11.12.1999

 Linke Legendenbildung  - Klaus Kinners Monographie zur KPD-Geschichte.

Von Nick Brauns

      *** Klaus Kinner: Der deutsche Kommunismus - Selbstverständnis und
Realität. Band 1, Die Weimarer Zeit, Karl Dietz Verlag, Berlin 1999, 239
Seiten, DM 29,80

      Der »Mythen des deutschen Kommunismus« nimmt sich der Leipziger
Professor Klaus Kinner in seiner neuen Monographie zur KPD an. »Geschichte
des Kommunismus und Linkssozialismus« heißt die vielversprechende Reihe im
Berliner Karl Dietz Verlag, deren erster Band sich »Selbstverständnis und
Realität« des deutschen Kommunismus in der Weimarer Republik widmet. »Die
vorliegende Darstellung versteht sich als Versuch, Konturen eines Bildes des
deutschen Kommunismus zu umreißen, die geeignet sind, jenseits von Hosianna
und Verdammnis ein Maß zu finden für die Bewertung dieser epochalen
Erscheinung, die dieses Jahrhundert so maßgeblich mitgeprägt hat und in
deren Tradition - in Distanz und Nähe - die heutige entschiedene Linke auch
steht«, umreißt Kinner sein Vorhaben.

      Die Zentralkomitees der SED sahen sich in der direkten Traditionslinie
des »Thälmannschen ZK« der KPD. Die Interpretationen der Geschichte der KPD
unterlagen somit der Deutungshoheit der SED, die Elemente der KPD-Historie
für ihre eigene Legitimation benötigte. Selbstkritisch erkennt auch Klaus
Kinner an, daß er vor 1989 zu sehr in den Schranken der SED- offiziellen
Geschichtsdeutung geschrieben habe. Er polemisiert vor allem gegen
das »letzte Wort der DDR- Geschichtsschreibung«, den nicht mehr erschienenen
Band 2 der »Geschichte der SED« von 1990.

      Die Stärke von Kinners Untersuchungen liegen in seinem reichhaltigen
Gebrauch von Quellenmaterial aus der Stiftung der Parteien und
Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv Berlin. Die internen
Auseinandersetzungen zwischen »Rechten«, »Linken«, »Versöhnlern« etc.
während der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre werden durch ihre
Korrespondenzen plastisch beleuchtet. Die Schwäche des von der
Luxemburg-Stiftung geförderten Buches liegt dagegen in seinen politischen
Wertungen. Man wird den Eindruck nicht los, daß der Autor einfach den Herren
gewechselt hat - bzw. der Herr seinen Namen von SED in PDS geändert hat.

      So baut er einen in der Form nicht vorhandenen »Gegensatz zwischen dem
bolschewistisch- avantgardistischen Revolutions- und Parteikonzept und dem
linkssozialistisch-demokratischen Politikverständnis [Paul] Levis« im Jahr
1921 auf. Durch den Parteiausschluß von Paul Levi wäre die Chance auf
eine »einheitliche, demokratische, linkssozialistisch- kommunistische
Organisation« jedoch vertan worden. Die Kritik Levis richtete sich
allerdings gegen den Putschismus der KPD im Mitteldeutschen Aufstand 1921
und nicht gegen den demokratischen Zentralismus der Partei oder den Anschluß
an die Komintern. Vertan wurde 1921 eher die Chance, die KPD als
Legitimationsgrundlage für die heutige PDS zu schaffen ...

      Das »Gedankendogma« der Weltrevolution hätte den »nüchternen Blick auf
die Realität« verstellt, beklagt Kinner für das Jahr 1923. Er kann
allerdings keine Beweise für seine These anführen, daß im Sommer und Herbst
1923 »das Proletariat radikalisiert war durch die materielle Not, aber in
der deutschen Tradition mehrheitlich deren Behebung eher von der
Sozialdemokratie als von den Kommunisten erwartete«. Schließlich wird selbst
von einigen linksbürgerlichen Historikern anerkannt, daß im Sommer 1923 die
KPD tatsächlich eine Mehrheit der deutschen Arbeiterklasse hinter sich
hatte.

      Zu recht kritisch nimmt sich Kinner der »Thälmann- Legende« an.
Die »Geschichte der SED« von 1990 rühmt noch die »Bildung des von Ernst
Thälmann geleiteten stabilen revolutionären Führungskollektivs«
als »wichtigsten Einschnitt in der Entwicklung der Partei seit Gründung der
KPD«. Anhand zahlreicher Quellen weist Kinner nach, daß dieses ZK unter
Thälmann keineswegs »stabil« war, sondern weiterhin von inneren
Fraktionskämpfen zerrissen. Der charismatische Arbeiterkommunist Thälmann
stellte für die Moskauer Komintern-Zentrale nur ein geeignetes Werkzeug dar,
um weitgehend in die inneren Angelegenheiten der deutschen Partei
einzuwirken.

      »Die KPD war insgesamt seit dem Ende der zwanziger Jahre in ihrer
damaligen Verfaßtheit strukturell erneuerungsunfähig geworden. Veränderungen
waren nunmehr nur im Bruch mit dem vorherrschenden kommunistischen
Parteimodell möglich«, behauptet Kinner. Die Gegner der ultralinken
KPD-Politik der »Dritten Periode« sahen das allerdings anders. Die rechte
KPD-Opposition um Brandler und die Trotzkisten der »Linken Opposition«
orientierten ihre Politik bis zur Machtübernahme des Faschismus auf die KPD,
als deren externe Fraktionen sie sich verstanden. Ihre Kritik galt nicht der
Form der Parteiorganistion, sondern dem Inhalt der KPD-Politik. Und daß die
KPD - wenn auch spät - in der Lage war, ihre Fehler selbstkritisch
einzugestehen, beweist die Brüssler Konferenz von 1935.

      »Es gehört zu den gutgepflegten Legenden linker Folklore, zu
behaupten, die Aktionseinheit der Arbeiterbewegung hätte den Faschismus
verhindern können. Alle Daten sprechen dafür, daß dies schon rein numerisch
angesichts der rechtskonservativen und faschistischen Dominanz nicht möglich
war«, behauptet Kinner. Marxistische Dialektik ist eben mehr als bloße
Addition parlamentarischer Mehrheiten. Eine rechtzeitig formierte
Einheitsfront der Arbeiterparteien hätte auch große Teile des schwankenden
Kleinbürgertums mitziehen können. Die Stärke einer solchen Front wäre nicht
im Reichstag, sondern in den Betrieben und auf der Straße zu finden gewesen.
Aber vor einer solchen Denkweise scheute die damalige SPD-Führung ebenso wie
große Teile des heutigen PDS-Vorstandes.

11.04.2003 Feuilleton

Nick Brauns  

»Kominterniert«   Die KPD im »Schaltjahr 1928« -
Klaus Kinners vierter Band zur Geschichte des Kommunismus  

 

Als »schwarzen
Tag in der Geschichte der kommunistischen Weltbewegung« bezeichnet Klaus
Kinner den 29. Februar 1928. Damals schlossen die Delegationen der KPD und
der KPdSU(B) am Rande des IX. Plenums der Komintern-Exekutive ein
Geheimabkommen, das einen neuen Linkskurs der KPD einleitete. Diese Politik
mit ihrer scharfen Stoßrichtung gegen die »sozialfaschistisch« verstandene
Sozialdemokratie und die Hoffnung auf einen baldigen revolutionären
Aufschwung trug letztlich entscheidend zur Niederlage der deutschen
Arbeiterbewegung vor dem Faschismus bei.

Als IV. Band der beim Berliner Karl Dietz-Verlag erscheinenden
Reihe »Geschichte des Kommunismus und Linkssozialismus« hat Kinner gemeinsam
mit den ehemaligen DDR-Historikern Elke Reuter, Wladislaw Hedeler und Horst
Helas den Dokumentenband »Luxemburg oder Stalin. Schaltjahr 1928 - Die KPD
am Scheideweg« vorgelegt. Damit wird die in der zweiten Hälfte der 1990er
Jahre von der Kommunismusforschung begonnene Debatte um die Ursachen der
Wandlung der KPD von einer eigenständigen revolutionären zu einer von Moskau
fremdbestimmten Apparatpartei wiederbelebt.

Lagen die Ursachen dieses je nach Standort des Historikers
als »Bolschewisierung« oder »Stalinisierung« bezeichneten Prozesses in
KPD-internen oder äußeren Faktoren begründet? Führten die Interventionen
widerstreitender Fraktionen der Kominternführung, die auf Strömungskämpfe in
der Sowjetunion zurückgingen, zu den scharfen Kursschwankungen der deutschen
kommunistischen Partei, oder lagen die Ursachen hierfür in den sozialen,
politischen und wirtschaftlichen Konflikten in Deutschland sowie den
Mitgliederinteressen und -einstellungen innerhalb der KPD?

Es ist das Verdienst von Kinner und Kollegen, aus der Vielzahl im Archiv der
Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv
Berlin-Lichterfelde eingelagerten KPD-Archivalien eine repräsentative Auswah
l vorgelegt zu haben. Diese Dokumente werfen ein Schlaglicht auf die
innerparteilichen Auseinandersetzungen und decken so manche Fälschung der
SED-offiziellen Geschichtsschreibung auf. Wie ein Krimi liest sich so die
Geschichte der Richtungskämpfe innerhalb der KPD.

»Die KPD der Jahre 1927 bis 1929 - zehn Jahre nach dem Oktoberumsturz der
Russischen Revolution - stand vor einer Entscheidungssituation, die die Wahl
zwischen zwei alternativen Entwicklungswegen dringlich einforderte: dem Weg
genuiner proletarischer Emanzipation eines demokratischen Sozialismus in der
Folge Rosa Luxemburgs oder dem Weg der Verabsolutierung der durch Stalin auf
den Umsturz verkürzten Russischen Revolution.« So die Grundthese der
Herausgeber.

Seit dem Scheitern des »deutschen Oktobers« 1923 stand die KPD vor der
Frage, wie revolutionäre Politik in nichtrevolutionären Zeiten auszusehen
habe. Damit verbunden war die Frage nach dem Verhältnis zur
Sozialdemokratie. Realistisch erscheint heute der Ansatz der
Partei»rechten« um August Brandler, ein Aktionsprogramm mit
Übergangsforderungen auszuarbeiten, das Tagesinteressen der Arbeiterklasse
aufgreift, aber in seiner Konsequenz die Klassenkämpfe weitertreibt und so
die Notwendigkeit eines revolutionären Sturzes des Kapitalismus
verdeutlicht. Die Parteilinke um Ernst Thälmann lehnte ein solches
Übergangsprogramm als Einknicken vor dem Reformismus ab und setzte auf
Verbalradikalismus und eine scharfe Diffamierung der SPD zur Betonung des
eigenen kommunistischen Profils.

Deutlich wird, wie der Linkskurs in der Kaderpolitik der KPD mit
bürokratischen Mitteln verankert wird. Dokumentiert werden Korrespondenzen
der nach der von ihnen mitverschuldeten Oktoberniederlage 1923 in
Moskau »kominternierten« ehemaligen Parteiführer August Thalheimer und
Heinrich Brandler, denen die Rückkehr nach Deutschland verweigert wurde, um
sie aus den Linienkämpfen herauszuhalten. Aus Briefen Clara Zetkins an
Thälmann und Pjatnitzki wird ihre Kritik an Thälmanns Cliquenwirtschaft und
ihre Sympathien für die Parteirechte deutlich.

Ebenfalls dokumentiert wird die Wittorf-Affäre um den der
Parteigelderhinterziehung überführten Thälmann-Schwager. Gegen den Willen
breiter Teile der Hamburger KPD-Basis und des ZK der KPD setzte damals ein
Machtwort Stalins durch, daß Thälmann, der seinen Schwager gedeckt hatte,
Parteivorsitzender blieb. Die Wittorf-Affäre erscheint heute als jene letzte
Kraftprobe, in der die Parteiführung »von Moskaus Gnaden« die »Rechten« bei
ihrem Versuch, die Parteibasis gegen die Führung zu mobilisieren,
ausschalten konnte.

Kinners Interpretationsansatz, der für die »ultralinke« Politik der KPD
innerparteiliche Linienkämpfe allein verantwortlich macht, ist jedoch allzu
monokausal. Warum ließ sich die KPD so einfach auf Moskauer Kurs bringen?
Warum konnten die realistischeren Kräfte der rechten Opposition aus der
Partei gedrängt werden und die »versöhnlerische Mittelgruppe« um Ernst Meyer
neutralisiert werden? Warum stieß die These vom »Sozialfaschismus« der SPD
auf die Zustimmung breiter Teile der KPD-Parteimitgliedschaft? Diese für das
Verständnis des deutschen Kommunismus wichtigen Fragen werden weder durch
die vorgelegten Dokumente aus dem Parteiapparat noch durch die Kommentierung
der Herausgeber beantwortet.

So muß die Entwicklung des deutschen Kommunismus im Wechselverhältnis der
politischen und ökonomischen Krise in Deutschland einerseits und einer durch
eben diese Umstände radikalisierten Anhängerschaft der KPD andererseits
verstanden werden, die wiederum für die Eingriffe der Komintern-Führung
einen günstigen Boden schufen. Bei einer immer rascheren Fluktuation der
Parteimitgliedschaft mußte der aus Moskau finanzierte und abhängige
Hauptamtlichenapparat zwangsläufig immer mehr Macht erhalten. Der vor dem
Hintergrund der Weltwirtschaftskrise sich wandelnde Charakter der KPD von
einer Arbeiter- zu einer Arbeitslosenpartei brachte die Partei um reelle
Machtpositionen in Betrieben und Gewerkschaften und förderte zugleich die
Akzeptanz verbalradikaler Politikkonzepte und blutiger Straßenkämpfe.

Die Reaktion der KPD auf Ereignisse wie den »Berliner Blutmai« von 1929 oder
die Einrichtung von Schnellgerichten unter der Notverordnungsdiktatur 1932
verdeutlichen, daß es die praktische Erfahrung mit der Rolle der
Sozialdemokratie im Staat sowie mit dem rapiden Abbau demokratischer Rechte
war, die zu einer Radikalisierung kommunistischer Politik führten.

Das Buch verfügt über einen ausführlichen Anhang mit kommentierten
Personenregister und einem Überblick über die Führungsstrukturen der KPD
zwischen dem 11. und 12. Parteitag. Eine beigelegte CD-Rom enthält die
vollständigen Texte der 123 im Buch auszugsweise vorgestellten und
kommentierten Dokumente.

* Klaus Kinner u.a.: Luxemburg oder Stalin. Schaltjahr 1928 - Die KPD am
Scheideweg. Eine kommentierte Dokumentation, Karl Dietz Verlag, 2003,
Berlin, 296 Seiten & CD-Rom, 19,90 Euro

 

 

28.04.2003 Feuilleton

Eberhard Czichon / Heinz Marohn  

Barrikadenwechsel - Thälmann, Wittorf, Kinner, Brauns und kein Ende  

 

Die historische Rechtfertigung von Positionen der Gegner Thälmanns

in der KPD ist nicht besonders neu. Der

Antikommunismus-Historiker Hermann Weber betreibt dieses Geschäft seit
Jahrzehnten. Klaus Kinner, ein in der DDR avancierter Professor, hat sich
ihm Anfang der 1990er Jahre angeschlossen. Dies als neue »Debatte der
Kommunismusforschung« zu präsentieren (Nick Brauns, junge Welt vom 11. April
2003), zielt auf das Vergessen von Diskussionen um die KPD-Geschichte in den
Jahren des Kalten Krieges, nur hat Kinner damals auf der anderen Seite der
Barrikade gestanden. Auf seinen Antikommunismus zu reagieren ist nur
deswegen angemessen, weil er in junge Welt angepriesen wird.

Zu Kinners vier Bänden zur »Geschichte des Kommunismus und
Linkssozialismus« ist anzumerken, daß er im ersten Band Enthüllungen zur
KPD-Geschichte präsentiert und mit Zitaten jongliert, um
angebliche »SED-offizielle Fälschungen« zu attackieren, wobei nahezu die
Hälfte seiner Quellenangaben (wegen falscher Benennung) im Bundesarchiv in
Berlin-Lichterfelde schwer nachprüfbar sind. Sie stimmen auch in seinem
Beitrag im Sammelband über Rosa Luxemburg teilweise nicht. Aber sehen wir
von solchen Kleinigkeiten, die eigentlich das Kriterium für Verläßlichkeit
historischer Forschung ausmachen, einmal ab. Seine Unredlichkeit liegt vor
allem darin begründet, daß er »keine repräsentative Auswahl« vorlegt,
sondern wichtige Dokumente ausläßt und damit den Zusammenhang verzerrt, und
daß er die von ihm weidlich benutzte Druckvorlage des zweiten Bandes der
Geschichte der SED, deren Erscheinen 1990 unterbunden wurde, vorsätzlich
nicht zugänglich macht.

In dem in der jW besprochenen vierten Band wird der Unfug, Thälmann sei
durch ein Machtwort Stalins eingesetzt worden, von Kinner wiederholt. Ebenso
falsch ist es, daß Thälmann »seinen Schwager« Wittorf decken wollte.
Insgesamt versucht Kinner, mit den in diesem Band veröffentlichten
Dokumenten (in einer subjektiven Auswahl) zu vertuschen, daß jene, die in
der politischen Debatte um die strategische Orientierung der Partei
unterlagen, die Wittorf-Affäre zu einer hinterhältigen Intrige benutzen
wollten, um den politischen Bankrotteur Brandler wieder an die Parteispitze
zu bringen.

Kinner geht aber noch weiter. In einem Aufsatz im Rundbrief (1+2/03 der AG
Rechtsextremismus/Antifaschismus beim Parteivorstand der PDS) behauptet er,
daß die KPD 1932 »auf ihrem falschen Kurs beharrt und so nicht das ihr
Mögliche getan (habe, um) Hitler den Weg an die Macht zu versperren«. Auch
hier macht Kinner deutlich, daß es ihm nicht um historische Zusammenhänge
geht, sondern um ein politisches Konzept. Er hätte im Bundesarchiv das
Stenogramm des Gesprächs Thälmanns und Piecks mit sozialdemokratischen
Arbeitern im Juli 1932 nachlesen können oder den Generalstreikaufruf der KPD
vom 30. Januar 1933, den die SPD mit den Worten ablehnte: »Generalstreik
gegen Hitler, heiße die Munition zwecklos in die leere Luft verschießen«
(Vorwärts vom 30.1.1933). Auch wäre im Referat Franz Künstlers nachzulesen,
daß »die Arbeiterschaft Berlins die Grippe mehr als Hitler fürchtet«.
Künstler sagt: »Es ist gut so, daß Hitler herangekommen ist und die Fronten
geklärt sind. Er mag uns allerhand anhängen, wir sind mit Bismarck fertig
geworden und wir werden mit ihm fertig werden...« Und ein letztes Beispiel:
Peter Grassmann sagte auf dem Führer-Appell der Eisernen Front am 12.Februar
1933: »Wir werden abwarten, wir sagen mit Busch: denn erstens kommt es
anders, zweitens als man denkt... Die Sozialdemokratie war es, die im
November 1918 Deutschland gerettet hat... Die Kommunisten wollen die
Einheitsfront nur als ein Wahlmanöver«.

Welches Ziel Kinner verfolgt, wird auch durch seine Behauptung deutlich, daß
es der KPD nicht gelungen sei, nennenswerten Widerstand gegen die
Hitler-Regierung zu mobilisieren. Wenn er schreibt, es »focht deren Führung
und die Komintern zunächst nicht an«, ist das politische Verleumdung. Kinner
hätte das Protokoll der Sitzung des Sekretariats des ZK der KPD vom 30.
Januar 1933 über die nächsten politischen Maßnahmen nachlesen können und die
Reden Thälmanns im Sekretariat am 10. Februar 1933 sowie im Politbüro am 15.
Februar 1933. Aber soviel Objektivität ist von einem Gewendeten wohl nicht
zu erwarten.

Die Diffamierung der KPD und ihres Vorsitzenden, die entschieden gegen
Lohnraub und Sozialabbau kämpften, und die Aufgabe sozialer
Interessenvertretung (wie beispielsweise durch die Berliner PDS) sind zwei
Seiten einer Medaille. Das macht Kinner deutlich. Dazu wird von ihm
Antikommunismus aufgearbeitet.

 

03.05.2003
 Feuilleton

Nick Brauns  

Geschichten um Teddy   Materialistische
Geschichtsforschung statt linker Legendenbildung: Erste Antwort an Heinz
Marohn und Eberhard Czichon  

 

Unter der Überschrift »Barrikadenwechsel -
Thälmann, Wittorf, Kinner, Brauns und kein Ende« unterstellten mir Eberhard
Czichon und Heinz Marohn am Montag in dieser Zeitung, ich hätte mit einer
Besprechung des vierten der von Klaus Kinner herausgegebenen Bände zur
Geschichte des Kommunismus und Linkssozialismus (jW vom 11.April) »auf das
Vergessen von Diskussionen um die KPD-Geschichte in den Jahren des Kalten
Krieges« hingewirkt und damit gar Antikommunismus gefördert. Diese Vorwürfe
weise ich strikt zurück. Bereits am 11.Dezember 1999 bezichtigte ich
anläßlich einer Besprechung des ersten Bandes dieser Reihe Kinner des
Renegatentums. Wörtlich schrieb ich damals in der jW: »Die Stärke von
Kinners Untersuchungen liegen in seinem reichhaltigen Gebrauch von
Quellenmaterial aus der Stiftung der Parteien und Massenorganisationen der
DDR im Bundesarchiv Berlin. ... Die Schwäche des von der Luxemburg-Stiftung
geförderten Buches liegt dagegen in seinen politischen Wertungen. Man wird
den Eindruck nicht los, daß der Autor einfach den Herren gewechselt hat -
bzw. der Herr seinen Namen von SED in PDS geändert hat.«

Eine solche Einschätzung darf marxistisch orientierte Historiker, zu denen
ich mich zähle, keinesfalls hindern, kritisch die Erkenntnisse der
bürgerlichen Geschichtsforschung zu rezipieren. Noch mehr gilt dies für
Dokumentationen aus Archiven, die zum Teil erst seit 1990 vollständig der
Wissenschaft zugänglich sind. Offensichtlich ist es Marohn und Czichon
entgangen, daß seit Mitte der 1990er Jahre eine wichtige Debatte unter
bürgerlichen Historikern über die Entwicklung der KPD geführt wird.
Stellvertretend seien Eric Weitz (»Creating German Communism 1890-1990«,
Princeton/ New Jersey 1997) und Klaus-Michael Mallmann (»Kommunisten in der
Weimarer Republik - Sozialgeschichte einer revolutionären Bewegung«,
Darmstadt 1995) genannt. Diese Studien, deren Wertung ein Marxist nicht
teilen muß, leiten die Politik der KPD vor allem aus der Sozialstruktur der
kommunistischen Bewegung und des linksproletarischen Milieus ab. Und zu den
Erfordernissen einer materialistischen Geschichtsschreibung gehört eben in
erster Linie, den in ihrer Mitgliedschaft und Anhängerschaft manifestierten
Klassencharakter einer Partei zu analysieren. Zudem sollte es für einen
Historiker selbstverständlich sein, nicht nur auf öffentliche Resolutionen
und Propagandamaterialien einer Partei zurückzugreifen, sondern auch auf
interne Dokumente, die Widersprüche und Probleme in der Regel wesentlich
deutlicher widerspiegeln.

Dies zumindest hat Kinner getan. Unter DDR-Marxisten war - und ist - es
leider üblich, die öffentlichen Verlautbarungen der revolutionären
Massenorganisationen der Weimarer Republik für bare Münze zu nehmen. Solange
es marxistische Historiker vorziehen, Glaubenssätzen statt Fakten
anzuhängen, wird der laufenden Debatte in der bürgerlichen
Geschichtsforschung nichts entgegengesetzt werden können. Czichon und Mahron
nennen es schlicht »Unsinn«, daß Thälmann sich durch Stalins Machtwort
halten konnte und bestreiten, daß er in der Wittorf-Affäre seinen der
Gelderhinterziehung beschuldigten Schwager gedeckt habe. Es habe sich
lediglich um eine »hinterhältige Intrige« gehandelt, um den »politischen
Bankrotteurs Brandler wieder an die Parteispitze zu bringen«. Welche Fakten
können Marohn und Czichon gegen die nicht nur von Kinner aufgezeigten
Dokumente setzen? Die Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen
der DDR mit den Unterlagen der KPD steht jedem Interessierten offen. Wo sind
die gegenteiligen Dokumente? Es gibt sie nicht. Es gibt nur die seit 50
Jahren wiedergekäute Thälmann-Legende. Brandler trägt sicherlich eine
Mitverantwortung am Scheitern der deutschen Revolution von 1923. Doch um
wieviel mehr wäre Thälmann ein politischer Bankrotteur zu nennen, der mit
seiner Linie des scharfen Kampfes gegen den »Sozialfaschismus« der SPD die
Mitverantwortung für die Kapitulation der deutschen Arbeiterbewegung vor
Hitler trägt? Da hilft auch ein eiliger Generalstreikaufruf vom 30. Januar
1933 nichts. Noch wenige Tage zuvor (und noch lange danach!) hatte man den
umworbenen Einheitsfrontpartner SPD schließlich in die faschistische Ecke
stecken wollen.

Wieviel realistischer lesen sich dagegen heute die Einschätzungen in der
Presse der »rechten« KPD-Opposition. Nur mit einer rechtzeitigen
Orientierung auf die antifaschistische Einheitsfront der Arbeiterparteien -
wie von Brandler und Thalheimer oder auch den deutschen Trotzkisten schon
Ende der 20er Jahre gefordert - hätten die Nazis gestoppt werden können.

Es gilt, den standhaften Antifaschisten Thälmann, der auch im faschistischen
Kerker bis zu seiner Ermordung der kommunistischen Überzeugung treu blieb,
gegen antikommunistische Diffamierung zu verteidigen. Dazu ist aber die
schonungslose wissenschaftliche Aufarbeitung der Verdienste und Fehler des
KPD-Vorsitzenden notwendig. Wenn die Linke weiterhin Legenden der
Vergangenheit anhängt, wird sie niemals die Aufgaben der Zukunft meistern
können.

* Siehe auch den Beitrag »Zweite Antwort« von Klaus Kinner

 

 

03.05.2003 Feuilleton

Jenseits des »Thälmannschen Führungskerns«  Zweite
Antwort. Von Klaus Kinner


Eberhard Czichon und Heinz Marohn, die mit einem ähnlichen Text schon in der
UZ und im Mitteilungsblatt der Kommunistischen Plattform der PDS vorstellig
wurden, meinten, die Rezension unseres Buches von Nick Brauns bewerten zu
müssen. Daran möchte ich mich nicht beteiligen, zumal die Kritiker sich
völlig unangemessen auf mich eingeschossen haben und die Leistung meiner
Mitherausgeber ignorieren. Als Autor oder Herausgeber halte ich nichts
davon, direkt auf Rezensionen zu reagieren. Hier gilt: die Leserin/der Leser
möge entscheiden.

Anders im vorliegenden Fall: Die Kritiker nutzten eine jW-Rezension, um
denunziatorisch gegen das Projekt »Geschichte des Kommunismus und
Linkssozialismus« und seinen Herausgeber vorzugehen, dessen vierter Band
soeben vorgelegt wurde. Hier soll keine Auseinandersetzung mit den
Argumenten der Kritiker erfolgen. Lediglich der persönlich diffamierenden
Tendenz der Kritik soll widersprochen werden.

Eine für die Kritiker in ihrer Autorität sicher auch heute noch
unanfechtbare Autorität, das Institut für ewige Wahrheiten - Institut für
Marxismus-Leninismus beim ZK der SED - zensierte und verhinderte einen Text
des Verfassers aus dem Jahr 1986 für eine Geschichte der
KPD-Bezirksparteiorganisation Leipzig-Westsachsen. Es heißt dort im Kontext
der Darstellung der innerparteilichen Entwicklung der KPD Ende der zwanziger
Jahre, also genau des Gegenstandes, den die Herausgeber des in Rede
stehenden Bandes 2003 behandeln, in einer für den Kenner der damaligen
Verhältnisse extrem scharfen Form: »Diese Thälmannsche Parteiführung
erscheint in dieser grob verzerrenden Darstellung als das politisch
schwächste , um nicht zu sagen negativste Element in der KPD... Dieser
negative Eindruck vom Wirken des Thälmannschen Führungskerns wird verstärkt
durch die beschönigende, halb entschuldigende Behandlung der
Rechtsopportunisten und das völlig unkritische Herangehen an die
versöhnlerische Gruppierung.«

Der Verfasser legt also Wert darauf festzustellen, daß er schon 1986 für
eine Geschichtsbetrachtung à la Czichon/Marohn verloren war. Er sah in der
Tat schon damals das Erbe des deutschen Kommunismus jenseits
des »Thälmannschen Führungskerns«.

 

 

10.05.2003 Feuilleton

Manfred Behrend  

Wer sind die Bankrotteure?   Geschichte der KPD - gekürzter Lehrgang  

 

Mindestens Eberhard Czichon hat sich mit der
Wittorf-Affäre frühzeitig befaßt. Er erzählte mir 1956 oder 1957, wie das ZK
der KPD erst geschlossen für Thälmanns Suspendierung als Parteichef stimmte,
auf einen Verweis aus Moskau hin aber 25 Komiteemitglieder plötzlich
behaupteten, überrumpelt worden zu sein, und ihr Ja zu dem Beschluß
zurücknahmen. Eberhard amüsierte sich über die Ritter ohne Rückgrat. Ihm
hatten es die »Versöhnler« angetan, die den ursprünglichen Beschluß
durchsetzten, während ich mit den sogenannten Rechten sympathisierte.

Kritiker des ZK-Beschlusses vom 26. September 1928 haben insofern recht, als
das Vertuschen illegaler Selbstbedienung aus der Parteikasse durch den
Politischen Sekretär des Bezirks Wasserkante, John Wittorf, der kein
Schwager des KPD-Vorsitzenden, wohl aber einer seiner Protegés war, für sich
genommen unzureichend gewesen ist, um Ernst Thälmanns Ablösung zu begründen,
auch wenn er, wie geschehen, selbst die Suspendierung beantragte. Doch ist
zu bedenken, daß Korruption, besonders in der Arbeiterbewegung, damals
wesentlich ernster genommen wurde als heute.

Wichtig sind die 1928er Strategieentscheidungen im internationalen und
deutschen Parteikommunismus. Hierzu zählt das Geheimabkommen zwischen der
sowjetischen und der deutschen Delegation beim Exekutivkomitee der
Kommunistischen Internationale (KI) im Februar, künftig die »rechte
Gefahr« als Hauptgefahr anzusehen und gleichzeitig dafür zu sorgen, daß
Duldsamkeit ihr gegenüber, ergo »Versöhnlertum«, ebenfalls ausgeschlossen
wird. Im August/September wurde die neue Linie vom VI. Kongreß der KI als
für die Weltbewegung verbindlich erklärt und mit der Legende von
einer »dritten Periode« verbunden. Ihr zufolge stand die proletarische
Revolution unmittelbar bevor, war zugleich der »Sozialfaschismus« - die
Sozialdemokratie und vor allem ihr linker Flügel - das wichtigste Hindernis
auf dem Weg dorthin, das unbedingt beseitigt werden mußte. Hinter den
Kulissen wurde - auch durch Thälmanns Leute - beim Kongreß gegen Stalins
nächstes KPdSU-Opfer, den »Rechten« Nikolai Bucharin, intrigiert. In
Deutschland begann bald ein Bruderkrieg zwischen Arbeitern verschiedener
Richtungen, deren Einheit im antifaschistischen Kampf dringend vonnöten
gewesen wäre.

Am 6. Oktober 1928 faßte das Präsidium des Exekutivkomitees der
Kommunistischen Internationale (EKKI) den Beschluß, daß Thälmann wieder
Parteivorsitzender sein müsse, alles auf die ultralinke Linie des VI.
Weltkongreßes auszurichten sei, die »Rechten« ausgestoßen und
die »Versöhnler« diszipliniert werden müßten. Der durch Czichon/Marohn Klaus
Kinner angelastete »Unfug, Thälmann sei durch ein Machtwort Stalins
eingesetzt worden«, war keiner. Zwar bereitete die KI-Spitze die
Pro-Teddy-Entscheidung vor, doch stimmte sie ihr erst zu, nachdem der
KPdSU-Generalsekretär telegraphisch zugestimmt hatte. Die These beider
Autoren, Heinrich Brandler sei ein »politischer Bankrotteur« gewesen, stammt
aus dem Streit darum, ob er 1923 eine »deutsche Oktoberrevolution«
verhindert habe. Tatsächlich hatte Brandler damals im Einvernehmen mit der
ganzen Parteispitze auf der Betriebsrätekonferenz in Chemnitz eruiert, ob
die organisierte Arbeiterschaft mehrheitlich zum Kampf gegen die Regierung
bereit sei. Das Ergebnis war negativ. Brandler stoppte deshalb die
kommunistischen Aufstandsvorbereitungen. Er beugte so einer Isolierung der
KPD und einem Blutbad unter ihren Kadern vor.

Daß die KPD- und die Kominternführung 1933 dem Faschismus gegenüber
versagten, gleichzeitig aber Parolen über ihren eigenen, bald bevorstehenden
Sieg artikulierten, ist keine Erfindung Kinners, sondern bittere Wahrheit.
Die KPD hat Hitlers Diktatur nicht abzuwenden oder ihr nachhaltig Widerstand
zu leisten vermocht. Sie hat das - zunächst verschämt - 1935 und 1945
zugegeben. Die enormen Opfer auf kommunistischer Seite, die auch einer,
anfangs »von oben« verordneten, hirnrissigen Offensivtaktik zu danken waren,
sind eine traurige Tatsache, kein Beweis für Nichtversagen der
stalinistischen Parteispitze und -bürokratie. Mit Zitaten belegen
Czichon/Marohn, daß die Sozialdemokratie wegen ihres sturen Antikommunismus
genauso versagte. Das ist richtig, hier aber nicht relevant.

* Beiträge zu diesem Thema erschienen am 11. und 28. April sowie am 3. Mai
2003

 

 

27.09.2003 Wochenendbeilage

Eberhard Czichon / Heinz Marohn  

Die Wittorf-Affäre 1928 - Über die strategischen Debatten in der KPD und die Auseinandersetzung um Ernst Thälmann   *

 

Am 27. September 1928 veröffentlichte die Rote Fahne, das
KPD-Zentralorgan, nach heftiger Diskussion im ZK der Partei, einen Text, in
dem die Unterschlagung von 1500 Reichsmark durch den Funktionär John Wittorf
und Ernst Thälmanns Reaktion darauf im Reichstagswahlkampf thematisiert
wurde.

Mit dem folgenden Beitrag setzen die Autoren eine Diskussion fort, die im
Frühjahr diesen Jahres in jW (u. a. 28. April, 3. Mai, 10. Mai und 15. Mai)
stattfand. Er wurde nach einem Vortrag in der Gedenkstätte Ernst Thälmann in
Hamburg verfaßt. Alle Quellenangaben zu den ausgewerteten Dokumenten können
von den Autoren abgefordert werden.


Historischer Hintergrund

Die Affäre entfaltete sich im September 1928 auf Grund von
Meinungsverschiedenheiten in der Führung der KPD und der Kommunistischen
Internationale (KI) zur Stabilität des Kapitalismus und zur Einschätzung der
Klassenkräfte am Vorabend der Weltwirtschaftskrise. Diese Diskussion und
ihre Ergebnisse hatten weitgehende Auswirkungen auf taktische Fragen des
Klassenkampfes, sowohl auf die Anwendung der Einheitsfrontpolitik zur
Eroberung der Mehrheit der Arbeiterklasse als auch in der
Gewerkschaftsfrage. Hier ging es vor allem darum, ob man sich bei
Streikkämpfen den reformistischen Gewerkschaftsführern unterordnen soll,
wenn sie dazu übergingen, Streikkämpfe abzuwürgen und Kommunisten aus den
Gewerkschaften auszuschließen. Das hieß, wieweit die Meinung Lenins noch
zutraf, unbedingt und vorbehaltlos in den Gewerkschaften zu verbleiben.

Die Mehrheit des deutschen ZK folgte 1928 den Thesen der IX.
(Februar)-Tagung des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale
(EKKI) und des IV. Kongresses der Roten Gewerkschaftsinternationale (RGI)
von März/April 1928, die eine neue Einschätzung der Stabilität des
Kapitalismus vornahmen und, damit verbunden, eine neue Taktik zur
Einheitsfrontpolitik sowie in der Gewerkschaftsfrage vorschlugen. Die neue
Orientierung ging davon aus, daß sich der Kapitalismus einer Krise nähere
und es damit zu einer Radikalisierung und Revolutionierung der Massen komme,
in deren Folge der des Einfluß der SPD und der reformistischen
Gewerkschaftsführer auf die Arbeitermassen schwinden werde. Das ZK der KPD
folgte auf seinen März- und Juni-Tagungen 1928 diesen Thesen und
schlußfolgerte, daß diese Entwicklung günstig sei, um die Politik der
sozialdemokratischen Partei- und Gewerkschaftsführer entschlossen zu
entlarven und die Abwendung sozialdemokratischer Arbeiter von diesen Führern
zu beschleunigen. Daher wäre es auch falsch, mit ihnen zu paktieren. Die
Einheitsfrontpolitik sollte sich künftig auf die Einheitsfront von unten mit
den sozialdemokratischen Arbeitern orientieren.

Wilhelm Pieck hat 1935 auf dem 13. Parteitag der KPD darauf hingewiesen, daß
dieser Strategie, die auf dem VI. Weltkongreß (17. Juli - 1. September 1928
in Moskau) beschlossen wurde, verschiedene Fehleinschätzungen zugrunde
lagen, die in der Politik der KPD zu sektiererischen Erscheinungen führten.

Die »Neuorientierung« von 1928 war Gegenstand der Meinungsverschiedenheiten
innerhalb der KPD. Die Kritiker kamen aus zwei Strömungen: Einmal aus dem
Lager der Anhänger Heinrich Brandlers und August Thalheimers, die sich auf
Beschluß des EKKI und des ZK der KPD noch in der UdSSR befanden und denen es
untersagt war, sich in der KPD politisch zu betätigen. Sie wurden von Erich
Hausen und Heinrich Galm repräsentiert. Die andere Gruppierung sammelte sich
um Arthur Ewert. Zu ihr gehörten Gerhart Eisler, Hugo Eberlein und andere.

Die Kritik beider Richtungen war jedoch im politischen Reifegrad und in
ihrer Zielrichtung unterschiedlich. Die Brandleristen nahmen weitgehend
sozialdemokratische Positionen ein und wollten den KPD-Vorsitzenden Ernst
Thälmann aus der Parteiführung verdrängen, während die Ewert-Gruppe ihre
Kritik vor allem auf »linke Überspitzungen« konzentrierte, die Orientierung
aber grundsätzlich unterstützte. Sie lehnte es ab, eigene kommunistische
Gewerkschaften aufzubauen.

In dieser Zeit der Diskussion, die in der KPD über den VI. Weltkongreß der
KI hinaus andauerte, kam es zur »Wittorf-Affäre«. Sie stellte sich sehr
rasch als eine Aktion dar, die sich gegen die Träger der Politik
der »Neuorientierung« richtete.


Der Skandal

John Wittorf war Politischer Sekretär des Bezirks Wasserkante, ZK-Mitglied
und KPD- Kandidat zu den Reichstagswahlen. Er hatte 1500 Reichsmark
unterschlagen, die von Angestellten der sowjetischen Handelsvertretung in
Hamburg für den Reichstagswahlkampf gesammelt worden waren. Als Thälmann von
der Unterschlagung informiert wurde, befand sich die Partei im Wahlkampf.
Der Parteivorsitzende befürchtete durch eine Veröffentlichung der Affäre
negative Folgen für die Partei und verlangte zunächst, daß Wittorf einen
Schuldschein unterschrieb und die Schulden bezahlte. Solche »internen
Regelungen« stellten ein Verfahren in der KPD dar, das nicht unüblich war,
wenn Unterschlagungen aufgedeckt wurden. Es lag daher kein triftiger Grund
vor, die Unterschlagung Wittorfs Thälmann anzulasten, es sei denn, daß sie
für eine politische Intrige genutzt werden sollte. So entwickelten sich die
Hamburger Ereignisse zur »Wittorf-Affäre«, den Antikommunisten
als »Thälmann-Skandal« hochspielten. Thälmanns Gegner konzentrierten sich
darauf, ihm vorzuhalten, daß er weder das Politbüro noch das ZK über
Wittorfs Unterschlagung informiert habe. Thälmann nannte als Grund, daß er
die Partei im Wahlkampf nicht habe belasten und auch seinen »Widersachern«
in der Parteiführung keinen Vorwand habe geben wollen, den innerparteilichen
Meinungsstreit zuzuspitzen. Dieses Argument wurde von seinen Gegner
ignoriert.

Als das ZK am 26. September 1928 zusammentrat, hatte Hugo Eberlein bereits
auf einer erweiterten Sitzung der Bezirksleitung Wasserkante und auf einer
Politbüro-Sitzung harte Vorwürfe gegen Thälmann erhoben. Die Rechten in der
Partei stellten daraufhin in der ZK-Tagung umgehend den Antrag, Thälmann aus
der Partei auszuschließen. Dieser Antrag wurde zwar von der Ewert-Gruppe
formell nicht unterstützt, doch sie unterließ es zunächst auch, sich davon
zu distanzieren.

Thälmann erkannte seinen Fehler in der Sitzung des Politbüros und in der
Tagung des ZK vorbehaltlos an. Er beantragte statutengemäß eine Beratung in
den Organen des EKKI, zumal er auch Mitglied in dessen Präsidium war.
Wittorf wurde aus der KPD ausgeschlossen. Thälmanns Widersacher wollten sich
aber mit dieser Regelung nicht zufriedengeben und strebten vor der
Diskussion im EKKI eine öffentliche Parteidiskussion in der KPD an. Sie
konnten sich mit dem Antrag, den »Hamburger Vorfall« umgehend in der Roten
Fahne zu veröffentlichen, im ZK durchsetzen. Der nach heftiger Diskussion
beschlossene Text erschien am nächsten Tag im KPD-Zentralorgan. Die
kolportierte These über einen einheitlichen ZK-Beschluß in dieser Frage läßt
sich durch die vorliegenden Dokumente nicht belegen.

Dieser Beschluß zur Veröffentlichung der Beschuldigung gegen Thälmann kam
politisch nicht nur einer gezielten Diskriminierung des Parteivorsitzenden
gleich, sondern mußte der Partei, die sich in der Kampagne zum Volksbegehren
gegen den Bau deutscher Panzerkreuzer befand, erheblichen Schaden zufügen.
Zugleich war das EKKI politisch desavouiert worden. So wurde das auch vom
Präsidium des EKKI aufgefaßt, das erst aus der Roten Fahne über diese
Vorgänge erfuhr. Auch die deutschen (KPD)-Vertreter beim EKKI, die dem ZK
angehörten, Fritz Heckert und Walter Ulbricht, waren nicht unterrichtet
worden. Sie protestierten umgehend gegen den ZK-Beschluß, den sie für falsch
hielten.

Das Präsidium des EKKI beschloß am 30. September 1928 nach einer »fliegenden
Abstimmung«, den Ausschluß Wittorfs zu bestätigen. Es ermahnte das ZK der
KPD, die Prüfung des Präsidiums abzuwarten, bevor eine weitere Diskussion in
der Partei stattfinde, und die Partei voll und ganz auf das Volksbegehren
gegen Panzerkreuzerbau und auf die Kampagne gegen die SPD zu konzentrieren.

Die Partei war aber informiert, und einige Bezirksleitungen (BL) berichteten
dem ZK, wie die Stimmung vor Ort war: So schrieb die BL Baden am 4.
Oktober: »... (Zur) Stimmung unter Arbeitern und Mitgliedern: Der Artikel
(in der Roten Fahne) erweckte bei den Genossen den Eindruck, daß die
Maßnahme gegen den Genossen Thälmann als zu scharf betrachtet werden. ...
Auch die Hetze der SPD, die Ausnützung des Falles für ihre Zwecke, verfehlte
unter den Arbeitern ihre Wirkung. Allerdings kann nicht verhehlt werden, daß
die Angelegenheit einige Nachwirkungen auf das Volksbegehren haben wird...«.
Die BL Württemberg berichtete: Die Mitglieder der Partei und des Roten
Frontkämpferbundes (RFB) meinen, daß die Verfehlungen des Genossen Thälmann
nicht so schlimm, »...aber durch die Ausnützung von Gruppenströmungen
innerhalb der Partei zu einer Hetze oder einem Kesseltreiben gegen Thälmann
aufgebauscht worden seien. In diesem Sinne schilderte auch die SPD-Presse
die Hamburger Vorgänge als einen Cliquenkampf im ZK...«. Unmittelbar nach
dem ZK-Beschluß schrieb ein Redakteur der Roten Fahne an das Politbüro, es
sei richtig, den Fall dem EKKI zu überweisen. Die Veröffentlichung während
des Volksbegehrens »stellt eine Schädigung der Partei dar«, die Argumente
dazu seien nicht stichhaltig, »jeder Prolet, mit dem ich nach der
Veröffentlichung des Beschlusses in Berührung kam, drückte mehr oder weniger
seine Empörung über dieses >offenbar fraktionelle Manöver< aus. Ich glaube,
daß es von Wert für das Politbüro ist, diese Stimmung in der Mitgliedschaft
der Partei kennenzulernen.«

Auch unter den ZK-Mitgliedern fanden nach der Tagung weiter heftige Debatten
über die politischen Auswirkungen ihres eigenen Beschlusses zur
Veröffentlichung vor einer Prüfung durch das EKKI statt. Im Verlauf dieser
Aussprachen distanzierten sich schließlich 26 ZK-Mitglieder von ihrem
Beschluß. Einige ZK-Mitglieder meinten, die politischen Auswirkungen ihres
Beschlusses nicht rechtzeitig erkannt zu haben, andere erklärten, mit den
Fakten einfach überrollt worden zu sein.

Parallel dazu fand unter den sowjetischen EKKI-Mitgliedern ein
Meinungsaustausch statt, der darauf hinauslief, dem EKKI-Präsidium
vorzuschlagen, Thälmanns Fehler zu kritisieren, ihn aber in seinen
Funktionen zu belassen. Sie führten als Argumente an, daß Thälmanns Motiv
für seine Handlung darin bestand, Schaden von der Partei abzuwenden. Zudem
habe er ein großes Ansehen in der deutschen Arbeiterklasse, seine
politischen Fähigkeiten als Führer der größten kommunistischen Partei in
Westeuropa seien unverzichtbar und rechtfertigten eine Suspendierung wegen
der nicht erfolgten Information des ZK über diese Unterschlagung nicht.

Vom 2. bis 6. Oktober 1928 tagte die Deutsche Kommission des EKKI. Im
Ergebnis einer heftigen Debatte, an der sich auch EKKI-Mitglieder anderer
kommunistischer Parteien beteiligten und in der Ewert und Eberlein ihre
Meinung nochmals vortrugen, wurde ein Resolutionsentwurf für die
anschließende Sitzung des Präsidiums zur Beschlußfassung formuliert. Das
Präsidium billigte am 6. Oktober 1928 die Resolution, nachdem die Sachlage
nochmals erörtert worden war. Ewert, Eberlein und Pieck stimmten ihr nicht
zu. Pieck betonte in seiner Erklärung, daß er der Resolution zugestimmt
hätte, wenn in ihr nur Thälmann das Vertrauen ausgesprochen worden wäre;
doch die in der Resolution enthaltenen Übertreibungen und die Ausnutzung der
Affäre zu organisatorischen Maßnahmen in den innerparteilichen
Meinungsverschiedenheiten veranlaßten ihn, seine Zustimmung nicht zu geben.

Pieck hatte von Beginn der Affäre an versucht, die Diskussion über Wittorfs
Unterschlagung von den innerparteilichen Auseinandersetzungen sorgsam zu
trennen. Das scheiterte am Verhalten der Rechten. Ebenso wie sie die
Unterschlagung Wittorfs ausnutzen wollten, hat die Mehrheit des
EKKI-Präsidiums mit ihrer Resolution die Affäre benutzt, um die
Meinungsverschiedenheiten in der KPD mit organisatorischen Maßnahmen zu
beenden.


Die Parteiabstimmung

Die Resolution des EKKI-Präsidiums veröffentlichte die Rote Fahne am 9.
Oktober 1928. Sie wurde in der Partei zur Diskussion gestellt. Wenn auch die
Verschärfung der Resolution, die Pieck kritisierte, von den sowjetischen
EKKI-Mitgliedern und auch von Stalin ausging, so ist die These Hermann
Webers, daß es Stalin war, der Thälmanns Sturz verhinderte, eine bewußte
Fälschung. Die Parteidiskussion belegt: Über Thälmann entschieden die
Mitglieder der KPD. Das Ergebnis ihrer Abstimmung war: Über 80 Prozent der
Parteimitglieder und Funktionäre votierten für Thälmann und stimmten der
EKKI-Resolution zu. Das entsprach der Stimmung, die unter vielen Arbeitern,
die mit der KPD sympathisierten, vorherrschte. Wir meinen, die politische
Entscheidung der KPD-Mitglieder für Ernst Thälmann (und damit gegen Heinrich
Brandler und August Thalheimer) hat sich als richtig erwiesen.

 

 

04.10.2003  Wochenendbeilage

Nick Brauns  

Verbalradikalismus   Die »dritte Periode« und der angebliche Linksschwenk der Kommunistischen Internationale 1928  

 

Die wichtigsten kapitalistischen Länder und auch die UdSSR hatten 1927 erstmals die Vorkriegsproduktion wieder überschritten. Die internationale Arbeiterbewegung mußte eine Reihe schwerer Niederlagen hinnehmen. Der englische Bergarbeiterstreik war durch den Verrat wichtiger Gewerkschaftsführer abgebrochen worden. In China hatte General Tschiang Kai Schek nach dem Aufstand von Kanton ein Massaker unter der Arbeiterschaft angerichtet und das Bündnis mit den Kommunisten aufgekündet. Japan nutzte diese Schwächung des revolutionären Chinas für einen Überfall. Trotz weltweiter Proteste waren die Anarchisten Sacco und Vanzetti in den USA hingerichtet worden. In Italien verschärfte Mussolini den Terror gegen die Arbeiterbewegung. Außenpolitisch sah sich die Sowjetunion zunehmend bedroht. Deutschland schwenkte durch die Aufnahme in den Völkerbund verstärkt auf einen antisowjetischen Kurs ein. Nach einem Polizeiüberfall auf die sowjetische Handelsmission in London waren die diplomatischen Beziehungen mit Großbritannien abgebrochen worden. Aus all dem schlußfolgerte Nikolai Bucharin im Bericht des Exekutivkomitees an den VI. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale 1928 in Moskau, daß nach der revolutionären Nachkriegskrise und der anschließenden Stabilisierung des Kapitalismus eine neue Periode eingesetzt habe. »Die dritte Periode (...) ist eine Periode der stärksten Entwicklung der Widersprüche der Weltwirtschaft (...) eine neue Phase von Kriegen zwischen den imperialistischen Staaten, von Kriegen gegen die Sowjetunion, nationalen Befreiungsbewegungen gegen den Imperialismus, Interventionen des Imperialismus, gigantischen Klassenkämpfen«, heißt es im Protokoll.

Nur wenige Delegierte, wie der Chinese Chou Chiu-pai äußerten Bedenken, ob es tatsächlich zwischen der zweiten und der nur vage definierten dritten Periode so gravierende Unterschiede gäbe. »Nicht die Außenwelt hat sich geändert, sondern Sowjetrußland hat sich geändert«, meint der 1927 aus der KPD ausgeschiedene Historiker Arthur Rosenberg. »Die neue Auffassung der internationalen Lage ist immer die Konsequenz einer Wendung in der innerrussischen Politik. Die innerrussische Kompromißtaktik, im Zeitalter der NÖP und der Zugeständnisse an die Kulaken, fand international ihren Ausdruck in der Taktik der Einheitsfront. Seitdem Stalin in der russischen Innenpolitik seinen sogenannten Linkskurs begonnen hatte, sollte die neue Radikalisierung des Bolschewismus sich auch in der Internationale zeigen. Also mußte man die Einheitsfront mit der Sozialdemokratie jetzt unbedingt ablehnen, und um scheinbar ein sachliches, aus den Verhältnissen der Internationale selbst stammendes, Motiv zu finden, mußte sich der VI. Weltkongreß mit der famosen dritten Periode abquälen.«

Konsequenz der »dritten Periode« war ein scharfer Linksschwenk der kommunistischen Parteien. Verbalradikalismus ersetzte oft ernsthafte Versuche, die Mehrheit der Werktätigen für den Kommunismus zu gewinnen. Dies zeigte sich insbesondere im Verhältnis zur Sozialdemokratie, die als Hauptstütze des Kapitalismus begriffen wurde. Eine Einheitsfrontpolitik mit den sozialdemokratischen Parteien und ihren Führern wurde ausgeschlossen. Während es Bucharin vermied, den einstmals von Sinowjew ins Spiel gebrachten Begriff des Sozialfaschismus aufzugreifen, behauptete Ernst Thälmann: »Die Entwicklung des Reformismus zum Sozialfaschismus ist eine Erscheinung, die man in verschiedenen Ländern an verschiedenen Beispielen illustrieren kann.« Besonders gefährlich seien die linken Sozialdemokraten, da diese das Abwandern unzufriedener Sozialdemokraten zu den Kommunisten verhinderten. »Jedes Schwanken, jedes Zögern bei der Entlarvung der ›linken‹ Sozialdemokaten muß in unseren Reihen mit größter Schärfe bekämpft werden.«

Die Stoßrichtung des VI. Weltkongresses richtete sich gegen eine angebliche »rechte« Gefahr in den kommunistischen Parteien als Hauptgefahr nach dem Ende der trotzkistischen Opposition. Mit dem Vorwurf, nicht entschieden genug gegen linke Sozialdemokaten zu kämpfen, sollte Stalin auch den Kampf gegen Nikolai Bucharin und die »Rechten« in der KPdSU eröffnen.

Als deutsche Vertreter wurden Clara Zetkin, Ernst Thälmann, Wilhelm Pieck, Philipp Dengel, Hermann Remmele und Konrad Blenkle in das Exekutivkomitee gewählt. Kandidaten wurden Fritz Heckert, Ernst Schneller und Walter Ulbricht sowie mit Arthur Ewert ein führender Exponent der von Thälmann bekämpften »Versöhnler« der KPD. Tatsächlich herrschte auf dem Kongreß eine drückende Stimmung. »Die Tragödie besteht darin«, beklagte der italienische Delegierte Ercoli (Togliatti) unter vier Augen, »daß es unmöglich ist, die Wahrheit über die wichtigsten, entscheidendsten laufenden Probleme auszusprechen. Wir können nicht reden. In dieser Atmosphäre hätte das Aussprechen der Wahrheit die Wirkung einer Bombenexplosion.«

 

18.10.2003  Wochenendbeilage

Sebastian Gerhardt  

Skandalaffäre Thälmann  

Worum ging es? Die Wittorf-Affäre 1928 und die Stalinisierung der Komintern  

 

* Die jW-Debatte über die Wittorf-Affäre entzündete sich im Frühjahr an einer Nick-Brauns-Rezension des vierten Bandes der u. a. von Klaus Kinner herausgegebenen »Geschichte des Kommunismus und Linksradikalismus« (jW, 11. April), die u.a. den Widerspruch von Eberhard Czichon und Heinz Marohn hervorrief ( jW, 28. April). Beide Autoren legten die Ergebnisse ihrer Archivforschungen über die Auseinandersetzungen um Ernst Thälmann in der jW vom 27./28. September 2003 noch einmal ausführlich dar. Darauf antwortet heute Sebastian Gerhardt

Zu den bekanntesten und oft zitierten Sätzen des alten Dialektikers Heraklit zählt die Bemerkung, es sei unmöglich »zweimal in den denselben Fluß zu steigen«. Seine Warnung vor der Verwechslung eines unveränderten Namen mit der zweifelhaften Beständigkeit der bezeichneten Sache wird von Eberhard Czichon und Heinz Marohn (junge Welt vom 27./28. September, Seiten 2/3 der Beilage) nicht berücksichtigt. Sie empfehlen uns, noch einmal in den Fluß des Jahres 1928 zu steigen. Und weil sie sich selbst als Kommunisten verstehen, ergreifen sie auch die historische Partei »der Kommunisten« – und treffen dabei auf eine Schwierigkeit. »Kommunismus« ist nämlich kein eingetragenes und geschütztes Warenzeichen, das nur von besonders berechtigten Personen verwendet wird. Insbesondere war die sogenannte »Wittorf-Affäre«, die von Clara Zetkin treffender als die »Skandalaffäre Thälmann« bezeichnet wurde, eine Auseinandersetzung innerhalb der kommunistischen Bewegung selbst. Von allen beteiligten Seiten wurde dabei im Jahre 1928 der Anspruch erhoben, die richtige kommunistische Politik zu vertreten. Es kommt also darauf an, diese Ansprüche zu prüfen, an die Stelle der »conflicting dogmas« die »conflicting facts« zu setzen.

Zu den unbestrittenen Fakten über die Unterschlagung des erst 1927 als Nachfolger des unkorrumpierbaren Rudolf Lindau zum Polleiter des Bezirks Wasserkante gewählten John Wittorf gehört die Größenordnung der fehlenden Geldsumme: etwa 1500, nach anderen Quellen auch 1850 Reichsmark. Was heißt das? Im Jahre 1928 lag der durchschnittliche tarifliche Wochenlohn eines gelernten Arbeiters bei 51 Mark, eines ungelernten Arbeiters bei fast 40 Mark. Ähnlich war die Situation bei den Angestellten: 68 Prozent der Angestellten verdienten bis zu 200 Mark im Monat. Für die von Wittorf unterschlagene Summe mußte ein gelernter Facharbeiter mehr als ein halbes Jahr arbeiten, wobei die Wochenarbeitszeiten seinerzeit deutlich länger waren als heute. Nur etwa sechs Prozent der Industriearbeiter arbeiteten weniger als 48 Stunden in der Woche.

Aus Sicht der Kommunistischen Internationale allerdings handelte es sich bei den in Hamburg unterschlagenen Beträgen um keine große Summe – »etwa 2000 Mark«, wie der zuständige Ossip Pjatnizki in einem Brief an Stalin und Bucharin feststellte. Tatsächlich hatte man sich bei der Finanzierung der westeuropäischen kommunistischen Parteien durch die Sowjetunion an das »Versickern« ganz anderer Summen, an verschwundene Millionen gewöhnen müssen (Alexander Watlin, Die Komintern 1919-1929, Mainz 1993). Um einen geringeren Preis war die verdeckte Finanzierung der kommunistischen Parteien im Westen kaum zu haben. Und nur mit erheblicher finanzieller Unterstützung war z. B. die KPD in der Lage, zeitweise über 20 Tageszeitungsredaktionen zu betreiben. Selbstverständlich konnte die kommunistische Presse auch mit solcher Unterstützung nicht an die Reichweite der bürgerlichen oder sozialdemokratischen Blätter heranreichen. Die Auflagenhöhe der Roten Fahne betrug nicht mehr als 40 000 Exemplare. Aber es ergaben sich neue Möglichkeiten und neue Abhängigkeiten: Nicht von der politischen Unterstützung durch die Leser, sondern von den Quellen eines geheimen Apparates wurden die Redaktionen und Funktionäre unterhalten. Ein wunder Punkt, der in der »Wittorf-Affäre« von Ernst Thälmann auf der ZK-Sitzung vom 26. September 1928 besonders hervorgehoben wurde: »Eine weitere Rolle für mein Schweigen spielte die Tatsache, daß von einer besonderen Stelle das Geld gegeben war, und alle Genossen in diesem Kreise großes Interesse daran hatten, daß die Öffentlichkeit nichts davon erfährt.«

Selbstverständlich setzte sich die finanzielle Abhängigkeit nicht direkt in eine politische um. Aber die Autorität der Bolschewiki als der ersten erfolgreichen kommunistischen Revolutionäre wurde mit Gold und Valuta wirkungsvoll untermauert. Die deutschen Kommunisten waren angesichts ihrer Minderheitenposition in der deutschen Arbeiterbewegung tief zerstritten über den Weg der proletarischen Revolution in Deutschland. Anfang 1928 standen etwa 140 000 Mitgliedern der KPD über 860 000 organisierte Sozialdemokraten gegenüber, die zudem in den Organisationen der Arbeiterbewegung, vom Sportverein über die Gewerkschaften und Genossenschaften bis zu den Freidenkern, die Hegemonie hatten. Alle unterschiedlichen Möglichkeiten der Reaktion auf diese Lage traten in der KPD in allen möglichen und unmöglichen Kombinationen tatsächlich auf: Neben dem schlichten Rückzug in reine kommunistische Zirkel gab es die »linke« Hoffnung auf die »unverdorbenen«, weil unorganisierten Gruppen der Arbeiterklasse, die mit radikalen Forderungen mobilisiert werden sollten. Dann die sogenannte »Einheitsfront von unten«, die den gleichen Klassenbrüdern, die als Gewerkschaftsmitglieder für kommunistische Politik umworben wurden, im Falle ihrer Mitgliedschaft in der SPD die Solidarität aufkündigte. Schließlich die Position der sogenannten »Rechten«, die für eine schrittweise Erarbeitung des Weges zum Kommunismus durch die organisierten Proletarier eintrat: »Der bürgerliche Militarismus hat längst begriffen, daß mit Massenheeren unter den Bedingungen des modernen Krieges nicht zu operieren ist ohne die Entwicklung der Initiative jedes einzelnen Soldaten. Das gilt noch zehn- und hundertfach für die proletarische Revolution, die noch viel größere Massen in Bewegung setzt und weit mehr Initiative, Selbständigkeit und Verständnis für das Ganze von jedem einzelnen Kämpfer verlangt.« (August Thalheimer)

Die KPD war die größte Partei in der Komintern neben der russischen. In Westeuropa wies sie die reichsten politischen Erfahrungen und inneren Gegensätze auf. Ausschlaggebend für den Ausgang der deutschen Fraktionskämpfe war aber immer mehr die Einflußnahme der sowjetischen Parteiführung. So auch Anfang 1928, als am Rande der 9. Tagung des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale (EKKI) in einem Geheimabkommen zwischen der deutschen Delegation in der Komintern um Thälmann und der sowjetischen Delegation um Stalin und Bucharin beschlossen wurde, daß »die rechte Gefahr« in der deutschen Arbeiterbewegung und innerhalb der KPD die Hauptgefahr darstellt. Lange vor dem VI. Weltkongreß wurden damit die Weichen für die nächste, nunmehr »radikalere« Entwicklungsetappe der KI gestellt. Clara Zetkin fragte in einem Brief an Wilhelm Pieck bitter: »Wo bleibt die K.I., ihre organisatorische Einheitlichkeit, wenn wichtige Fragen nicht von dem Plenum diskutiert und beschlossen, sondern ›geregelt‹ werden durch Abkommen zwischen einzelnen Parteien?«

Noch während des Weltkongresses wurde die Hamburger Unterschlagung durch die Zeitungen linker oppositioneller Kommunisten öffentlich. Und nicht nur die Versöhnler um Arthur Ewert und Gerhart Eisler forderten personelle Konsequenzen, als Thälmanns Vertuschung zutage trat. Allerdings wurde die Angelegenheit am 26. September im Berliner ZK eben nicht entschieden, sondern dem EKKI übergeben. Dessen erste Reaktion zielte auf eine Beschränkung der Diskussion in der deutschen Partei. Der Hauptvorwurf, der im folgenden dem ZK der KPD gemacht wurde, bestand auch nicht in den Schritten gegenüber Thälmann, sondern in der Veröffentlichung dieser Schritte. Die Kritiker des ZK charakterisierten damit hinreichend ihre Vorstellung von parteilicher Demokratie: Die Mitglieder sollten in einer Frage entscheiden, über die sie gar nicht erst informiert wurden. Tatsächlich wird die Revision des ZK-Beschlusses nicht in einer kollektiven Beratung und Abstimmung des ZK selbst, sondern in Kungelgesprächen und aufgrund von persönlichem Druck der Moskauer Emmissäre erreicht, flankiert durch schriftliche Mahnungen von Walter Ulbricht und Fritz Heckert, den KPD-Vertretern in Moskau. Die Haltung von Stalin und Molotow stand von Anfang an fest: Thälmann muß bleiben. Sie finden genug Kanäle, diese Botschaft nach Berlin zu transportieren. Parallel zur präjudizierten Entscheidung des EKKI am 6. Oktober ziehen 25 ZK-Mitglieder ihre Stellungnahme gegen Thälmann öffentlich zurück. Aber bis in die Details der folgenden Parteidebatte bleibt der Moskauer Einfluß stets erkennbar: Die Parteigliederungen sollen schließlich nicht über Thälmanns politisches Schicksal, sondern über die Zustimmung oder Ablehnung eines EKKI-Beschlusses entscheiden. Damit wird die Zustimmung zum Vorsitzenden Thälmann zu einer Disziplinarfrage im Rahmen der kommunistischen Weltpartei.

Dennoch dauert es noch Wochen, bis der Aufruhr in der KPD niedergeschlagen ist. Erst in diesen Wochen werden die sogenannten Rechten in der KPD zum organisatorischen Hauptfeind erklärt. Dabei hatten Heinrich Brandler und August Thalheimer am Entschluß zur Funktionsenthebung Thälmanns keinen Anteil. Brandler war noch in Moskau »kominterniert« und konnte erst nach dem 13. Oktober nach Deutschland abreisen. Thalheimer war zwar seit Mai 1928 im Lande, aber nach wie vor Mitglied der sowjetischen Partei und ohne Funktion in Deutschland. Er wandte sich aber mit weiteren Genossen am 18. Oktober öffentlich an das EKKI, womit die Grenzen der Toleranz des Stalinschen Führungskerns bewußt überschritten wurden. In diesem Brief wird die »Wittorf-Affäre« nicht als Ausnahme, sondern als Konsequenz eines Systems von Bürokratismus und politischer Korruption kritisiert. Es wird die Aufhebung des EKKI-Beschlusses vom 6. Oktober, eine freie Diskussion in der Partei und die Wählbarkeit aller Parteifunktionäre gefordert. Thalheimer und seine Genossen formulieren eine politische Kritik an der Position der Komintern und der KPD: Die Stärke der Komintern sei ihre Prägung durch die erfolgreiche russische Revolution. Doch diese Stärke sei zugleich eine Schwäche, denn nicht alle Züge des russischen Vorbilds seien allgemeingültig. Ihre Suche nach dem »konkreten Wege zur proletarischen Revolution in Deutschland« fand jedoch keinen breiten Widerhall, denn, wie es Clara Zetkin im Dezember 1928 ausdrücken wird: »Eine solche freie Diskussion gab es nicht, und sie fehlt jetzt mehr denn je.« Die praktischen Folgen blieben nicht aus. Am 25. März 1929 schrieb Clara Zetkin an ihren Schweizer Genossen, den strafversetzten Jules Humbert-Droz: »Ich werde mich völlig allein und deplaziert in dieser Organisation fühlen, die sich aus einem lebendigen politischen Organismus in einen toten Mechanismus verwandelt hat, der auf der einen Seite Befehle in russischer Sprache einschluckt und sie auf der anderen Seite in verschiedenen Sprachen ausspuckt, in einen Mechanismus, der die gewaltige welthistorische Bedeutung und den Inhalt der russischen Revolution in Regeln für einen Pickwick- Klub verwandelt hat.«

Das Scheitern der Kommunistischen Internationale hatte keine geringere welthistorische Bedeutung als die russische Revolution, die diese Kommunistische Internationale geprägt hat. In beider Scheitern nimmt das Jahr 1928 eine zentrale Position ein. Deshalb sind die damaligen Auseinandersetzungen auch heute noch von mehr als antiquarischem Interesse. Wer allerdings nichts anderes aus der Geschichte lernen will, als daß ein guter Kommunist um jeden Preis in »der Partei« verbleiben muß, der wird auch in noch so vielen Akten nichts neues finden können. Der wird weiterhin jeden, der vom eigenen Pfad der Rechtgläubigkeit abweicht, als Renegaten exkommunizieren. Aber anders als seine innerparteilichen Gegner hat Heinrich Brandler nicht mit unerfüllbaren Versprechungen Bankrott gemacht. Von seiner illusionslosen Analyse der Lage und der Handlungsmöglichkeiten von Kommunisten könnte – wenn man es denn will – auch heute noch gelernt werden.


Eine Chronologie des Jahres 1928

9. bis 25. Februar: Auf IX. Plenum des EKKI wird die »Linkswende« in der Komintern (»Einheitsfront von unten«) unter Bucharins Führung durchgesetzt.

29. Februar: Geheimabkommen zwischen der Delegation der KPdSU und der KPD bei der Komintern.

17. Juli bis 1. September: VI. Weltkongreß der Komintern.

29. August: Der linkskommunistische Volkswillen berichtet über Unregelmäßigkeiten in den Hamburger KPD-Finanzen.

26. September: ZK-Tagung der KPD bestätigt den Parteiausschluß Wittorfs; Pries, Presche und Schehr werden ihrer Funktionen enthoben. Thälmanns Funktionen ruhen bis zu einer Entscheidung des EKKI.

6. Oktober: Etwa 25 (von 52) Mitglieder bzw. Kandidaten des ZK distanzieren sich von ihrem am 26.9. gefaßten Beschluß.

6. Oktober: Das Präsidium des EKKI stellt sich hinter Thälmann.

18. Oktober: Offener Brief von Thalheimer, Walcher, Schreiner, Köhler, Enderle an das EKKI.

19./20. Oktober: ZK-Tagung der KPD, auf der die Verdrängung der »Versöhnler« aus dem Apparat und die Entfernung der »Rechten« aus der Partei beschlossen werden.

17. November: Die erste Ausgabe von Gegen den Strom, dem späteren Organ der KPD(O) erscheint.

19. Dezember: Das Präsidium des EKKI beschließt den Ausschluß der »Rechten«.

28. Dezember: Gründung der KPD (Opposition).

 

 

Mitteilungen der Kommunistischen Plattform: Februar 2004

Die Ästhetik der Dekadenz
Eberhard Czichon und Heinz Marohn, Berlin


In der anhaltenden Offensive zur Delegitimierung der DDR nimmt die bürgerliche Historiographie zur Geschichte der KPD einen aktuellen Platz ein.

Von einflußreichen politischen Eliten wird offensichtlich der ideologische Zusammenhang zwischen der Geschichte der Klassenkämpfe der KPD in den Jahren der Weimarer Republik gegen Ausbeutung, Sozialraub und imperialistischen Krieg und der Existenz der DDR mit ihrer antikapitalistischen, die sozialen Menschenrechte sichernden Politik, der sich heute wieder stärker im Geschichtsbewußtsein vieler Menschen reflektiert, mit Sorge beobachtet. So findet gegenwärtig um die revolutionären Traditionen der deutschen Arbeiterklasse eine erbitterte Diskussion statt, in der versucht wird, die KPD, besonders aber Ernst Thälmann, mit dem seit 1989 sorgfältig gepflegten ideologischen Stigma des "Stalinismus" zu verdammen.

Nach dem Erscheinen unseres als Reaktion auf die ND-Veröffentlichung Hermann Webers - "Parteichef von Stalins Gnaden" vom 22./23. Februar 2003 - geschriebenen Artikels "Wie Geschichte manipuliert wird" gab es eine aufschlußreiche Diskussion.

Auf einige Probleme dieser Debatte mit Nick Brauns und Klaus Kinner in der jW vom 3./4.5.03, Manfred Behrend in der jW vom 10./11.5. und 7.10.03 sowie in der Arbeiterstimme 141 und Sebastian Gerhardt in der jW 18./19.10.03, die uns relevant erscheinen, gehen wir kurz ein. Voraus setzen wir, daß die Debatte nützlich war im Sinne einer ideologischen Klärung unter Linken und in deren Argumentationsstrategie.

Wenn wir von der "klassischen Epoche" der deutschen bürgerlichen Historiographie, ausgehen, die vom Fortschrittsdenken Kants und Herders und der Geschichtsphilosophie Hegels geprägt war und in der Niebuhr und Ranke mit ihrer Quellenkritik die Grundlagen der Archivwissenschaft schufen, so hat die "moderne" bürgerliche Geschichtsschreibung diese Etappe längst überwunden. Seit langem reduziert sie sich auf die Apologetik der kapitalistischen Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnisse, wobei sie gegen den historischen Materialismus immer stärker unterschiedliche Abwehrmethoden entwickelte und objektive Gesetzmäßigkeiten ebenso leugnete wie die sozialökonomischen Gesellschaftsformationen. Die Kategorien der Klassen und des Klassenkampfes wurde von ihr längst ad acta gelegt. Damit erhielt der historische Reformismus seine Konsekration und die Geschichtsschreibung des Bürgertums versank in ihre dekadente Phase.

Heute bedarf es keiner besonderen Anstrengungen, die moderne Struktur der Mainstream-Historiographie und ihren klassengebundenen Anspruch als eine Wissenschafts-Ästhetik zu identifizieren, die sich als unendliche Freiheit der "Kunst des subjektiven Machens" versteht. Dabei kommt es ihr nicht mehr auf den historischen Fakt, die Tatsachen und noch weniger auf deren Kausalität an, sondern vor allem auf eine ideologische Geschichtsdeutung, vornehmlich im Sinne der jeweils aktuellen ideologischen Manipulationszielstellung. So entsteht eine Ästhetik der Deutungskunde. Die soziologische Deutungsarbeit von Klaus-Michael Mallmann zur KPD in der Weimarer Republik ist hierfür ein repräsentatives Modell [Klaus-Dieter Mallmann, Kommunisten in der Weimarer Republik, Darmstadt 1996]. In ihm wird die KPD durch die Sicht der bürgerlichen Struktursoziologie kommentiert und ein soziologisches Selbstverständnis der KPD ebenso ignoriert wie deren Fakten und historische Kausalität. Andere Historiker wie Hermann Weber oder Jens Becker [Jens Becker, Heinrich Brandler, Eine politische Biographie, Hamburg 2001] ersetzen solche Zusammenhänge oder überbrücken Tatbestände auch noch durch unkritisch übernommene ideologische Kommentierungen Dritter.

Mit einer derartigen Geschichtsphilosophie können bequem Deutungstheoreme als Surrogate dort eingesetzt werden, wo eine politische "moderne" Interpretation angemessen erscheint, unabhängig von der historischen Konkretheit. Das ersetzt schließlich eine subtile Forschung und schwierige Archivarbeit. Hierher gehören dann solche historischen Ersatzstücke wie unter anderen die "Theorie" vom Stalinismus. Ein sehr bequemes und praktikables Verfahren. Manfred Behrend folgt darin Weber ebenso wie Kinner: Behrend argumentiert mit unhistorischen Argumenten, beispielsweise so: "Wie solche Feldzüge abliefen, ist altgedienten SED-Genossen bekannt" (jW, 7.Okt.03). Die Konkrete Sachlage wird mit einer Analogie ausgeschaltet, basta. Auch Sebastian Gerhard (jW, 18./19.Okt.03) hat den bequemen Stalinismus parat, den er zudem mit pikanten Falschangaben ein wenig ausschmückt, andere Tatsachen dafür ausläßt. Er übernimmt auch die Argumentation von Brandler. Dessen Angaben anhand von Forschungen zu überprüfen fand er nicht für erforderlich. Gerhard krönt seine Ansicht sogar noch mit der kühnlichen Annahme, daß "in noch so vielen Akten nichts neues" zu finden sein wird. Hier hat die historische Dekadenz einen überzeugenden Repräsentanten gefunden.

Andere Mainstream-Makler wie beispielsweise Bernhard H. Bayerlein oder Bernd Kaufmann [Bernd Kaufmann u.a., Der Nachrichtendienst der KPD 1919-1937, Berlin 1993] verwenden Unterstellungen als Deutungsstrecke. So wird "vermutet", "angenommen" oder "davon ausgegangen". Ein offen im ZK der KPD diskutiertes Schriftstück avanciert kurzerhand zum "Geheimabkommen". Bei Kaufmann und Gerhard werden zudem Erfahrungen aus ihrem Erleben der Gegenwart in die Geschichte transponiert: Diskussionen und Auseinandersetzungen zur politischen Strategie und Taktik der KPD vermögen sie nur noch als subjektive Intrigen zu erkennen, beziehungweise reduzieren sie auf eine solche Sinngebung. So haben sich einige "linke" Historiker methodologisch den "modernen" Deutungshistorikern und "Antikommunismusschulen" angeschlossen. Wenn wir dieser Tendenz nicht widersprechen, könnte das zur Verfälschung des Traditions- und Geschichtsbewußtseins in der Arbeiterbewegung führen.

Doch auch muß manchen Genossen gesagt werden: Es geht nicht an, in einem problemumgrenzten Zeitabschnitt alle möglichen Dokumente und Positionen, unter anderen der KPD (O), einzufügen (vgl. Herbert Münchow in der UZ vom 17. Oktober 03). Derartige Vorgehensweise verführt nur zum Herumstochern in der Geschichte und ersetzt nicht die kritische Analyse. Nicht die einzelnen Dokumente als Beispiele, sondern in ihrer Kausalität gewinnen sie im historischen Prozeß ihre dialektische Aussage.

Wir wollen nochmals betonen, daß jede politische Entscheidung nur im konkreten historischen Kontext analysiert werden kann. So ist die Gewerkschaftspolitik der KPD beispielsweise nicht ohne die unkämpferische Haltung des Bundesvorstandes des ADGB oder die antikommunistischen Positionen des SPD-Parteivorstandes zu verstehen. Wer von Dialektik spricht, muß die Wechselbeziehung akzeptieren. Eine verbale Rechtfertigung der KPD(O)-Politik wäre ebenso unhistorisch, wie die Fehler der KPD zu ignorieren.

Zum Operieren in der Geschichte mit Fallbeispielen, vielfach von Hermann Weber, Klaus Kinner und Bernd Kaufmann angewandt, erinnern wir uns an eine Sentenz von Lenin. Er schrieb: "Beispiele einfach zusammentragen macht keine Mühe, hat aber auch keine oder nur eine rein negative Bedeutung, denn worauf es ankommt, ist die konkrete historische Situation, auf die sich die einzelnen Fälle beziehen. Tatsachen sind, nimmt man sie in ihrer Gesamtheit, in ihrem Zusammenhang, nicht nur ‚hartnäckige', sondern auch unbedingt beweiskräftige Dinge. Nimmt man aber einzelne Tatsachen, losgelöst vom Ganzen, losgelöst aus ihrem Zusammenhang, sind die Daten lückenhaft, sind sie willkürlich herausgegriffen, dann ist das eben nur ein Jonglieren mit Daten oder noch was Schlimmeres." (LW, Bd. 23, 284 ff.)

Nun ist freilich von den Vertretern der modernen bürgerlichen Sinngebungs- oder Deutungskunde nicht zu erwarten, daß sie Maximen des historischen Materialismus folgen. Doch daß die Bewertung mancher ihrer Werke als antikommunistisch von Behrend (der einst stolz in der DDR promovierte) als Beschimpfung empfunden wird, erstaunt indes. Solche Solidarität dürfte Weber gewiß als unangebracht empfinden, denn - wenn wir ihn richtig verstanden haben - war und ist dies doch sein erklärtes Ziel. Und so gewinnt der Streit um Geschichte sein aktuelles politische Profil.