Der Kommandant der türkischen Militärpolizei »Jandarma«
empfängt uns am Checkpoint auf der Straße von Van nach Hakkari mit dem Gestus
eines Kolonialoffiziers: »Was wollen Sie in Hakkari? Dort leben nur Terroristen
und Barbaren. Fahren Sie lieber nach Antalya. Das ist für Touristen.«
Die im iranisch-irakischen Grenzgebiet gelegene Provinz Hakkari ist das
Armenhaus der Türkei. 7121 Quadratmeter groß, 266061 Einwohner. »Die Gegend von
Hakkari ist die gebirgigste, verlassenste Ecke unseres Landes. Sie ist umgeben
von unzugänglichen Bergen ohne Straßen. Die Berge, die das Gebiet von allen
Seiten einschließen, erreichen eine Höhe von bis zu 4000 Metern«, heißt es
einem alten Tourismusführer der Zeitung Milliyet. »An vielen Orten verwandeln
sich die Täler zu engen Schluchten. Zu den kleinen Ortschaften und Dörfern
fahren nicht einmal im Sommer Motorfahrzeuge.«
Im Herbst 2005 erschütterte eine Serie von Bombenexplosionen Hakkari. Zentrum
der Anschläge war Semdinli, die entlegenste Stadt der Türkei nahe der
iranischen Grenze. Zuerst wurde am Weltfriedenstag, dem 1. September, eine
Handgranate geworfen. Zwei Monate später detonierte ein in einem Lastwagen
versteckter 100-Kilo-Sprengsatz vor einer Ladenpassage. Ein Krater in der
Straße und die Ruine des Gebäudes zeugen immer noch von der Wucht der
Detonation, die 23 Menschen verletzte. Am 9. November dann flog eine
Handgranate in den nur wenige Meter neben dem zerstörten Ladenzentrum gelegenen
Buchladen »Umut« (Hoffnung). Ein Besucher wurde dabei getötet, 15 weitere
Menschen verletzt.
Das Besondere diesmal: Passanten gelang es, die fliehenden Attentäter zu
stellen. Ihre Ausweise wiesen sie als Unteroffiziere des Militärgeheimdienstes
aus. Auch ein Überläufer aus der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) wurde gefaßt.
Im Fluchtwagen befanden sich neben Waffen und Anschlagsplänen eine Liste mit
Namen von 105 Personen, die angeblich die verbotene PKK unterstützten. Ganz
oben stand rot markiert: »Seferi Yilmaz« – Yilmaz, der Buchhändler.
Nun kam es in Semdinli, Hakkari, Yüksekova und anderen kurdischen Städten zum
Aufstand. Barrikaden wurden errichtet, Panzer mit Molotowcocktails in Brand
gesetzt und eine Polizeistation gestürmt. Die Polizei schoß in die Menge und
tötete mehrere Menschen. Die größten Demonstrationen mit bis zu 80000
Teilnehmern fanden in der Stadt Yüksekova statt. An der Fassade des
Zagros-Einkaufszentrums erinnern hier noch Einschüsse an die Straßenschlachten.
Der Schriftzug »Zagros«, der kurdische Name eines Gebirges, mußte inzwischen
auf Veranlassung der Armee abmontiert werden.
In dieser Ecke der Türkei haben insbesondere die Jugendlichen nichts mehr zu
verlieren. »Mit der Schule sind wir fertig«, antworten sie auf die Frage
danach, was sie denn arbeiten. Und weiter: »Wir sind Anhänger von Abdullah
Öcalan.« Für den auf der Gefängnisinsel Imrali inhaftierten PKK-Führer würden
sie ihr Leben geben, behaupten sie und nennen den 1999 aus Kenia in einem
Geheimdienstkomplott Verschleppten »Apo« – ihr Synonym für ein besseres Leben.
Die Fahrt von Yüksekova nach Semdinli führt einige Kilometer
über eine breite, schnurgerade Straße. Die Piste war einst ein geheimer
Flughafen der USA im zweiten Golfkrieg zu Beginn der 1990er Jahre. Bei einem
Angriff auf den Iran würde Washington sie reaktivieren wollen. Doch das hängt
letztlich von der Türkei ab.
Die lebhafte Kleinstadt Semdinli liegt inmitten hoher, schneebedeckter Berge.
Durch Schmuggel sind einige Einwohner zu Wohlstand gekommen. Männer in weiten
Pluderhosen mit um den Kopf gewickelten Tüchern lehnen an geländegängige
Pickups oder wedeln mit Geschäftspapieren. Ein weißes Auto folgt uns langsam.
Dem Militärgeheimdienst entgehen keine Fremden.
In einer Passage an der Hauptstraße liegt der Buchladen »Umut«. Yilmaz, der
Buchhändler von der Todesliste der Geheimdienstleute, freut sich, als er hört,
daß ich für eine marxistische Tageszeitung arbeite. Seit seinem fünfzehnten
Lebensjahr sei er Sozialist, erzählt der heute 43jährige. Schon 1977 schloß er
sich der PKK an. »Faschisten lassen sich nicht gewaltfrei bekämpfen«, erläutert
er. Damals war die Organisation noch nahezu unbekannt. »Die Menschen hier in
Kurdistan waren ungebildet und konnten nicht lesen. Lenin hatte die Zeitung
Iskra, die PKK zog durch die Dörfer, um mündlich aufzuklären.«
Am 15. August 1984 begann der bewaffnete Aufstand der PKK, als
Guerillaeinheiten die kurdischen Städte Eruh und Semdinli angriffen. In
Semdinli beschossen sie den türkischen Militärstützpunkt mit Maschinengewehren
und Raketen. Mehrere Soldaten und Offiziere wurden dabei verletzt oder getötet.
Als die Guerilleros anschließend Flugblätter in den Kaffeehäusern verteilten
und Transparente mit Parolen und den Bildern von Märtyrern der PKK aufhängten,
war der 21jährige Yilmaz mit dabei. Kurze Zeit später verriet ihn ein
gefangener Mitkämpfer unter Folter. Yilmaz wurde festgenommen und für 15 Jahre
ins berüchtigte Militärgefängnis von Diyarbakir gebracht.
Als der Gefangene endlich im Jahr 2000 freikam, eröffnete er den Buchladen
»Umut«. Heute muß er nicht mehr mit der Waffe in der Hand aufklären. Die
Jugendlichen aus Semdinli und den umliegenden Dörfern kommen in seine
Buchhandlung. »Bücherverkauf ist unwichtig. Wichtig ist, daß die Jugendlichen
lesen und lernen.« Im Sortiment finden sich Sachbücher und Romane in türkischer
und kurdischer Sprache, darunter auch Bücher über Karl Marx, Sigmund Freud, die
russische Revolution und den Irak-Krieg. Und viel russische Literatur. Tolstoi
und Tschernitschewski gehören zu Yilmaz' Lieblingsschriftstellern.
»Erleuchten wir die Türkei von Semdinli aus« – so das anspruchsvolle Motto der
diesjährigen Feste zu Newroz, dem kurdischen Neujahr, am 21. März. Doch in
Semdinli hatte die Armee das Fest verboten. Statt dessen wurde unter großer
Beteiligung der Bevölkerung und mehrerer Bürgermeister der kurdischen Partei
für eine Demokratische Gesellschaft (DTP) die renovierte »Umut«-Buchhandlung
eingeweiht. Ermöglicht wurde die Wiedereröffnung durch Bücherspenden von
Buchhändlern und sozialistischen Schriftstellern wie Ragip Zarakoglu. »Manchmal
verändert ein Buch das ganze Leben. Vielleicht wird jetzt ein Buchhändler die
Zukunft der Türkei verändern«, kommentierte Osman Beydemir, der
Oberbürgermeister der Millionenstadt Diyarbakir.
In der Buchhandlung hängen Kopien der bei den Attentätern gefundenen
Anschlagspläne. Und in einer Vitrine sind mit Blut bespritzte und vom Feuer
demolierte Bücher zu sehen. »Dort, wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am
Ende auch Menschen«, zitiert Yilmaz zum Abschied Heinrich Heine.
Im Taxi zur türkisch-iranischen Grenzstation Esendere lerne
ich Mesud und Hamid kennen. Sie sind auf Shoppingtour. Ihre Einkaufsliste
enthält Digitalkameras, DVD-Player und Computerzubehör. Im Iran werden sie die
High-Tech-Geräte günstig erwerben und dann mit Pferden über verborgene Pfade in
die Türkei bringen. Zudem ist der Schmuggel auch aus dem Irak lukrativ, seitdem
die USA dort eine zollfreie Zone eingerichtet haben. 2000 Euro kostet ein
Maultier. Ganze Dorfgemeinschaften haben zusammengelegt, um sich einige Pferde
zu kaufen. Innerhalb weniger Jahre sind arme Bauern auf geheimen Pfaden zu
Wohlstand gelangt.
Kurz vor der Grenze biegt das Taxi zu einem Bauernhof ab. Hier blüht der
Schwarzmarkt. Aus großen Kanistern füllt ein Junge das billige Benzin in den
Tank. Der Treibstoff gelangte zuvor auf Pferderücken über die Grenze, und mir
fällt die »Zeit der trunkenen Pferde ein«. Der iranisch-kurdische Regisseur
Bahman Ghobadi hat in dem mit der »Goldenen Kamera« ausgezeichneten Film das
anrührende Schicksal von Waisenkindern porträtiert, die sich als Begleiter der
schwerbeladenen Vierbeiner verdingen, um zu überleben.
An der Grenzstation Esendere bieten sich Kontraste: Die Bilder von Mustafa
Kemal Atatürk, Türkei-Gründer, und Ayatollah Khomeini, Führer der islamischen
Revolution im Iran, hängen sich gegenüber. Doch herrscht zwischen den
türkischen Grenzposten und ihren in grünen, goldbeknopften Uniformen gekleideten
iranischen Kollegen eine eher freundschaftliche Atmosphäre. Hier profitiert
jeder vom Schmuggel. In Sichtweite eines Checkpoints laden Männer Säcke voll
Zucker, Tee und Tabak in eine Scheune. Und auf dem Basar von Yüksekova bezahlen
Soldaten mit Zigarettenstangen.
Doch nicht nur Benzin, Zucker und Digitaltechnik wird im
iranisch-irakisch-türkischen Grenzgebiet geschmuggelt, auch härtere Sachen.
Inmitten der hügeligen Landschaft mit ihren armseligen Bauerndörfern stehen
protzige, grellfarbige Villen. Sie gehören den Großdealern, reich geworden am
Drogenpfad aus Afghanistan, der über den Iran in die Türkei führt. Sollte in
der Region Frieden einkehren und die Militärpräsenz reduziert werden, so die
Befürchtung vieler Kriegsgewinnler, würde das einträgliche Geschäft leiden. In
dieser Überlegung liegt auch ein mögliches Motiv für die Bomben von Semdinli.
Von Yüksekova nach Sirnak sind es weniger als 300 Kilometer.
Doch der Minibus braucht für diese Strecke fast zehn Stunden. Schuld daran sind
nicht die Steinbrocken, die von Baggern aus dem Weg geräumt werden müssen, oder
die bis zu drei Meter hohen Schneewälle entlang der Straße. Elfmal werden wir
an Checkpoints gestoppt. Unsere kurdischen Mitreisenden tun uns leid, müssen
sie doch jedesmal warten, bis unsere Ausweise abgeschrieben sind. Mehrfach
durchwühlen Soldaten das Gepäck. An den Wänden der Wachlokale hängen Fotos
gesuchter Guerillakämpfer der PKK und der türkischen Revolutionären
Volksbefreiungsfront. Auffällig ist die große Zahl junger Frauen unter den
Gesuchten.
Besonders aggressiv sind die Soldaten an der inmitten verschneiter Bergen
gelegenen Serbest-Kaserne. Mitte der 1990er Jahre hatte die Guerilla diese
Kaserne angegriffen und mehr als 20 Soldaten getötet. Mit der Maschinenpistole
im Anschlag belehrt uns ein aus Istanbul stammender Offizier, daß es in der
Türkei kein kurdisches Problem gebe, sondern ein Terroristen-Problem.
Immer wieder sehen wir Ansammlungen von größeren Steinhaufen
entlang der Straße. Das waren einmal Dörfer. Weil deren Bewohner in den
Verdacht gerieten, die PKK zu unterstützen, wurden sie vertrieben und ihre
Häuser dem Erdboden gleichgemacht. Der Fahrer des Dolmus (Sammeltaxi) dreht das
Kassettenradio auf – ein Lied gegen die »Dorfschützer«. Diese bewaffneten
Männer wurden von Großgrundbesitzern und vom Staat einst im Kampf gegen die
Guerilla eingesetzt. In den neugebauten Häusern mit Blechdächern wohnen jetzt
ausschließlich solche kurdischen Milizmänner und ihre Familien. Viele von ihnen
sind selbst Vertriebene. Erst wurde ihnen die Lebensgrundlage entzogen, dann
hat der Staat die Hoffnungslosen gekauft. 400 Lira (rund 260 Euro) monatlicher
Sold sind hier schon ein Vermögen.
Landrover der Armee passieren. Neben Soldaten sitzen auf den Bänken Dorfschützer
mit den traditionellen Pushis – kurdischen »Palästinensertüchern«. Allerdings
scheint es, als habe ein Umdenken bei vielen der gegen die eigene Bevölkerung
eingesetzten Männer begonnen. »Wir schämen uns, Dorfschützer zu sein«, erzählen
uns zwei Männer, die uns zum Tee einladen. Sie nehmen zwar das Geld vom Staat,
beteiligen sich aber seit sechs Jahren an keinen Militäroperationen mehr. Fast
die Hälfte der rund 8000 Dorfschützer in Hakkari würden inzwischen die
kurdischen Parteien DEHAP oder DTP wählen, berichtet Hasan Ciftci vom
DTP-Ortsvorstand des Gebiets.
»Laßt euch nicht täuschen. Äußerlich bin ich ein Dorfschützer, aber im Herzen
bin ich Kurde.« Der scheinbar aus dem Nichts aufgetauchte Mann mit der
markanten Hakennase trägt eine traditionelle grüne Pluderhose. Sein Blick
schweift zu den Kämmen der nahen Gebirgskette. Dort oben an der
türkisch-irakische Grenze, die quer durch Kurdistan verläuft, patrouillieren
Peschmerga der im besetzten Irak mitregierenden »Kurdischen Demokratischen
Partei«. Der Barzan-Clan des Präsidenten von Irakisch-Kurdistan, Mesud Barzani,
gehört derzeit zu den Gewinnern des US-Krieges gegen Irak. Der Mann erzählt. Er
sei Schmuggler. Um nicht von seinem Land vertrieben zu werden, mußte er
einwilligen, Dorfschützer zu werden. Regelmäßig besucht er nun das kurz hinter
der Grenze gelegene Lager der PKK. Natürlich weiß auch die türkische Armee von
dem Guerillalager. Doch aus Angst vor den USA greift sie nicht an.
Streckenweise führt die Straße einige Meter über irakisches Territorium. An
einem Checkpoint am Harbor-Fluß steht ein weißer Kombi. In dessen Kofferraum
hätten 25 Kalaschnikow-Maschinenpistolen gelegen, erzählt ein Soldat. Ein
kurdischer Aga (feudaler Großgrundbesitzer) wollte diese Waffen aus dem Irak
schmuggeln, um damit seine Privatarmee auszurüsten. Weil sein Kontaktmann bei
der Jandarma nicht am Checkpoint war, flog die Sache auf. Der Wagen wurde
beschlagnahmt, sein Besitzer durfte gehen.
Je näher wir der Stadt Sirnak kommen, desto massiver wird die Militärpräsenz.
In den 1990er Jahren gab es hier in der Besta-Region eine befreite Zone, die
von der Guerilla kontrolliert wurde. Doch mit dem Einsatz moderner
Nachtsichtgeräte und der Vertreibung der örtlichen Bevölkerung gelang der Armee
die Rückeroberung des Gebietes. Sirnak hat für die Guerilla weiterhin
strategische Bedeutung. Aus ihren Lagern im Nordirak kommend müssen die
PKK-Kämpfer an einer Engstelle von den Cudi- in die Gabbar-Berge wechseln.
An einem Checkpoint in Uludere sehen wir Acht-Rad-Panzerwagen. Sie kommen
gerade von einer »Operation«, wie der Kommandant sagt, gegen die Guerilla
zurück. »Alle aus Deutschland«, erklärt der Kommandant stolz die Herkunft der
Fahrzeuge. Die Bundesregierung hat immer wieder bestritten, daß Panzer aus
deutscher Lieferung in vertragswidriger Weise gegen die kurdische Bevölkerung
eingesetzt werden.
Ende März berichtet das Hauptquartier der Guerilla von einem
Giftgaseinsatz der türkischen Armee. Ein PKK-Lager in den Bergen von Mus sei
angegriffen worden. 14 Kämpfer kamen dabei um. Die Trauerzüge für sie
mobilisierte Zehntausende in Diyarbakir und anderen Städten. Die Polizei
eröffnet das Feuer. Wie zu Beginn der 1990er Jahre kursiert seitdem das Wort
»Serhildan«. Es heißt übersetzt Volksaufstand.