Junge Welt 19.04.2003
Stalins Sturz verpaßt
Lenins Bombe zündete nicht. Trotzki gab den Trumpf aus der Hand.
Vor 80 Jahren: Der XII. Parteitag der KPR (B)
Der XII. Parteitag der Kommunistischen Partei Rußlands
(Bolschewiki), der vom 17. bis zum 23. April 1923 in Moskau tagte, war der
erste Parteitag der Bolschewiki, an dem Lenin nicht teilnahm. Er war nach dem
dritten Herzinfarkt am 9. März des Jahres halbseitig gelähmt und der
Sprachfähigkeit beraubt. Vorher aber hatte Lenin nach seinen eigenen Worten
noch eine politische »Bombe gegen Stalin« vorbereitet.
Schon länger hatte Lenin die zunehmende Bürokratisierung des Partei- und
Staatsapparats beklagt und das Agieren des Generalsekretärs kritisiert. In
seinem im Dezember 1922 verfaßten sogenannten Testament hatte er erklärt, er
sei nicht überzeugt, daß Stalin, der »eine unermeßliche Macht in seinen Händen
konzentriert«, »es immer verstehen wird, von dieser Macht vorsichtig genug
Gebrauch zu machen«. Da dieser »zu grob« sei, schlug Lenin die Ablösung Stalins
vor.
Der Hebel zum Sturz Stalins sollte die Georgien-Frage werden. Stalin war in
arroganter und bürokratischer Weise gegen den Wunsch der Kaukasusrepublik nach
einem Mindestmaß von Selbstbestimmung aufgetreten. Sein Vertrauter Ordshonikidse
hatte sich als ZK-Vertreter sogar zu Handgreiflichkeiten gegenüber einem
georgischen Kommunisten hinreißen lassen. Dzierzynski, der eine diesbezügliche
Untersuchungskommission leitete, hatte Stalins und Ordshonikidses Vorgehen
gedeckt.
Am 5. März 1923 diktierte Lenin seiner Sekretärin eine Notiz an Trotzki, in der
er ihn bat, die Verteidigung der georgischen Angelegenheit vor dem ZK der
Partei zu übernehmen. »Diese Sache wird gegenwärtig von Stalin und Dzierzynski
›verfolgt‹, und ich kann mich auf deren Unvoreingenommenheit nicht verlassen.
Sogar ganz im Gegenteil.« Lenin überließ Trotzki seine Aufzeichnungen zur
Nationalitätenpolitik, in denen es unter anderem hieß: »Und ich glaube, im
gegebenen Fall, in dem es sich um die georgische Nation handelt, haben wir ein
typisches Beispiel dafür, wo eine wahrhaft proletarische Einstellung größte
Vorsicht, Zuvorkommenheit und Nachgiebigkeit unsererseits erfordert. Ein
Georgier, der sich geringschätzig zu dieser Seite der Sache verhält, der
leichtfertig mit Beschuldigungen des ›Sozialnationalismus‹ um sich wirft,
(während er selbst ein wahrer und echter ›Sozialnationalist‹, ja mehr noch, ein
brutaler großrussischer Dershimorda ist), ein solcher Georgier verletzt im
Grunde genommen die Interessen der proletarischen Klassensolidarität, weil
nichts die Entwicklung und Festigung der proletarischen Klassensolidarität so
sehr hemmt wie die nationale Ungerechtigkeit und weil die ›gekränkten‹
nationalen Minderheiten für nichts ein so feines Gefühl haben wie für die
Gleichheit und für die Verletzung dieser Gleichheit, sei es auch nur aus
Fahrlässigkeit, sei es auch nur im Scherz, für die Verletzung dieser Gleichheit
durch die Genossen Proletarier.« Dershimorda, mit dem Stalin hier verglichen
wurde, war der Name eines prügelnden Polizisten aus einem bekannten Buch
Gogols.
Entgegen Lenins ausdrücklicher Warnung, keinen »faulen Kompromiß« einzugehen,
erklärte sich Trotzki gegenüber dem Triumvirat Stalin-Sinowjew-Kamenew, das die
Partei seit Lenins Krankheit führte, bereit, auf dem Parteitag auf Angriffe zu
verzichten. Im Gegenzug sollte Stalin in seinen Thesen zur
Nationalitätenpolitik den großrussischen Chauvinismus mit klaren Worten
verurteilen, in der Wirtschaftspolitik einen »festen Kurs auf die
Industrialisierung« einschlagen und sich bei Lenins Frau Krupskaja für
vorangegangene Beleidigungen entschuldigen. Der Generalsekretär ergriff dankbar
die rettende Hand und akzeptierte alle Bedingungen. Nachdem Trotzki Lenins
explosiven Artikel zur Nationalitätenfrage, der ihm eigens zur Verlesung auf
dem Parteitag anvertraut worden war, einen Tag vor Beginn des Parteitags dem
Zentralkomitee überlassen hatte, beschloß das ZK, diese »Bombe gegen Stalin«
nicht zu veröffentlichen.
Stalin schlug vor, Trotzki solle den Rechenschaftsbericht des ZK halten. Dieser
durchschaute die Falle. Um nicht den Eindruck zu erwecken, er wolle nach Lenins
Krone greifen, schlug er das Angebot aus und Sinowjew übernahm das
Hauptreferat. Trotzki schwieg zu allen kritischen Fragen oder verließ gar während
der Nationalitätendebatte den Plenarsaal. Es gab nicht den kleinsten Hinweis
auf Differenzen zwischen ihm und dem Triumvirat.
Auch Stalin hatte sich nach außen hin an die Abmachung mit Trotzki gehalten. In
scharfen Worten verurteilte er den großrussischen Chauvinismus. Vergeblich
forderten die derart vor den Kopf gestoßenen georgischen Delegierten, Lenins
Aufzeichnungen zu verlesen. Als einziges Politbüromitglied verteidigte Nikolai
Bucharin in einer aufrüttelnden Rede die Rechte der kleinen Völkerschaften und
entlarvte
Stalins Heuchelei.
Trotzki konzentrierte sich in seiner Rede am 20. April allein auf die
Wirtschaftspolitik. Er beklagte eine »Schere« zwischen den hohen Preisen für
Industriegüter und den niedrigen für landwirtschaftliche Erzeugnisse. Da Bauern
sich Industrieprodukte nicht leisten könnten und so kein Anreiz zur
Agrarproduktion bestehe, sei das Bündnis zwischen Stadt und Land bedroht.
Trotzki empfahl, die Industrieproduktion durch Rationalisierung und
Modernisierung zu steigern. Im Rahmen der seit 1921 gültigen
marktwirtschaftlich ausgerichteten Neuen Ökonomischen Politik (NÖP) sollte so
der staatliche Sektor gegenüber dem Privatkapital gestärkt und die NÖP
schrittweise überwunden werden. Er verschwieg nicht die Härten, die diese sozialistische
Akkumulation für Arbeiter und Bauern gleichermaßen bedeuten würde. Seinen
Gegnern in der Partei war es daher ein Leichtes, Trotzki als angeblichen Feind
der Bauern- wie der Arbeiterschaft zu denunzieren. Obwohl Trotzkis Rede als
offizielle Linie der Partei galt und während des Kongresses auf keinen
Widerspruch des Politbüros traf, blieb die wirtschaftliche Praxis bis zum
ersten Fünfjahresplan 1929 unverändert.
Die Parteitagsdelegierten stimmten für eine Erweiterung des Zentralkomitees von
27 auf 40 Mitglieder. Doch nicht – wie von Lenin vorgeschlagen – politisch
unvorbelastete Arbeiter und Bauern rückten nach, sondern enge Gefolgsleute
Stalins, der erneut zum Generalsekretär gewählt wurde. »Der Zwölfte Parteitag
hob Stalin vom Stande der Unterordnung auf den ersten Platz im Triumvirat.
Sinowjews Mehrheit im Zentralkomitee und im Politbüro wurde umgestoßen, Stalin
gewann die Kontrolle des einen wie des anderen«, notierte Trotzki. Später
sollte er zu der Erkenntnis kommen, daß man »in den Jahren 1922/23 noch die
Kommandoposition durch einen offenen Angriff« hätte erobern können. Um sein
Wirtschaftsprogramm, dessen Tragweite nur die wenigsten Zuhörer einschätzen
konnten, vorzustellen, hatte er jedoch die entscheidende Gelegenheit zum Sturz
Stalins verpaßt und Lenins Trumpf aus der Hand gegeben.
Trotzki-Biograph Isaak Deutscher mutmaßt, es sei Trotzki wie ein schlechter
Witz vorgekommen, »daß Stalin, der energische und verschlagene, aber schäbige
und ausdruckslose Mann in Hintergrund, sein Rivale sein sollte. Er wollte sich
von ihm nicht stören lassen und war nicht bereit, sich mit ihm oder selbst
Sinowjew auf gleiche Ebene zu stellen. Er wollte vor allem bei der Partei nicht
den Eindruck erwecken, daß auch er an dem unwürdigen Treiben beteiligt sei, daß
die Jünger Lenins vor dem noch leeren Sarg Lenins veranstalteten. Trotzkis
Verhalten war so unbeholfen und lächerlich, wie das Verhalten jedes
dramatischen Helden sein muß, der plötzlich in eine ordinäre Posse
hineingezogen wird.«
Nick Brauns