Eine gewaltige Menschenmenge hatte sich in den Abendstunden
des 26. Juli 1956 auf dem Mohammed-Ali-Platz in Kairo versammelt. Präsident
Gamal Abd Al Nasser war in Hochstimmung. Mit Scherzen riß er die Massen mit
sich. Nach einer zornigen Tirade gegen den »Kolonialismus der Gläubigerländer«
folgte der Höhepunkt seiner Ansprache: »Hiermit gebe ich bekannt, daß, während
ich hier spreche, im ägyptischen Gesetzblatt die Verordnung zur Verstaatlichung
der Suezkanalgesellschaft erscheint und Regierungskräfte die Geschäftsräume des
Unternehmens beschlagnahmen.« Auf ein Signal hin besetzten Kommandos der
ägyptischen Armee die Zentrale der Kanalgesellschaft in Kairo und ihre
Niederlassungen in Ismailia, Port Said, Port Taufik und Suez. Während aus
Lautsprechern Nassers Rede übertragen wurde, feierten Zehntausende Menschen auf
der Uferstraße von Alexandria.
Die Nationalisierung des Suezkanals war der Höhepunkt zunehmender Spannungen
zwischen Ägypten und dem Westen, seit 1952 in Kairo eine Offiziersjunta den
König gestürzt und einen panarabischen, antizionistischen und nationalistischen
Kurs eingeschlagen hatte. 1954 mußte Großbritannien den Rückzug seiner Truppen
aus der Suezregion zusagen. Oberst Nasser plante die Beseitigung des
Massenelends durch ein Modernisierungsprogramm, in dessen Mittelpunkt der Bau
des Assuan-Staudammes stand. Er versuchte, die Sowjetunion gegen England und
die USA auszuspielen, um die Unabhängigkeit des Landes zu sichern. Als Nassers
Ansinnen, Waffen in den USA zu kaufen, von dortigen prozionistischen Kreisen
zurückgewiesen wurde, wandte sich der Oberst an die Sowjetunion, die im
September 1955 ein Waffengeschäft mit der Tschechoslowakei ermöglichte. Um
ihren Einfluß fürchtend, sicherten die USA und Großbritannien einen neuen
Kredit von 70 Millionen US-Dollar für den Staudammbau zu. Doch als im März 1956
auf ägyptischen Druck hin der britische General John Bagot Glubb als
Oberkommandierender der Arabischen Legion entlassen wurde, hatte sich Nasser
den britischen Premierminister Anthony Eden zum Todfeind gemacht. Als Ägypten
zwei Monate später die Volksrepublik China anerkannte, war dies ein offener
Affront gegen Washington. US-Außenminister John Foster Dulles stornierte am
19. Juli 1956 die im Vorjahr gegebene Kreditzusage. »Wir sollten den Damm auf
den Knochen von 20000 ägyptischen Arbeitern errichten, die beim Bau des Kanals
umkamen«, rechtfertigte Nasser daher die Nationalisierung des Suezkanals zur
Finanzierung des Dammbaus.
Zwar wurden britische Anteilseigner, die 44 Prozent hielten, für die Enteignung
entschädigt. Doch Großbritannien war nicht bereit, seinen Einfluß einfach
aufzugeben. »Dies ist die dritte größere Krise seit dem Ende des Zweiten
Weltkrieges und für uns in Britannien die ernsthafteste von allen«, warnte
Premier Eden, »viel ernsthafter als die Berliner Blockade oder der Koreakrieg.«
Der britische Premier ordnete den Sturz Nassers an. Die Tory-Regierung sprach
nun von »Nasser-Hitler«, um die Bevölkerung auf Krieg einzustimmen. Auch
Abgeordnete der oppositionellen Labour-Partei und der Liberalen forderten
Maßnahmen gegen Ägypten. Die britischen Konten der Kanalgesellschaft wurden
eingefroren. Unterstützung erhielt die britische Regierung von Frankreich, das
um seine Kolonien im Maghreb fürchtete, nachdem algerische Freiheitskämpfer
Waffennachschub aus Ägypten bekommen hatten.
Auf mehreren Geheimtreffen bei Paris wurde im September und Oktober 1956 die
Verschwörung gegen Ägypten vorbereitet. So trafen sich am 29. September der
französische Außenminister Christian Pineau und Verteidigungsminister Maurice
Bourges-Maunoury mit den israelischen Politikern Golda Meir, Shimon Peres und
Mosche Dajan. Frankreich und Großbritannien sicherten Israel Waffenlieferungen
sowie den Schutz des israelischen Luft- und Küstenraums zu. Bei einer gegen
Israel gerichteten Entscheidung des UN-Sicherheitsrates versprach Frankreich,
sein Veto einzulegen. Israel sollte eine Invasion in Ägypten beginnen.
Großbritannien und Frankreich würden dann als vermeintliche Friedensmächte
intervenieren und die Kanalzone besetzen.
Die »Operation Musketier« begann am 29. Oktober 1956. Unter dem Vorwand, gegen
grenzüberschreitende Aktionen palästinensischer Guerillakämpfer vorzugehen,
besetzten israelische Truppen den Gazastreifen und die Sinai-Halbinsel und
stießen in Richtung des Kanals vor. Am folgenden Nachmittag forderten die
Regierungen Frankreichs und Großbritanniens ultimativ den Rückzug der
ägyptischen Armee vom Sinai. Die ägyptischen und israelischen Truppen sollten
sich zehn Meilen vom Kanal entfernen. Allerdings war die israelische Armee zu
diesem Zeitpunkt noch rund 100 Meilen von dieser Linie entfernt. Ägypten sollte
zudem sein Einverständnis für die vorübergehende Besetzung der Kanalstädte
geben. Als Nasser das proisraelische Ultimatum zurückwies, begann die britische
und französische Luftwaffe am 31. Oktober mit der Bombardierung ägyptischer
Flughäfen. Am 5. November landeten alliierte Truppenverbände in der Kanalzone.
Beim Sturm auf Port Said wurden rund 1000 Ägypter, mehrheitlich Zivilisten,
getötet, die Stadt wurde fast vollständig zerstört. Selbst Angehörige der
verbotenen Moslembruderschaft erklärten nun ihre Bereitschaft, für Nasser zu
kämpfen. Frauen spielten bei der Zurückweisung der Aggression eine wichtige
Rolle. Sie kämpften in der Nationalgarde, organisierten den Waffenschmuggel und
bildeten in Kairo ein Frauen-Volkswiderstandskomitee.
Aufgrund der alliierten Luftüberlegenheit mußten die ägyptischen Truppen
zurückweichen. Die Aggressoren konnten sich nicht lange ihres Sieges erfreuen.
Britische Ölpipelines in Syrien wurden gesprengt, Saudi-Arabien stoppte die
Öllieferungen, der Suezkanal war durch gesunkene Schiffe unpassierbar. Die
Sowjetunion drohte militärisch einzugreifen, die UNO verurteilte die
Aggression, und selbst die USA bestanden auf einen Rückzug der
Besatzungstruppen. Vor dem Hintergrund des Ost-West-Konflikts schienen der US-Administration
gute Beziehungen zur »dritten Welt« wichtiger als die Separatinteressen
einzelner europäischer Mächte. Um Druck auszuüben, verhinderten die USA, daß
das wirtschaftlich stark angeschlagene Großbritannien eine Anleihe durch den
Internationalen Währungsfonds erhielt.
Nach sechs Wochen begannen die Invasionstruppen ihren Rückzug aus Ägypten. Die
Suezkrise wurde zu einem Wendepunkt der Nahost-Nachkriegsgeschichte. Die
israelische Regierung hatte sich als Kettenhund des Imperialismus entlarvt. Der
Angriff auf Ägypten war das letzte selbständige Aufbäumen der einstigen
Weltmacht Großbritannien, die von nun an nur noch als Juniorpartner der neuen
Weltmacht USA agieren konnte. Premierminister Eden wurde zum Rücktritt
gezwungen. Nasser dagegen ließ sich trotz seiner militärischen Niederlage als
Sieger über die Imperialisten feiern und wurde zum Hoffnungsträger der
arabischen Welt.
Als Ägyptens Präsident Nasser vor fünfzig Jahren die
Verstaatlichung des Suezkanals verkündete, hatte der 195 Kilometer lange
Schiffahrtsweg zwischen Port Said im Norden und Suez im Süden bereits eine
wechselvolle Geschichte hinter sich, die untrennbar mit der Ägyptens verbunden
ist. Im 19. Jahrhundert, zur Zeit des Kanalbaus, gehörte das Land am Nil
nominell als autonome Provinz zum Osmanischen Reich und wurde von Vizekönig
Said Pascha regiert. Der vergab 1856 die Konzessionen für Bau und Betrieb des
Kanals zwischen Mittelmeer und Rotem Meer – Laufzeit 99 Jahre nach Inbetriebnahme
– an den Franzosen Ferdinand de Lesseps, der daraufhin die von französischem
Kapital dominierte »Compagnie Universelle du Canal Maritime de Suez« gründete.
Der am 17. November 1869 nach zehn Jahren Bauzeit eingeweihte Kanal erwies sich
für Betreiber wie für Aktionäre als Quelle enormer Profite, von denen die
Heimat der ägyptischen Kanalerbauer auf Jahrzehnte hinaus – bis 1937 –
allerdings nichts abbekam. Großbritannien, das 1882 Ägypten von Truppen
besetzen und die Kanalzone zu einem Militärstützpunkt ausbauen ließ und
faktisch zu einer Kolonie machte, hatte schon 1975 die Aktienmehrheit der
Kanalgesellschaft unter seine Kontrolle gebracht.
Auch nach der formalen Unabhängigkeitserklärung der nunmehrigen
konstitutionellen Monarchie Ägypten im Jahr 1922/1923 blieben britische Truppen
im Land. 1936 beschränkte ein Bündnis- und Militärvertrag zwischen beiden
Ländern deren Anwesenheit auf die Kanalzone – für weitere 20 Jahre. Nach dem
Staatsstreich von 1952 und der Proklamation der Republik im Jahr darauf
vereinbarten London und Kairo am 19. Oktober 1954 in einem Vertrag die Räumung
der Kanalzone innerhalb von zwei Jahren, in dessen Folge am 18. Juni 1956 die
letzten britischen Soldaten das Land verließen. Die Nationalisierung der
Kanalgesellschaft beendete auch die Ägypten 1949 zugestandene
»Gewinnbeteiligung« von mageren sieben Prozent der Einnahmen.
(jW)
Aus: Rosa Luxemburg - Gesammelte Werke. Band 5. Berlin 1975.
"Die Akkumulation des Kapitals", S. 375 f.
Drei Reihen von Tatsachen, die sich ineinander verschlingen, charakterisieren
die innere Geschichte Ägyptens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts:
moderne Kapitalunternehmungen größten Stils, ein lawinenartiges Anwachsen der
Staatsschuld und der Zusammenbruch der Bauernwirtschaft. In Ägypten bestand bis
in die neueste Zeit Fronarbeit und die ungenierteste Gewaltpolitik des Wali und
nachher des Khediven in bezug auf die Grundbesitzverhältnisse. Aber gerade
diese primitiven Verhältnisse boten einen unvergleichlich üppigen Boden für die
Operationen des europäischen Kapitals. Ökonomisch konnte es sich vorerst nur
darum handeln, Bedingungen für die Geldwirtschaft zu schaffen. Diese wurden
denn auch mit direkten Gewaltmitteln des Staates geschaffen. ... Mit dem Bau
des Suezkanals hatte Ägypten bereits den Kopf in die Schlinge des europäischen
Kapitals gesteckt, aus der es ihn nicht mehr herausziehen sollte. Den Anfang
machte das französische Kapital, dem das englische alsbald auf dem Fuße folgte;
der Konkurrenzkampf beider spielt durch die ganzen inneren Wirren in Ägypten
während der folgenden 20 Jahre. Die Operationen des französischen Kapitals, das
sowohl das große Nilstauwerk in seiner Unbrauchbarkeit wie den Suezkanal
ausführte, waren vielleicht die eigenartigsten Muster der europäischen
Kapitalakkumulation auf Kosten primitiver Verhältnisse. Für die Wohltat des
Kanaldurchstichs, der Ägypten den europäisch-asiatischen Handel an der Nase
vorbei ableiten und so den eigenen Anteil Ägyptens daran ganz empfindlich
treffen sollte, verpflichtete sich das Land erstens zur Lieferung der
Gratisarbeit von 20.000 Fronbauern auf Jahre hinaus, zweitens zur Übernahme von
70 Millionen Mark Aktien gleich 40 Prozent des Gesamtkapitals der Suezkompanie.
Diese 70 Millionen wurden zur Grundlage der riesigen Staatsschuld Ägyptens, die
zwanzig Jahre später die militärische Okkupation Ägyptens durch England zur
Folge hatte.