Junge Welt 15.02.2003

Erste offene Revolte  

 »Weiße Rose« entdeckt.

Vor 60 Jahren wurden die Geschwister Scholl von der Gestapo verhaftet und hingerichtet  

 

Am 22. Februar 1943 notierte Sophie Scholl: »So ein herrlicher, sonniger Tag und ich soll gehen. Aber wie viele müssen heutzutage auf den Schlachtfeldern sterben, wieviel junges, hoffnungsvolles Leben. Was liegt an meinem Tod, wenn durch unser Handeln Tausende von Menschen aufgerüttet und geweckt werden.« Wenige Stunden nach ihrer Verurteilung durch den Volksgerichtshof wurde die 21jährige Philosophiestudentin zusammen mit ihrem Bruder Hans und ihrem Kommilitonen Christoph Probst wegen Hochverrats durch das Fallbeil hingerichtet. Als Mitglieder der studentischen Widerstandsgruppe »Weiße Rose« wurden Professor Kurt Huber und Alexander Schmorell am 13. Juli 1943 und Willi Graf am 12. Oktober hingerichtet.

Bis auf Professor Huber waren alle Mitglieder des inneren Kreises der »Weißen Rose« nicht älter als 25 Jahre. Sie waren zumeist in nationalkonservativen, christlich geprägten Elternhäusern aufgewachsen. Die Begegnung mit kritischen Intellektuellen wie Professor Huber, dem Schriftsteller Theodor Haecker und dem Herausgeber der katholischen Monatsschrift Hochland, Carl Muth, trug ebenso zu ihrer Bewußtseinsbildung bei wie ihr gemeinsames Interesse für Philosophie, Kunst und Literatur. Dazu kamen erste Erfahrungen von Fronteinsatz und Reichsarbeitsdienst. Auch die Traditionen der bündischen Jugendbewegung hatten einige Mitglieder der »Weißen Rose« geprägt. So war Hans Scholl 1937 vorübergehend verhaftet worden, da er versuchte, bündisches Gedankengut in die Hitlerjugend einzubringen. Seine Verhaftung brachte auch Sophie, die eine Führungsfunktion innerhalb ihrer BDM-Gruppe hatte, auf Distanz zum Nationalsozialismus.

Aus der bündischen Tradition des Wandervogels und der katholischen Jugend kam auch Willi Graf. 1934 schloß er sich, 16jährig, dem illegalen »Grauen Orden« an. Aus seinem Adreßbuch strich er konsequent alle Namen von Freunden, die im Gegensatz zu ihm der Hitlerjugend beigetreten waren. Alexander Schmorells Mutter war Russin. Schon von daher geriet er in Widerspruch mit der rassistischen Ideologie vom slawischen »Untermenschen«. Seinen Fronteinsatz in Rußland erlebte er als »Heimkehrer«.

Der 24jährige Christoph Probst war als einziger der Studenten verheiratet und Vater von drei Kindern. Kurt Huber, dessen Philosophievorlesungen die Mitglieder der »Weißen Rose« besuchten, fungierte als mäßigender Berater der Widerstandsgruppe. Erst nach der deutschen Niederlage von Stalingrad kann er sich dazu durchringen, daß »nicht der militärische Sieg über den Bolschewismus«, sondern die Niederlage des Faschismus »die erste Sorge für jeden Deutschen« sein müsse. Das letzte Flugblatt der »Weißen Rose« stammt aus seiner Feder.

Der erste Schritt zum Widerstand bestand 1941 im Abhören ausländischer Rundfunksender sowie gemeinsamen Lese- und Diskussionsabenden. Sophie Scholl bekannte, daß für sie »Bücher zu ersten Spuren des Widerstandes wurden. ... Stimulieren konnten Bücher, Erkenntnisse vermitteln, Lichter aufgehen lassen. Aber das Existentielle ergab sich erst aus der Verwirklichung von dem, was man selbst als richtig erkannt hatte«. Als Handlungsmaxime galt für Sophie Scholl eine Stelle aus dem Jakobusbrief: »Seid Täter des Wortes, nicht Hörer allein.«

Mit Flugblättern, die sie per Post an Multiplikatoren wie Studenten, Lehrer und Ärzte verschickten, sowie Wandparolen zogen die Mitglieder der »Weißen Rose« ab Sommer 1942 die Konsequenzen aus ihrer antifaschistischen Haltung. Dabei gelang es, ein Umfeld von bis zu 100 weiteren Schülern, Studenten, Lehrern, Professoren, Buchhändlern, Künstlern und Ärzten in München, Hamburg, Ulm, Freiburg, Stuttgart, Saarbrücken und Berlin aufzubauen, die bei der Verbreitung der Flugblätter halfen. Die sechs bis Februar 1943 verfaßten Flugblätter, die an Tausende Menschen verschickt wurden, enthielten Appelle an das Gute im Menschen zur moralisch-sittlichen Umkehr, Buße und Reinigung sowie zum passiven Widerstand und zur »Sabotage in rüstungs- und kriegswichtigen Betrieben, Sabotage in allen Versammlungen, Kundgebungen, Festlichkeiten, Organisationen ... zur Verhinderung des reibungslosen Ablaufs der Kriegsmaschinerie«.

Genau zwei Wochen nach der Kapitulation von Generalfeldmarschall Paulus in Stalingrad kam es in München zur ersten offenen Revolte von Studenten gegen die Nazidiktatur. Gauleiter Paul Giesler hatte die Studenten, die vielfach schon Fronteinsätze hinter sich hatten, als Schmarotzer am Volkskörper beschimpft und die Studentinnen aufgefordert, dem Führer ein Kind zu schenken statt zu studieren. »Und wenn einige Mädels nicht hübsch genug sind, einen Freund zu finden, dann werde ich gern jeder einen von meinen Adjutanten zuweisen.« Gewaltsam wurde der angetrunkene Gauleiter von Studenten aus dem Raum gedrängt und auf den Straßen ertönten Parolen gegen das »Dritte Reich«.

Erschüttert durch die Niederlage der Wehrmacht in Stalingrad und ermutigt durch diese ersten öffentlichen Unmutsäußerungen der Studentenschaft beschloß die »Weiße Rose«, ein neues Flugblatt zu verfassen, das sich direkt an die Kommilitonen wendete: »Der Tag der Abrechnung ist gekommen, der Abrechnung unserer deutschen Jugend mit der verabscheuungswürdigsten Tyrannis, die unser Volk je erduldet hat. Im Namen der ganzen deutschen Jugend fordern wir von dem Staat Adolf Hitlers die persönliche Freiheit, das kostbarste Gut der Deutschen zurück, um das er uns in der erbärmlichsten Weise betrogen hat. ... Es gibt für uns nur eine Parole: Kampf gegen die Partei! Heraus aus den Parteigliederungen, in denen man uns politisch weiter mundtot halten will! Heraus aus den Hörsälen der SS-, Unter- oder Oberführer und Parteikriecher! Es geht uns um wahre Wissenschaft und echte Geistesfreiheit!«

Am 18. Februar – dem Tag, an dem Goebbels im Berliner Sportpalast den »Totalen Krieg« verkündete – legten Hans und Sophie Scholl dieses Flugblatt vor Vorlesungsbeginn in der Münchner Universität aus. Als sie die letzten Exemplare von der Brüstung in den Lichthof warfen, wurden sie von Hausmeister Jakob Schmied beobachtet, der die Studenten so lange festhielt, bis die Gestapo sie verhaftete. Über Adressen, die bei ihnen gefunden wurden, konnte die Polizei auch die anderen Mitglieder der »Weißen Rose« verhaften.

Über Helmuth von Moltke war das letzte Flugblatt der Weißen Rose nach England gelangt. Die Flieger der Royal Airforce verbreiteten das »Manifest der Münchner Studenten« massenhaft über Deutschland: »Wir werden den Krieg sowieso gewinnen. Aber wir sehen nicht ein, warum die Vernünftigen und Anständigen in Deutschland nicht zu Worte kommen sollen. Deswegen werfen die Flieger der RAF zugleich mit ihren Bomben jetzt dieses Flugblatt, für das sechs junge Deutsche gestorben sind, und das die Gestapo natürlich sofort konfisziert hat, in Millionen Exemplaren über Deutschland ab.«

 

Nick Brauns