junge Welt vom 25.04.2005 Feuilleton
Nick Brauns »Wir befinden uns an einem gefährlichen
Wendepunkt der Geschichte«, hatte der französische Schriftsteller Romain
Rolland 1935 anläßlich des Internationalen Schriftstellerkongresses in Paris
erklärt. Mit den großen und kleinen Wendepunkten des Jahres 1935 beschäftigen
sich die 21 mehrheitlich marxistischen Autorinnen und Autoren des Bandes
»Europa vor dem Abgrund. Das Jahr 1935 – Eine nicht genutzte Chance«. Anlaß des
ungewöhnlichen Projekts war der 70. Geburtstag des 1935 geborenen Jenaer
Historikers und Faschismusforschers Manfred Weißbecker, dem der Band gewidmet
ist.
Die Geschichtsbücher verzeichnen im Jahr 1935 nur wenige herausragende
Ereignisse. So führte die Hitlerregierung die allgemeine Wehrpflicht als ersten
entscheidenden Schritt zur Kriegsvorbereitung ein und beschloß die Nürnberger
Rassegesetze. 90 Prozent der Saarländer stimmten in diesem Jahr für die
»Heimkehr ins Reich«.
Kriegsverhinderung
Außenpolitisch zeichneten sich dagegen Weichenstellungen ab, deren
verheerende Wirkungen und Folgen sich erst im weiteren Gang der Geschehnisse
einstellen, »nicht unähnlich dem Mißgriff in einem Stellwerk der Eisenbahnen,
auf den der katastrophale Zusammenstoß zweier Züge erst später und entfernt
folgt«, schreibt Kurt Pätzold und kommt zu dem ernüchternden Fazit: »In Europa
bahnte sich eine Entwicklung an, der die am Frieden auf dem Kontinent
interessierten Staaten nur noch nach dem Grundsatz Einhalt gebieten konnten
»Sic vis pacem, para bellum« (wenn du Frieden willst, bereite den Krieg vor).«
Da ein Wirtschaftsboykott Deutschlands aufgrund zu vieler kapitalistischer
Einzelinteressen unrealistisch gewesen wäre, sei eine militärisch gestützte
politische Abschreckung der Nachbarstaaten die einzige Möglichkeit zur
Kriegsverhinderung gewesen.
Aufsätze zum VII. Weltkongreß der Komintern, auf dem 1935 die Weichen zur
Volksfrontpolitik als Bündnis mit bürgerlichen Hitlergegnern gelegt wurden,
fehlen in dem Band. Doch die neue Politik wird auch in der von Günter Rosenfeld
beschriebenen gewandelten außenpolitischen Orientierung der Sowjetunion
deutlich, die im Februar und Mai Beistandspakte mit Frankreich und
Tschechoslowakei schloß. »Dabei unternahm die Sowjetunion Schritte, die unseren
bisherigen Vorstellungen über die Beziehungen eines sozialistischen Staates zu
imperialistischen Staaten nicht entsprachen«, erinnert sich der Faschismusforscher
Kurt Gossweiler als Zeitzeuge in seinem persönlich gehaltenen Beitrag über
seine Tätigkeit im Kommunistischen Jugendverband. »Der Geschichtsverlauf in
seinen Widersprüchen lehrte uns aber, das dialektische Denken aus der Theorie
in die Praxis umzusetzen.«
Gerhard Feldbauer beschäftigt sich mit dem Überfall des faschistischen
Italiens auf Abessinien im Oktober 1935 als erster großer Aggressionshandlung
im Vorfeld des Zweiten Weltkrieges. »Wenn konservative Historiker zum
italienischen Faschismus meinen, er sei im Vergleich mit dem deutschen weniger
grausam, weniger barbarisch und auch nicht so aggressiv gewesen, dann zeigen
bereits die Kolonialverbrechen, daß es vom Wesen her zwischen beiden Regimes
keine Unterschiede gab«, verweist Feldbauer auf den »Völkermord« in Äthiopien,
bei dem auch das Giftgas Yperit eingesetzt wurde. Lediglich die UdSSR forderte
wirksame Sanktionen gegen Italien, während die Westmächte gegenüber dem »Duce«
Appeasement betrieben. Hitler konnte sich daher in den folgenden Jahren beim
Einmarsch im entmilitarisierten Rheinland und in Österreich sicher sein, daß
Großbritannien und Frankreich nicht bereit waren, den Status quo zu
verteidigen. Auch der im Beitrag von Siegfried Bünger dargestellte
Flottenvertrag, den Großbritannien 1935 mit Deutschland schloß, konnte von der
Naziführung nur als Ermutigung ihrer Außenpolitik aufgefaßt werden.
Facetten des Widerstands
Ein zweiter Block mit Beiträgen beschäftigt sich mit Momentaufnahmen
innerhalb Deutschlands. In seiner Lokalstudie zum Verhältnis von Kirche und
Staat in der Stadt Apolda kommt Peter Franz zum Fazit: »Schon in den
ausgehenden zwanziger Jahren hatte sich in Kirchen, Schulen, Berufsverbänden
und einem verzweigten Vereinswesen ein Amalgam aus christlicher Überlieferung,
völkischem Fühlen und vaterländisch-militärischer Pflichtauffassung gebildet,
die sich mühelos mit dem Rassismus, Chauvinismus und Imperialismus der
Faschisten verbinden konnte.« Facetten des Widerstandes decken die Beiträge von
Gerd Kaiser über den kommunistischen Widerständler Hermann Dietz und von
Friedrich-Martin Balzer über den roten Pfarrer und Rote-Hilfe-Aktivisten Erwin
Eckert ab, während Werner Bramke aufzeigt, daß es Differenzen in der
kommunalpolitischen und wirtschaftspolitischen Ausrichtung des NS-Systems
waren, die den ehemaligen Dresdner Oberbürgermeister Goerdeler zum
konservativen Hitlergegner werden ließen.
Der dritte Abschnitt des Buches »Deutschland von außen: Geist und Tat«
beschäftigt sich unter anderem mit Hans Günthers marxistischer Kritik am
Faschismusbild Heinrich Manns, dem in der kommunistischen Literaturgeschichte
totgeschwiegenen Auftritt von Boris Pasternak als Teilnehmer der sowjetischen
Delegation auf dem Schriftstellerkongreß in Paris und den 50. Geburtstag des
»rasenden Reporters« Egon Erwin Kisch 1935. Mario Kessler untersucht die
Darstellung des Anfang 1919 in München ermordeten sozialistischen Politikers
Kurt Eisner in 1935 vom Vorwärtsredakteur Friedrich Stampfer, dem späteren
bayerischen Ministerpräsidenten Wilhelm Hoegner und dem marxistische Historiker
Arthur Rosenberg verfaßten Geschichtsbänden zur Weimarer Republik.
»Wenn dieser Band etwas Nachdenkenswertes präsentiert, dann ist es die
Wahrheit: Häufig läßt Clio den Menschen nur eine Chance. Bleibt die unerkannt
oder wird sie verschmäht, führt der Weg an keiner Reparaturstation mehr
vorbei«, mahnen die Herausgeber Kurt Pätzold und Erika Schwarz. Wie diese
Chance außer durch die verstärkte gegen Deutschland gerichtete Aufrüstung der
anderen imperialistischen Staaten genutzt werden konnte, bleibt unklar. Dabei
hatten der Aufstand der Wiener Arbeiter im Februar 1934 und die
antifaschistische Arbeitermobilisierung 1935 in Frankreich gezeigt, daß es auch
andere Alternativen gegeben hätte, als das illusorische Vertrauen in einen
»demokratischen Imperialismus«.
* Kurt Pätzold / Erika Schwarz (Hg.): Europa vor dem Abgrund – Das Jahr 1935
– Eine nicht genutzte Chance, PapyRossa Verlag, Köln 2005, 375 Seiten, 32 Euro.
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Ausdruck erstellt am 25.04.2005 um 09:46:29 Uhr
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