Der neue
Agent
Nick BRAUNS
Über die Ernennung von
Silan Selen zum Vizepräsidenten des
Verfassungsschutzes und die Geheimdienstkooperation mit der Türkei
Der in der Presse als
„Terrorismusexperte“ gerühmte Jurist Sinan Selen soll neuer Vizepräsident des
Bundesamtes für Verfassungsschutz werden. Das meldete das Nachrichtenmagazin
Focus im November mit dem Hinweis, dass der türkischstämmige Ex-Polizist „der
erste Topbeamte mit Migrationshintergrund innerhalb der deutschen
Sicherheitsbehörden“ sei. Wann genau Selen seinen Dienst antritt, steht noch
nicht fest. Doch an diesem Mittwoch wird die Personalie nach Informationen der
Süddeutschen Zeitung Thema im Bundeskabinett sein.
Der heute 46-jährige
Selen, der in Istanbul geboren wurde, kam bereits als Vierjähriger mit seinen
Eltern als Arbeitsmigranten nach Deutschland und gilt laut Medienberichten als
überaus säkular eingestellt. Doch bei der extrem rechten Alternative für
Deutschland (AfD) und der islamfeindlichen Pegida-Bewegung ist das Geschrei groß. Denn das
rechtsextrem-völkische Milieu sieht Islamisierung und Untergang des Abendlandes
nahen, weil ein vermeintlicher Muslim zweiter Mann einer Bundesbehörde werden
soll.
Dagegen besteht unter
linken türkischen und kurdischen Exiloppositionellen in der Bundesrepublik eher
die Befürchtung eines noch engeren Schulterschlusses der deutschen und
türkischen Sicherheitsbehörden zu ihren Lasten.
Selen begann seine
Karriere im Jahr 2000 beim Bundeskriminalamt. 2009 wechselte er zur
Bundespolizei und dann 2011 ins Bundesministerium des Inneren, wo er als
Referatsleiter für die internationale Terrorismusabwehr verantwortlich war. Vor
dem Hintergrund der Aushandlung des Flüchtlingsdeals zwischen der EU und
Erdogan vereinbarten die Innenminister Deutschlands und der Türkei im Januar
2016 einen neuen Mechanismus zur Terrorismusbekämpfung. Zur Koordination der
Antiterrorkooperation wurden sogenannte „Sherpas“ – also Unterhändler – beider
Regierungen ernannt. Für die deutsche Seite war das Selen. Sicherlich wurde
Selen auch aufgrund seines türkischen Migrationshintergrunds mit entsprechenden
Sprach- und Kulturkenntnissen für diese Stellung ausgewählt, doch es war auch
eine Geste der ausgestreckten Hand an Ankara. Die Bundesregierung erhoffte sich
ja zu diesem Zeitpunkt Zugeständnisse im Rahmen des EU-Türkei-Flüchtlingsdeals.
Während der Deal wie
geplant zustande kam hielt es Selen indessen nicht allzu lange auf seinem
Sherpa-Posten. Stattdessen wechselte er in die Privatwirtschaft als Leiter der
Konzernsicherheit beim Reiseriesen TUI, wo ihn nun erneut der Ruf des Staates
ereilte mit dem Angebot, künftig der zweite Mann beim Inlandsgeheimdienst zu
sein. Denn der bisherige Vizepräsident Thomas Haldenwang
ist ja jetzt an die Spitze des Geheimdienstes vorgerückt, nachdem der bisherige
Präsident Hans-Georg Maaßen wegen seiner verharmlosenden Äußerungen im
Zusammenhang mit rechtsextremen Aufmärschen in Chemnitz für die
Regierungskoalition nicht mehr tragbar war.
Mit der geplanten
Ernennung Selens auf diese Position verfolgt die Bundesregierung wohl zwei
Ziele. Zum einen soll so das Vertrauen von Bürgern mit Migrationshintergrund in
den Geheimdienst wieder hergestellt werden. Denn dieses hatte arg gelitten
durch die zwielichtige Rolle des Verfassungsschutzes im neonazistischen Milieu,
wo V-Leute des Geheimdienstes eher zum Schutz und zur Stärkung rechter und
rechtsterroristischer Gruppierungen wie der NPD oder der mörderischen
NSU-Terrorzelle beitrugen als zur Aufklärung über derartige Umtriebe. Zum
anderen ist die Wahl des früheren „Sherpa“ auch ein Signal an die Türkei, dass
im vergangene Jahr zumindest an der Oberfläche erschütterte
Vertrauensverhältnis zwischen beiden Ländern weiter zu verbessern. Dass diese
Botschaft angekommen ist, zeigt der Jubel in der deutschsprachigen
Online-Ausgabe des AKP-Blattes Sabah über Selens Ernennung. „Nach den
Skandalen um den Verfassungsschützpräsidenten
Hans-Georg Maaßen und dem umstrittenen NSU-Prozess wird Selens Ernennung zum
Vize als wichtiger Schritt betrachtet.“
Der frühere Verfassungsschutzchef
Maaßen galt als Kritiker der türkischen Politik –allerdings aus einer rechten,
islamfeindlichen Position heraus. So gelangte im August 2016 eine eigentlich
nicht für die Öffentlichkeit bestimmte Antwort des Bundesinnenministeriums auf
eine Kleine Anfrage der Linksfraktion an die Medien. Darin hieß es, die Türkei
habe sich als „Resultat der vor allem seit dem Jahr 2011 schrittweise
islamisierten Innen- und Außenpolitik Ankaras zur zentralen Aktionsplattform
für islamistische Gruppierungen der Region des Nahen und Mittleren Ostens
entwickelt“. Benannt wurden namentlich die Muslimbruderschaft,
die palästinensische Hamas und die bewaffnete islamistische Opposition in
Syrien.
Im
Verfassungsschutzbericht des Bundes für das Jahr 2017 wurden dann der dem
Religionsamt der türkischen Regierung unterstehende Moscheendachverband
DITIB und die AKP-Lobbyvereinigung UETD im Kapitel über Spionageaktivitäten
benannt. Diese explizite Benennung der Aktivitäten eines befreundeten
NATO-Geheimdienstes in einem Kapitel, das sich ansonsten der Agententätigkeit
von vermeintlichen „Schurkenstaaten“ wie Russland oder Iran widmet, durfte
ebenso wie das Verbot der rockerähnlichen Vereinigung Osmanen Germania als
Warnschuss in Richtung Ankara verstanden werden, sich aus der deutschen
Innenpolitik herauszuhalten. Welche Haltung das zukünftige Führungsduo des
Verfassungsschutzes Haldenwang-Selen bezüglich der
Türkei und der türkischen Geheimdienstaktivitäten in Deutschland einnehmen
wird, bleibt abzuwarten.
Die Befürchtung wonach
es nun zu einer noch schärferen Verfolgung der kurdischen Freiheitsbewegung und
türkeistämmiger Revolutionäre kommen könnte, ist allerdings realistisch. Das
entspricht der Logik der primär an wirtschaftlichen und geopolitischen
Interessen orientierten Beziehungen zwischen den herrschenden Klassen
Deutschlands und der Türkei.
Die türkische
Regierung fordert von Berlin die Auslieferung führender Kader der
Gülen-Bewegung wie des früheren Staatsanwalts Zekeriya Öz
oder des mutmaßlich in den Putschversuch vom Juli 2016 verwickelten
„Luftwaffenimam“ Adil Öksüz. Doch die Bundesregierung
hält ihre schützende Hand über die Gülen-Sekte, die hierzulande nicht als
terroristisch eingestuft wird, obwohl Bundesbehörden intern durchaus schwere
Vorwürfe gegen das Netzwerk um den pensionierten Imam Fethullah
Gülen erheben. So heißt es in einem dem Nachrichtenmagazin SPIEGEL vorliegenden
internen Bericht der deutschen Botschaft in Ankara vom Februar 2018 unter
Berufung auf türkische Informanten, die Gülen-Bewegung habe jahrzehntelang die
„gezielte Unterwanderung staatlicher Institutionen“ in der Türkei betrieben.
Der „konspirative Teil der Bewegung“ zeichne sich durch „strikte Hierarchien
aus und erinnert in seiner Struktur an Erscheinungsformen organisierter
Kriminalität”. Dass die Bundesregierung trotz einer solchen negativen
Einschätzung ihre Haltung zur Gülen-Bewegung nicht verändert hat, zeigt der
Beschluss der Regierungskoalition vom November 2018, das maßgeblich vom Forum
für interkulturellen Dialog (FID) initiierte Bauprojekt „Haus of One“ in Berlin mit 10
Millionen Euro zu unterstützen. Ehrenvorsitzender des FID ist Fethullah Gülen.
Umgekehrt hat die
türkische Regierung kein wirkliches Interesse daran, gegen die von der
Bundesregierung als primäre terroristische Gefahr eingestuften Gruppierungen
Islamischer Staat (IS) und Al Qaida vorzugehen. Denn deren Kämpfer dienen als
Söldner für die neoosmanischen Eroberungspläne Erdogans
in Syrien. In einer im November vom niederländischen Geheimdienst AIVD auf
seiner Website veröffentlichten Studie heißt es, die Türkei diene dem IS und Al
Qaida weiterhin als strategische Basis, „um sich zu erholen, zu reorganisieren
und den Untergrundkampf in der Region zu führen“. Da die türkische Regierung
den Kampf gegen die PKK priorisiere während sie die dschihadistischen
Gruppen nicht als Sicherheitsrisiko betrachte, hätten IS und Al Qaida genug
„Luft und Bewegungsfreiheit“ innerhalb der Türkei.
Gemeinsame
Schnittmenge in der deutsch-türkischen Antiterrorzusammenarbeit bleiben unter
Ausschluss der Gülen-Bewegung einerseits und Al Qaida sowie des IS andererseits
die anatolischen und kurdischen Linken. Die Gefahr, dass die Repression gegen
die PKK, die DHKP/C, die TKP-ML und andere linke Gruppierungen in Deutschland
weiter zunimmt, um Ankara wohlgesonnen zu stimmen, besteht so unabhängig von
der Personalie Selen. Selen ist in erster Linie ein Beamter an der Spitze einer
deutschen Sicherheitsbehörde. Daran sollte er gemessen werden und nicht an
seiner Herkunft. Es wäre die Methode der völkischen Rechten – von AfD und Pegida in Deutschland
sowie von AKP und Grauen Wölfen in der Türkei – die Kritik an einer Person an
deren ethnischer Herkunft festzumachen.
Der nicht grundlos bei
großen Teilen der Bevölkerung negativ beleumundete Verfassungsschutz wird nicht
besser oder schlechter durch den neuen Vizepräsidenten. Die Politik des
Inlandsgeheimdienstes ergibt sich aus seiner Aufgabe als Hüter der bürgerlich-kapitalistischen
Ordnung. Dass ein demokratisch nicht kontrollierbarer Geheimdienst mit dem
Schutz der Verfassung betraut wird, ist ein Paradox, an dem eine Personal- oder
Strukturreform des Dienstes nichts Wesentliches ändern wird. Daher fordert die
Fraktion DIE LINKE. im Bundestag sowie außerparlamentarisch tätige
Gruppierungen wie die Interventionistische Linke (IL)
konsequenterweise die Auflösung des Verfassungsschutzes als Geheimdienst.
Yeni Özgür Politika 18.12.2018