junge Welt 17.08.2007 / Thema / Seite 10
Vom 18. bis zum 24. August 1907 versammelte sich in Stuttgart ein
Weltparlament des Proletariats. Erstmals war die deutsche
Sozialdemokratie Gastgeberin eines Sozialistenkongresses der in
der Zweiten Internationale zusammengeschlossenen sozialistischen
Parteien.
In den drei Jahren seit dem vorangegangen
Amsterdamer Kongreß von 1904 war es weltweit zu einer
Zuspitzung der Klassenkämpfe gekommen. 1905 erlebte das deutsche
Kaiserreich das bis dahin größte Streikjahr seiner
Geschichte. Die Marokko-Krise Ende März 1905 hatte die Gefahr
eines Krieges um koloniale Interessen zwischen den Großmächten
deutlich werden lassen, und in der deutschen Kolonie Südwestafrika
tobte bis zum Sommer 1907 ein blutiger Kolonialkrieg gegen die
aufständischen Nama. Die russische Revolution von 1905 hatte die
Wirksamkeit von Massenstreiks und Arbeiterräten unter Beweis
gestellt. In Persien, der Türkei und China kam es zu
tiefgreifenden Erschütterungen der Feudalordnung und in
Afghanistan, Indien, Indonesien sowie in Lateinamerika zu einem
Aufschwung antiimperialistischer Befreiungsbewegungen. Angesichts
dieser veränderten Weltlage mußten die Sozialisten ihre
Positionen neu bestimmen.
Stuttgart bot sich als Kongreßort
an, da die Sozialdemokratie dort über eine besondere
organisatorische Stärke verfügte und sich die
württembergische Regierung im Vergleich zu Preußen liberal
zeigte. Den Delegierten wurden für ihre Tagung die Stuttgarter
Liederhalle und der Wartesaal Erster Klasse des Bahnhofs zur
Verfügung gestellt. Das Wohlwollen der Landesregierung war
jedoch teuer erkauft. Unter Bruch aller Prinzipien hatte die
Sozialdemokratie im Landtag erstmals dem Budget einer bürgerlichen
Regierung zugestimmt. »Mir wurden vertraulich Andeutungen
gemacht, daß es jetzt nicht ratsam sei, bei der Etatabstimmung
mit einem Nein gegen die Regierung zu demonstrieren«,
rechtfertigte sich der Landtagsabgeordnete Wilhelm Keil. »Könnte
es nicht, wenn wir jetzt die Regierung reizten, nachteilige Folgen
für den Verlauf des Kongresses haben? Mit dieser Erwägung
trat ich an die Fraktion heran, und nach wenigen Minuten war
beschlossen, diesmal für den Etat zu stimmen ohne besondere
Motivierung.«1 Dieser Sieg des Revisionismus auf ganzer Linie –
wie der Parteivorsitzende August Bebel kritisierte – war eine
Vorwegnahme der scharfen Auseinandersetzungen zwischen Marxisten und
Reformisten auf dem Kongreß.
884 Delegierte von
Arbeiterorganisationen aus 25 Ländern von allen Kontinenten
hatten sich zur Eröffnungsveranstaltung am Sonntag, den 18.
August, in der Liederhalle versammelt. Darunter waren auch Delegierte
aus Japan, Indien und Südafrika. Neben international bekannten
Sozialisten wie dem Franzosen Jean Jaurès oder Rosa Luxemburg
nahm erstmals Wladimir Iljitsch Lenin an einem internationalen
Kongreß teil. Die deutsche Delegation war mit 289 Mitgliedern,
die je zur Hälfte von der Partei und den Gewerkschaften benannt
worden waren, bei weitem die stärkste. August Bebel hielt die
Eröffnungsansprache in dem in festlich-revolutionärem Rot
gehaltenen, mit zahlreichen Blumen und großen Büsten von
Marx und Lassalle geschmückten Saal.
Am Nachmittag
beteiligten sich die Delegierten an einer Massenkundgebung auf dem
Cannstatter Wasen in den Neckarauen. Die sozialdemokratische
Parteizeitung Vorwärts berichtete: »Nicht nur die
Arbeiter, sondern auch ein Großteil des Bürgertums war auf
den Beinen und nicht nur aus Stuttgart, sondern aus der näheren
und weiteren Umgebung war viel Volk nach der schwäbischen
Hauptstadt gekommen. Ja, aus ganz Württemberg waren Deputationen
von den politischen Organisationen und Gewerkschaften entsandt.
Vielfach hatten sie ihre Fahne und eine Musikkapelle mitgebracht, und
so entfaltete sich ein festlich bunt bewegtes Treiben.« 23
Redner aus 14 Ländern – darunter Paul Singer aus
Deutschland, der ehemalige Pariser Kommunarde Edouard Vaillant und
der »Vater des russischen Marxismus«, Georgi Plechanow –
sprachen ohne Megaphone von sechs auf Bierwagen errichteten Tribünen
zu den 60000 Kundgebungsteilnehmern. Clara Zetkin wies als
Moderatorin darauf hin, daß auf dem Versammlungsplatz, »wo
gewöhnlich die kapitalistischen Klassen ihr Kriegsheer
einexerzieren, heute die rote Internationale exerziert«.2
Abschließend forderte sie die Teilnehmer auf, »des
größten Ereignisses unserer Zeit, der russischen
Revolution [zu] gedenken«, wie es in den Kongreßprotokollen
heißt (S.6; alle Zitate daraus sind mit Seitenzahlen im Text
angegeben). Während der gesamten Kundgebung war kein Polizist
auf dem Festplatz zu sehen. »Die Massen aber zogen in derselben
Ruhe und Ordnung ab, wie sie gekommen waren, froh bewegt von dem
Stolze über die Kraft der proletarischen Aktion und der Freude
über die trefflich verlaufende Demonstration für
Völkerfrieden und Volksbefreiung«, hieß es im
Vorwärts.
Die Tagesordnung des Kongresses umfaßte die fünf
Themen: »Militarismus und die internationalen Konflikte«,
»Beziehungen zwischen den politischen Parteien und
Gewerkschaften«, »Kolonialfrage«, »Ein- und
Auswanderung der Arbeiter« und »Frauenstimmrecht«.
In Kommissionen wurden die Resolutionen diskutiert, überarbeitet
und anschließend von Berichterstattern zur Abstimmung im großen
Plenum gestellt. Bei der Abstimmung wurde nach Ländern
abgestimmt, die je nach ihrer Größe über
unterschiedliche Stimmenkontingente verfügten.
Angesichts
rapider Hochrüstung und Kriegsgefahr hatte die Debatte zum
Militarismus besondere Bedeutung. Eine von Jean Jaurès
eingebrachte Resolution der französischen Sozialisten forderte
»die Verhütung und Verhinderung des Krieges [...] durch
nationale und internationale sozialistische Aktionen der
Arbeiterklasse mit allen Mitteln, von der parlamentarischen
Intervention, der öffentlichen Agitation bis zum Massenstreik
und zum Aufstand« (S. 86).
Ein von Bebel vorgelegter
Gegenresolutionsentwurf verurteilte zwar den Krieg als im Wesen des
Kapitalismus liegend, doch es fehlten praktische Schritte zur
Kriegsverhinderung. Die einzige Waffe, mit der Bebel seine
»Todfeindschaft« zum herrschenden System ausdrücken
wollte, war die Ablehnung des Haushalts durch die sozialdemokratische
Parlamentsfraktion. Der nächste Krieg würde zum
Zusammenbruch der bürgerlichen Gesellschaft führen, bis
dahin gelte es, »aufzuklären und Licht in die Köpfe
zu bringen und zu organisieren« (S. 100). Ein Generalstreik sei
dagegen »Generalunsinn«, der die Existenz der Partei
gefährde. Zu diesem Mittel dürfe nur bei einem Anschlag auf
das allgemeine Wahlrecht gegriffen werden. Der linksradikale
französische Delegierte Gustave Hervé warf den deutschen
Sozialdemokraten daher vor, nur noch »Wahl- und Zahlmaschinen«3
zu sein, die mit dem Stimmzettel die Welt erobern wollten.
Am
19. und 20. August hatte erstmals ein inoffizielles Treffen von
Vertretern des marxistischen Flügels der Internationale
stattgefunden, an dem sich unter anderem Lenin sowie aus Deutschland
Rosa Luxemburg und Georg Ledebour beteiligten. Gemeinsam mit dem
Vordenker der russischen Menschewiki Julius Martow brachten Lenin und
Luxemburg erfolgreich Änderungsanträge für die
Bebelsche Resolution in die Kommission ein. Im vom Kongreß
verabschiedeten Kompromißvorschlag wurden die Arbeiter und ihre
parlamentarischen Vertreter ohne Nennung näherer Kampfformen
aufgefordert, »alles aufzubieten, um durch die Anwendung der
ihnen am wirksamsten erscheinenden Mittel den Ausbruch des Krieges zu
verhindern, die sich je nach der Verschärfung des Klassenkampfes
und der Verschärfung der allgemeinen politischen Situation
naturgemäß ändern« (S. 66). Angenommen wurde
auch die von den Linken eingebrachte Ergänzung, im Kriegsfall
»für dessen rasche Beendigung einzutreten und mit allen
Kräften dahin zu streben, die durch den Krieg herbeigeführte
wirtschaftliche und politische Krise zur Aufrüttelung des Volkes
auszunutzen und dadurch die Beseitigung der kapitalistischen
Klassenherrschaft zu beschleunigen« (ebd.).
Der
Stuttgarter Kongreß klärte auch die Frage nach dem
Verhältnis von sozialistischen Parteien und Gewerkschaften.
Insbesondere die zahlreichen Gewerkschaftsfunktionäre auf dem
rechten Flügel der Sozialdemokratie forderten die Neutralität
der Gewerkschaften, um sich in ihrer reformerischen Tagesarbeit nicht
von sozialistischen Programmforderungen einengen zu lassen. Dies
wurde von der Mehrheit der Kongreßdelegierten zugunsten der
Forderung nach dauerhaften und engen Beziehungen zwischen
Gewerkschaften und sozialistischen Parteien verworfen. Dabei gehe es
nicht um Befehl und Unterordnung, sondern um gegenseitige Abstimmung
und moralische Förderung. In der zur Abstimmung gebrachten
Kompromißresolution hieß es: »Zur vollständigen
Befreiung des Proletariats aus den Fesseln geistiger, politischer und
ökonomischer Knechtschaft ist der politische und wirtschaftliche
Kampf der Arbeiterklasse im gleichen Maße notwendig. Obliegt
die Organisierung und Führung des politischen Kampfes des
Proletariats der Sozialdemokratie, so ist es Aufgabe der
gewerkschaftlichen Organisation, den wirtschaftlichen Kampf der
Arbeiterklasse zu organisieren und zu leiten« (S.
106).
Bereits einen Tag vor Beginn des Kongresses hatten sich
58 weibliche Delegierte aus 15 Ländern in der Liederhalle zur
Ersten Internationalen Sozialistischen Frauenkonferenz versammelt.
»Die Internationale Sozialistische Frauenkonferenz beansprucht
neben den anderen internationalen Beratungen nur ein bescheidenes
Plätzchen. Sie ist ein erster tastender Versuch, zwischen den
organisierten Sozialistinnen der verschiedenen Länder eine
regelmäßige Fühlung zu schaffen«, resümierte
Clara Zetkin in der Frauenzeitschrift Die Gleichheit.
Der
Kampf um das Frauenwahlrecht bildete auch einen Tagesordnungspunkt
auf dem Sozialistenkongreß. Es handle sich nicht um eine
frauenrechtlerische Forderung, sondern um eine Klassen- und
Massenforderung des Proletariats, so Zetkin. »Die
sozialistischen Frauen werten das Frauenstimmrecht nicht als die
Frage der Fragen, deren Lösung all die sozialen Hemmnisse
beseitigt, welche für die freie, harmonische Lebensentwicklung
und Lebensbetätigung des weiblichen Geschlechts bestehen. Denn
es rührt nicht an die tiefsten Ursachen desselben: an das
Privateigentum, in welchem die Ausbeutung und Unterdrückung
eines Menschen durch einen anderen Menschen wurzelt.«4
Die
Delegierten beschlossen, daß der Wahlrechtskampf »nur
nach den sozialistischen Prinzipien geführt werden soll, also
mit der Forderung des allgemeinen Wahlrechts für Frauen und
Männer« (S. 40). Damit wurde die opportunistische
Erklärung österreichischer Sozialdemokraten zurückgewiesen,
zuerst nur für das allgemeine und gleiche Wahlrecht der Männer
zu kämpfen und die Forderung nach dem Frauenwahlrecht aus
taktischen Erwägungen zurückzustellen.
Während des Sozialistenkongresses gründeten zudem 20
Jugendvertreter aus 13 Ländern die Sozialistische
Jugendinternationale. Neben ihrem Eintreten für bessere
Arbeitsverhältnisse und gegen die Diskriminierung der
arbeitenden Jugend machte die Jugendinternationale den Kampf gegen
die Kriegsgefahr zu ihrem Schwerpunkt. Mit der Wahl Karl Liebknechts,
gegen den wegen seiner Broschüre »Militarismus und
Antimilitarismus« ein Hochverratsverfahren eingeleitet worden
war (siehe jW vom 26.3.2007), zum Vorsitzenden des Internationalen
Büros stellte sich die Jugendinternationale demonstrativ hinter
dessen auch in der deutschen Sozialdemokratie umstrittenes
antimilitaristisches Programm.
Vorangegangene
Sozialistenkongresse hatten jeglichen Kolonialismus als
Ausplünderungs- und Gewaltpolitik auf das Schärfste
verurteilt. In Stuttgart wurde dagegen die Kolonialkommission von
Vertretern des rechten Flügels der Internationale dominiert. In
der vorgeschlagenen Resolution hieß es, der Kongreß
verwerfe »nicht prinzipiell und für alle Zeiten jede
Kolonialpolitik, die unter sozialistischem Regime zivilisierend wird
wirken können« (S. 112).
Sozialisten dürften
sich nicht auf bloße Proteste gegen Kolonialgreuel beschränken,
sondern müßten ein positives Reformprogramm für die
Kolonien haben, forderte der Niederländer Henri van Kol als
Berichterstatter der Kommission. Die Kolonien seien für die
gegenwärtige Gesellschaftsordnung wegen ihrer Rohstoffe, als
Absatzmarkt für Industrieprodukte sowie als Auswanderungsgebiet
für die Überbevölkerung aus Europa unentbehrlich.
Rechte deutsche Sozialdemokraten kritisierten die ablehnende Haltung
der Parteilinken gegenüber jedem Kolonialismus als unfruchtbaren
negativen Standpunkt. »Wir müssen von der utopischen Idee
abkommen, die dahin geht, die Kolonien kurzweg zu verlassen«,
so der führende Kopf der »Revisionisten«, Eduard
Bernstein. »Eine gewisse Vormundschaft der Kulturvölker
gegenüber Nichtkulturvölkern ist eine Notwendigkeit, die
auch Sozialisten anerkennen sollten« (S. 28). Und sein
Parteigenosse Eduard David warnte, wenn die Kolonien zurück in
die Hände der Eingeborenen gegeben würden, sei dies ein
Rückfall in die Barbarei. Diese Haltung, mit der etwa auch
heutige Sozialdemokraten gegen einen Abzug deutscher Truppen aus
Afghanistan argumentieren, stieß auf den scharfen Widerspruch
der Kommissionsminderheit um den deutschen Delegierten Georg Ledebour
sowie von polnischen, russischen und anderen Sozialisten.
Karl
Kautsky, der führende Theoretiker der Internationale, legte sein
ganzes Gewicht in die Waagschale und appellierte an die Delegierten,
sich gegen die auch von der Mehrheit der deutschen Delegation
getragene prokolonialistische Resolution auszusprechen. »Zur
Erörterung auf dem Kongreß stehe die heutige
Kolonialpolitik«, gab Lenin Kautskys Argumentation in einem
Kongreßbericht wieder, »diese Politik aber fuße auf
direkter Knechtung der Wilden: die Bourgeoisie führe faktisch in
den Kolonien die Sklaverei ein, setze die Eingeborenen unerhörten
Mißhandlungen und Vergewaltigungen aus, ›zivilisiere‹
sie durch die Verbreitung von Schnaps und Syphilis« (LW 13, S.
67). Angesichts dieser Sachlage von der Möglichkeit einer
prinzipiellen Anerkennung der Kolonialpolitik zu reden, bedeute den
direkten Übergang zum bürgerlichen Standpunkt und zur
Unterordnung des Proletariats unter die Ideologie des
Imperialismus.
Der Kommissionsantrag wurde mit einer Mehrheit
von 128 zu 108 Stimmen zu Fall gebracht. Statt dessen stimmten die
Delegierten bei Stimmenthaltung Hollands für eine Resolution,
die die Kolonialpolitik verurteilte und die sozialistischen
Abgeordneten verpflichtete, Ausbeutung und Knechtschaft in den
Kolonien zu bekämpfen, für Reformen einzutreten, die das
Los der Eingeborenen verbessern und »an ihrer Erziehung zur
Unabhängigkeit zu arbeiten« (S. 39 f.).
Die
materielle Grundlage dieses in einem knappen Abstimmungsergebnis
deutlich gewordenen Vordringens des Opportunismus unter
Sozialdemokraten imperialistischer Länder sind die Extraprofite
aus kolonialer Ausbeutung. Eine »Arbeiteraristokratie«
wird durch einen so finanzierten besseren Lebensstandard korrumpiert.
Darauf wies Lenin in seinem Kongreßbericht hin.
Zu
scharfen Auseinandersetzungen kam es auch in der Frage der
Arbeitsmigration. Insbesondere Gewerkschaftsvertreter forderten eine
Beschränkung der Migration, um die Masseneinfuhr von
Billiglohnarbeitern in der Schiffahrt, der Landwirtschaft und dem
Bergbau zu verhindern. »Unmöglich können wir zugeben,
daß in Ländern mit hochentwickelter Arbeiterbewegung die
Errungenschaften jahrzehntelanger politischer und gewerkschaftlicher
Organisation mit einem Schlage illusorisch gemacht werden durch
Masseneinwanderung fast völlig bedürfnisloser Arbeiter«
(S. 120), warnte der deutsche Delegierte Friedrich Päplow. Als
»durchaus unsozialistisch« verwarf dagegen Julius Hammer
von der Sozialistischen Arbeiterpartei der USA einen
Resolutionsentwurf zur Einwanderungsbeschränkung für
japanische und chinesische Arbeiter. Auch solche Arbeiter lernten den
Kapitalismus kennen und bekämpfen und könnten organisiert
werden. »Ich bitte Sie, in keine gesetzlichen Beschränkungen
der Ein- und Auswanderung einzuwilligen. Wir müssen eine große
Nation der Ausgebeuteten bleiben« (S. 117), appellierte der
US-Sozialist.
Der rechte Flügel der Internationale
konnte sich mit der Forderung nach Einwanderungskontrolle nicht
durchsetzen. Der Kongreß sprach sich statt dessen für die
Abschaffung aller Beschränkungen aus, welche bestimmte
Nationalitäten oder Rassen vom Aufenthalt in einem Lande und den
sozialen, politischen und ökonomischen Rechten der Einheimischen
ausschließe. Einziges Zugeständnis an die Rechten war die
Forderung nach einem Einreisestopp für Arbeiter, die bereits in
ihren Heimatländern einen Kontrakt unterschrieben hatten und so
nicht mehr frei über ihre Arbeitskraft verfügten. Dies
betraf allerdings zum Beispiel Hunderttausende in der deutschen
Landwirtschaft beschäftigte Polen.
Wie die Reaktionen auf Oskar
Lafontaines umstrittene »Fremdarbeiter-Rede« zeigen,
spaltet die Frage »offene Grenzen oder staatliche
Einwanderungskontrollen« auch heute die Linke in
Internationalisten und Anhänger eines nationalen Reformismus.
»Das ist derselbe Geist des Aristokratismus unter Proletariern
einiger ›zivilisierter‹ Länder, die aus ihrer
privilegierten Lage gewisse Vorteile ziehen und daher geneigt sind,
die Forderungen internationaler Klassensolidarität zu
vergessen«, hatte Lenin 1907 die »zünftlerische und
spießbürgerliche Beschränktheit« dieses Rufes
nach Zuwanderungsbeschränkungen gegeißelt (LW 13, S.
71).
Die Abstimmung zur Kolonial- und Migrationsfrage
hatte das rapide Vordringen bürgerlicher Ideologie in der
sozialistischen Bewegung deutlich gemacht. Bei der Diskussion zur
Antikriegspolitik zeigte sich der Übergang des einstmals linken
Parteiführers August Bebel in das Lager des Opportunismus, wo
Parlamentsmandate mehr zählten als außerparlamentarischer
Kampf. Auf dem Papier hatten die Linken zwar in allen Fragen noch
einmal einen Sieg davongetragen. Doch letztlich blieben die
Resolutionen unverbindliche Absichtserklärungen, die eine
weitere Entwicklung der Sozialdemokratie zu bürgerlichen
Arbeiterparteien nicht mehr aufhalten konnten. Dies verdeutlicht eine
vom Kongreßteilnehmer Leo Trotzki geschilderte Episode am Rande
des Kongresses. Weil der englische Delegierte Harry Quelch in seiner
Rede die in Den Haag auf einer »Friedenskonferenz«
tagenden bürgerlichen Regierungsvertreter als »Versammlung
von Räubern« bezeichnet hatte, ließ ihn die
württembergische Regierung auf Druck der Reichsregierung aus
Deutschland ausweisen – ohne großen Protest der
versammelten Sozialdemokraten. »Der internationale Kongreß
ähnelte einem Schulzimmer: Man weist einen ungebührlichen
Schüler aus der Klasse, die übrigen Schüler schweigen.
Hinter den mächtigen Zahlen der deutschen Sozialdemokratie
verspürt man deutlich einen Schatten der Ohnmacht.«5
1
Wilhelm Keil, Erlebnisse eines Sozialdemokraten, Stuttgart 1947,
240f.
2 Internationaler Sozialisten-Kongreß zu Stuttgart
18.–24.August 1907, Berlin 1907, S. 5.
3 Zit. nach
Jaques Droz, Einfluß der deutschen Sozialdemokratie auf den
französischen Sozialismus (1871–1914), Opladen, S. 15
4
Clara Zetkin, Ausgewählte Reden und Schriften, Bd. 1, Berlin
1957, S. 345
5 Leo Trotzki, Mein Leben, Berlin 1930, S.
196
Das Bündnis »Internationaler Socialisten
Congress 2007« führt bis zum 22.9.2007 diverse Tagungen
durch. Informationen dazu finden Sie unter socialistencongress.com