadan. Statt in Moscheen treffen sie sich in Cem-Häusern zu religiösen
Festen. Auch Alkohol ist erlaubt. Immer wieder waren Aleviten gewalttätigen
Übergriffen orthodoxer Muslime ausgesetzt. Aus Angst vor einem Erstarken des
sunnitischen Islam gehören sie heute zu den Hauptunterstützern der
laizistischen Staatsdoktrin des Kemalismus.

In den Teestuben ertönen Lieder im kurdischen Zaza-Dialekt, die
den »heiligen Munzur« besingen. Nach dem Genozid der 30er Jahre droht Dersim
heute die zweite Vernichtung. Durch acht Staudämme soll der Munzur, ein
Nebenfluß des Euphrat, auf 70 Kilometern in einen riesigen See verwandelt
werden. Der größte Nationalpark der Türkei würde dadurch zerstört, 80 Dörfer
würden überschwemmt und die einzelnen Teile der Provinz durch das zwei
Milliarden Dollar teure Projekt voneinander abgeschnitten werden. Wind- und
Solarenergie könnten die gleiche Energiemenge schon für 60 Millionen Dollar
schaffen. »Ziel dieser Staudämme ist nicht die Energiegewinnung«, meint
Alican Önlü, der Vorsitzende der kurdischen Demokratiepartei des Volkes
(DEHAP) in Dersim. »Hier sollen unsere historischen Wurzeln zerstört werden.
Die Orte der Massaker von 1938 sollen ebenso verschwinden, wie alevitische
Heiligtümer im Munzurtal.« Bereits zu Beginn der 30er Jahre empfahl das
Militär der Regierung die Überflutung der Täler von Dersim zur Auslöschung
des kurdischen Widerstandes. Die Staudämme sind Teil des »low intensity
warfare«. Umsiedlungen und Vertreibungen der einheimischen Bevölkerung und
die Neuansiedlung von Arbeitskräften aus der Westtürkei verändern die
Bevölkerungsstruktur mit dem Ziel, der kurdischen Befreiungsbewegung die
Basis zu entziehen. Schon in den Jahren des Krieges ab 1992 wurden 70 000
Menschen zur Emigration gezwungen.

Auch in Dersim wird nun, genau eine Woche nach Newroz, gewählt, und auch
diesmal kommt es bei den Kommunalwahlen in den kurdischen Landesteilen zu
Einschüchterungen durch das Militär und die Schläger der Großgrundbesitzer.
In einem Dorf bei Diyarbakir verprügeln, so erfahren wir später, Soldaten
einen DEHAP-Funktionär beim Verlassen des Wahllokals - als Warnung an
potentielle Linkswähler. In anderen Wahllokalen erzwingen Soldaten eine
offene Stimmabgabe. In Diyarbakir greift die Polizei am Wahlabend
Journalisten der lokalen Fernsehsender an und zerstört deren Kameras,
nachdem diese über Unregelmäßigkeiten bei der Wahl berichteten.

In Dersim-Stadt wird die 32jährige Gewerkschafterin Songül Erol Abdil zur
ersten weiblichen Oberbürgermeisterin in der Türkei gewählt - ein Erfolg für
die unter dem Dach der Sozialdemokratischen Volkspartei SHP
zusammengeschlossene »Einheit demokratischer Kräfte« aus DEHAP, der Partei
der Arbeit EMEP und anderen türkischen Linksparteien.

Das Bündnis findet nicht überall die Unterstützung der kurdischen
Nationalisten. »Die DEHAP sollte offen zu ihrer kurdischen Identität stehen
und sich nicht hinter türkischen Parteien verstecken«, fordert etwa der
20jährige DEHAP-Aktivist Mehmet aus Diyarbakir. Nachdem die DEHAP eine Reihe
Stadtverwaltungen an die islamische Regierungspartei AKP von
Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan verloren hat, sehen sich die Kritiker
bestätigt. »Die türkische Linke existiert nur noch auf dem Papier. Wir
brauchen sie nicht.« Gerade unter Jugendlichen wächst die Unzufriedenheit
mit der von Imrali aus vorgegebenen Orientierung Abdullah Öcalans auf
eine »demokratische Republik Türkei«. »Die Türken werden uns niemals als
gleichberechtigt ansehen. Wir wollen endlich unseren eigenen kurdischen
Staat«, so eine verbreitete Meinung.

Auch der aus der Westtürkei stammende und heute in Diyarbakir lebende
marxistische Schriftsteller Murat Uyurkulak ist skeptisch. »Wenn die
Reformen der Regierung nicht bald zu deutlichen Verbesserungen für die
kurdische Bevölkerung führen, kann sich die Lage in Diyarbakir auch wieder
dramatisch zuspitzen.«