junge Welt 22.07.2006 / Wochenendbeilage / Seite 15 (Beilage)

Wende in Nahost

Die Verstaatlichung des Suezkanals 1956 führte zu einem Überfall imperialistischer Staaten

Nick Brauns
 

Eine gewaltige Menschenmenge hatte sich in den Abendstunden des 26. Juli 1956 auf dem Mohammed-Ali-Platz in Kairo versammelt. Präsident Gamal Abd Al Nasser war in Hochstimmung. Mit Scherzen riß er die Massen mit sich. Nach einer zornigen Tirade gegen den »Kolonialismus der Gläubigerländer« folgte der Höhepunkt seiner Ansprache: »Hiermit gebe ich bekannt, daß, während ich hier spreche, im ägyptischen Gesetzblatt die Verordnung zur Verstaatlichung der Suezkanalgesellschaft erscheint und Regierungskräfte die Geschäftsräume des Unternehmens beschlagnahmen.« Auf ein Signal hin besetzten Kommandos der ägyptischen Armee die Zentrale der Kanalgesellschaft in Kairo und ihre Niederlassungen in Ismailia, Port Said, Port Taufik und Suez. Während aus Lautsprechern Nassers Rede übertragen wurde, feierten Zehntausende Menschen auf der Uferstraße von Alexandria.

Die Nationalisierung des Suezkanals war der Höhepunkt zunehmender Spannungen zwischen Ägypten und dem Westen, seit 1952 in Kairo eine Offiziersjunta den König gestürzt und einen panarabischen, antizionistischen und nationalistischen Kurs eingeschlagen hatte. 1954 mußte Großbritannien den Rückzug seiner Truppen aus der Suezregion zusagen. Oberst Nasser plante die Beseitigung des Massenelends durch ein Modernisierungsprogramm, in dessen Mittelpunkt der Bau des Assuan-Staudammes stand. Er versuchte, die Sowjetunion gegen England und die USA auszuspielen, um die Unabhängigkeit des Landes zu sichern. Als Nassers Ansinnen, Waffen in den USA zu kaufen, von dortigen prozionistischen Kreisen zurückgewiesen wurde, wandte sich der Oberst an die Sowjetunion, die im September 1955 ein Waffengeschäft mit der Tschechoslowakei ermöglichte. Um ihren Einfluß fürchtend, sicherten die USA und Großbritannien einen neuen Kredit von 70 Millionen US-Dollar für den Staudammbau zu. Doch als im März 1956 auf ägyptischen Druck hin der britische General John Bagot Glubb als Oberkommandierender der Arabischen Legion entlassen wurde, hatte sich Nasser den britischen Premierminister Anthony Eden zum Todfeind gemacht. Als Ägypten zwei Monate später die Volksrepublik China anerkannte, war dies ein offener Affront gegen Wa­shington. US-Außenminister John Foster Dulles stornierte am 19. Juli 1956 die im Vorjahr gegebene Kreditzusage. »Wir sollten den Damm auf den Knochen von 20000 ägyptischen Arbeitern errichten, die beim Bau des Kanals umkamen«, rechtfertigte Nasser daher die Nationalisierung des Suezkanals zur Finanzierung des Dammbaus.

Zwar wurden britische Anteilseigner, die 44 Prozent hielten, für die Enteignung entschädigt. Doch Großbritannien war nicht bereit, seinen Einfluß einfach aufzugeben. »Dies ist die dritte größere Krise seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und für uns in Britannien die ernsthafteste von allen«, warnte Premier Eden, »viel ernsthafter als die Berliner Blockade oder der Koreakrieg.« Der britische Premier ordnete den Sturz Nassers an. Die Tory-Regierung sprach nun von »Nasser-Hitler«, um die Bevölkerung auf Krieg einzustimmen. Auch Abgeordnete der oppositionellen Labour-Partei und der Liberalen forderten Maßnahmen gegen Ägypten. Die britischen Konten der Kanalgesellschaft wurden eingefroren. Unterstützung erhielt die britische Regierung von Frankreich, das um seine Kolonien im Maghreb fürchtete, nachdem algerische Freiheitskämpfer Waffennachschub aus Ägypten bekommen hatten.

Auf mehreren Geheimtreffen bei Paris wurde im September und Oktober 1956 die Verschwörung gegen Ägypten vorbereitet. So trafen sich am 29. September der französische Außenminister Christian Pineau und Verteidigungsminister Maurice Bourges-Maunoury mit den israelischen Politikern Golda Meir, Shimon Peres und Mosche Dajan. Frankreich und Großbritannien sicherten Israel Waffenlieferungen sowie den Schutz des israelischen Luft- und Küstenraums zu. Bei einer gegen Israel gerichteten Entscheidung des UN-Sicherheitsrates versprach Frankreich, sein Veto einzulegen. Israel sollte eine Invasion in Ägypten beginnen. Großbritannien und Frankreich würden dann als vermeintliche Friedensmächte intervenieren und die Kanalzone besetzen.

Die »Operation Musketier« begann am 29. Oktober 1956. Unter dem Vorwand, gegen grenzüberschreitende Aktionen palästinensischer Guerillakämpfer vorzugehen, besetzten israelische Truppen den Gazastreifen und die Si­nai-Halbinsel und stießen in Richtung des Kanals vor. Am folgenden Nachmittag forderten die Regierungen Frankreichs und Großbritanniens ultimativ den Rückzug der ägyptischen Armee vom Sinai. Die ägyptischen und israelischen Truppen sollten sich zehn Meilen vom Kanal entfernen. Allerdings war die israelische Armee zu diesem Zeitpunkt noch rund 100 Meilen von dieser Linie entfernt. Ägypten sollte zudem sein Einverständnis für die vorübergehende Besetzung der Kanalstädte geben. Als Nasser das proisraelische Ultimatum zurückwies, begann die britische und französische Luftwaffe am 31. Oktober mit der Bombardierung ägyptischer Flughäfen. Am 5. November landeten alliierte Truppenverbände in der Kanalzone. Beim Sturm auf Port Said wurden rund 1000 Ägypter, mehrheitlich Zivilisten, getötet, die Stadt wurde fast vollständig zerstört. Selbst Angehörige der verbotenen Moslembruderschaft erklärten nun ihre Bereitschaft, für Nasser zu kämpfen. Frauen spielten bei der Zurückweisung der Aggression eine wichtige Rolle. Sie kämpften in der Nationalgarde, organisierten den Waffenschmuggel und bildeten in Kairo ein Frauen-Volkswiderstandskomitee.

Aufgrund der alliierten Luftüberlegenheit mußten die ägyptischen Truppen zurückweichen. Die Aggressoren konnten sich nicht lange ihres Sieges erfreuen. Britische Ölpipelines in Syrien wurden gesprengt, Saudi-Arabien stoppte die Öllieferungen, der Suezkanal war durch gesunkene Schiffe unpassierbar. Die Sowjetunion drohte militärisch einzugreifen, die UNO verurteilte die Aggression, und selbst die USA bestanden auf einen Rückzug der Besatzungstruppen. Vor dem Hintergrund des Ost-West-Konflikts schienen der US-Administration gute Beziehungen zur »dritten Welt« wichtiger als die Separatinteressen einzelner europäischer Mächte. Um Druck auszuüben, verhinderten die USA, daß das wirtschaftlich stark angeschlagene Großbritannien eine Anleihe durch den Internationalen Währungsfonds erhielt.

Nach sechs Wochen begannen die Invasionstruppen ihren Rückzug aus Ägypten. Die Suezkrise wurde zu einem Wendepunkt der Nahost-Nachkriegsgeschichte. Die israelische Regierung hatte sich als Kettenhund des Imperialismus entlarvt. Der Angriff auf Ägypten war das letzte selbständige Aufbäumen der einstigen Weltmacht Großbritannien, die von nun an nur noch als Juniorpartner der neuen Weltmacht USA agieren konnte. Premierminister Eden wurde zum Rücktritt gezwungen. Nasser dagegen ließ sich trotz seiner militärischen Niederlage als Sieger über die Imperialisten feiern und wurde zum Hoffnungsträger der arabischen Welt.

Hintergrund: Aus der Geschichte Ägyptens und des Suezkanals

Als Ägyptens Präsident Nasser vor fünfzig Jahren die Verstaatlichung des Suezkanals verkündete, hatte der 195 Kilometer lange Schiffahrtsweg zwischen Port Said im Norden und Suez im Süden bereits eine wechselvolle Geschichte hinter sich, die untrennbar mit der Ägyptens verbunden ist. Im 19. Jahrhundert, zur Zeit des Kanalbaus, gehörte das Land am Nil nominell als autonome Provinz zum Osmanischen Reich und wurde von Vizekönig Said Pascha regiert. Der vergab 1856 die Konzessionen für Bau und Betrieb des Kanals zwischen Mittelmeer und Rotem Meer – Laufzeit 99 Jahre nach Inbetriebnahme – an den Franzosen Ferdinand de Lesseps, der daraufhin die von französischem Kapital dominierte »Compagnie Universelle du Canal Maritime de Suez« gründete.

Der am 17. November 1869 nach zehn Jahren Bauzeit eingeweihte Kanal erwies sich für Betreiber wie für Aktionäre als Quelle enormer Profite, von denen die Heimat der ägypti­schen Kanalerbauer auf Jahrzehnte hinaus – bis 1937 – allerdings nichts abbekam. Großbritannien, das 1882 Ägypten von Truppen besetzen und die Kanalzone zu einem Militärstützpunkt ausbauen ließ und faktisch zu einer Kolonie machte, hatte schon 1975 die Aktienmehrheit der Kanalgesellschaft unter seine Kontrolle gebracht.

Auch nach der formalen Unabhängigkeitserklärung der nunmehrigen konstitutionellen Monarchie Ägypten im Jahr 1922/1923 blieben britische Truppen im Land. 1936 beschränkte ein Bündnis- und Militärvertrag zwischen beiden Ländern deren Anwesenheit auf die Kanalzone – für weitere 20 Jahre. Nach dem Staatsstreich von 1952 und der Proklamation der Republik im Jahr darauf vereinbarten London und Kairo am 19. Oktober 1954 in einem Vertrag die Räumung der Kanalzone innerhalb von zwei Jahren, in dessen Folge am 18. Juni 1956 die letzten britischen Soldaten das Land verließen. Die Nationa­lisierung der Kanalgesellschaft beendete auch die Ägypten 1949 zugestandene »Gewinnbeteiligung« von mageren sieben Prozent der Einnahmen.

(jW)

 

Aus: Rosa Luxemburg - Gesammelte Werke. Band 5. Berlin 1975. "Die Akkumulation des Kapitals", S. 375 f.

Drei Reihen von Tatsachen, die sich ineinander verschlingen, charakterisieren die innere Geschichte Ägyptens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: moderne Kapitalunternehmungen größten Stils, ein lawinenartiges Anwachsen der Staatsschuld und der Zusammenbruch der Bauernwirtschaft. In Ägypten bestand bis in die neueste Zeit Fronarbeit und die ungenierteste Gewaltpolitik des Wali und nachher des Khediven in bezug auf die Grundbesitzverhältnisse. Aber gerade diese primitiven Verhältnisse boten einen unvergleichlich üppigen Boden für die Operationen des europäischen Kapitals. Ökonomisch konnte es sich vorerst nur darum handeln, Bedingungen für die Geldwirtschaft zu schaffen. Diese wurden denn auch mit direkten Gewaltmitteln des Staates geschaffen. ... Mit dem Bau des Suezkanals hatte Ägypten bereits den Kopf in die Schlinge des europäischen Kapitals gesteckt, aus der es ihn nicht mehr herausziehen sollte. Den Anfang machte das französische Kapital, dem das englische alsbald auf dem Fuße folgte; der Konkurrenzkampf beider spielt durch die ganzen inneren Wirren in Ägypten während der folgenden 20 Jahre. Die Operationen des französischen Kapitals, das sowohl das große Nilstauwerk in seiner Unbrauchbarkeit wie den Suezkanal ausführte, waren vielleicht die eigenartigsten Muster der europäischen Kapitalakkumulation auf Kosten primitiver Verhältnisse. Für die Wohltat des Kanaldurchstichs, der Ägypten den europäisch-asiatischen Handel an der Nase vorbei ableiten und so den eigenen Anteil Ägyptens daran ganz empfindlich treffen sollte, verpflichtete sich das Land erstens zur Lieferung der Gratisarbeit von 20.000 Fronbauern auf Jahre hinaus, zweitens zur Übernahme von 70 Millionen Mark Aktien gleich 40 Prozent des Gesamtkapitals der Suezkompanie. Diese 70 Millionen wurden zur Grundlage der riesigen Staatsschuld Ägyptens, die zwanzig Jahre später die militärische Okkupation Ägyptens durch England zur Folge hatte.