junge Welt 04.08.2007 / Geschichte / Seite 15

Im Geiste Lenins

Der VI. Parteitag der Bolschewiki setzt Kurs auf den bewaffneten Aufstand

Von Nick Brauns

Die durch die russische Februarrevolution an die Macht gekommene Provisorische Regierung hatte keine einzige Forderung des Volkes nach Freiheit, Frieden, Brot und Land erfüllt. Der Krieg wurde fortgesetzt, die Brotpreise stiegen, die Landreform wurde bis nach dem Krieg vertagt. Am 17. Juli 1917 ließ die um gemäßigt sozialistische Minister erweiterte bürgerliche Regierung Massenproteste von Arbeitern und Soldaten in Petrograd blutig niederschlagen. Das Zentralexekutivkomitee der Sowjets gab dem neuen »sozialistischen« Regierungschef Alexander Kerenski uneingeschränkte Vollmachten. Dieser entwaffnete revolutionäre Truppenteile und trieb die Partei der Bolschewiki in die Illegalität. Damit waren die von den Parteien der Sozialrevolutionäre und Menschewiki beherrschten Räte zu einem bloßes Anhängsel der Regierung geworden.

Neue Taktik


Die neue Situation erforderte eine Änderung der revolutionären Taktik, die auf dem VI. Parteitag der Bolschewiki beschlossen wurde. Die Delegierten tagten vom 26. Juli bis zum 3. August in zwei Petrograder Arbeiterbezirken. Die 175 Delegierten, die 112 Komitees mit 176750 Mitgliedern vertraten, mußten halb illegal zusammentreffen, da die Provisorische Regierung den Innen- und Kriegsminister ermächtigt hatte, jegliche Kongresse zu verbieten. Wichtige revolutionäre Führer wie Lenin, Leo Trotzki, Lew Kamenew und Grigori Sinowjew waren im Gefängnis oder untergetaucht. Doch Mitglieder des Zentralkomitees hielten Kontakt zu Lenin in seinem Versteck am See Rasliw. Dank seiner theoretischen Vorarbeit verlief der von Jakow Michailowitsch Swerdlow organisierte und von Josef Stalin als Berichterstatter des Zentralkomitees geleitete Parteitag nahezu einmütig. Lenin hatte die Thesen zur politischen Lage vorbereitet, seine Artikel »Zu den Losungen« (LW 25, S. 181–189) und »Die Lehren der Revolution« (LW 25, S. 227–244) lagen den Referaten und Beschlüssen zugrunde. »Unsichtbar dem Parteitag beiwohnend, trug Lenin in dessen Arbeiten den Geist der Verantwortlichkeit und Kühnheit hinein«, heißt es in Trotzkis »Geschichte der russischen Revolution« (Berlin 1933, Bd. 2, S. 288).

Der wichtigste Parteitagsbeschluß betraf die vorübergehende Rücknahme der zentralen Losung »Alle Macht den Sowjets«. In der Phase der Doppelherrschaft zwischen Räten und Provisorischer Regierung hatte die Chance auf eine friedliche Entwicklung der Revolution bestanden. Doch in den Juli-Tagen war die Macht in die Hände einer Militärclique übergegangen. »Die Losung, die den Übergang der Macht an die Sowjets fordert, würde sich jetzt wie eine Donquichotterie oder wie Hohn ausnehmen«, warnte Lenin. »Diese Losung hieße, objektiv gesehen, das Volk betrügen, ihm die Illusion eingeben, als ob auch jetzt die Sowjets die Machtübernahme bloß zu wünschen oder zu beschließen brauchten, um die Macht zu erhalten, als ob es im Sowjet noch Parteien gäbe, die sich nicht besudelt hätten durch Handlangerdienste für die Henker, als ob man das Geschehene ungeschehen machen könnte« (LW 25, S. 184). Dies bedeutete keinen Verzicht auf einen Rätestaat, doch dieses Ziel erforderte nun den bewaffneten Aufstand gegen die Regierung und die dahinterstehenden Militärs. Der Parteitag setzte die Agitation unter den Massen für die Notwendigkeit eines solchen Aufstandes auf die Tagesordnung.

Höhepunkt des Kongresses war eine Debatte über den Charakter der Revolution, die – wenn auch mit vertauschten Rollen – die dramatischen Auseinandersetzungen der 20er Jahre vorwegnehmen sollte. Nikolai Bucharin vertrat die Auffassung, daß die kommende Revolution zunächst eine Bauernrevolution sein werde und erst in der folgenden Phase, unterstützt von der Arbeiterklasse Europas, eine proletarische Revolution. Die Bauernrevolution müsse zwangsläufig mit der Arbeiterrevolution zusammenfallen, wies Stalin diese Etappentheorie zurück. »Es ist doch unmöglich, daß die Arbeiterklasse, die Avantgarde der Revolution, nicht zugleich auch für ihre eigenen Forderungen kämpft« (Werke, Bd. 3, S. 169). Damit hatte sich Stalin, der in den 20er Jahren Bucharins These vom auf die Bauern gestützten »Sozialismus im Schneckentempo« übernehmen sollte, einen Kernsatz von Trotzkis Theorie der »permanenten Revolution« zu eigen gemacht

Der marxistische Ökonom Jewgeni Preobraschenski forderte dagegen, daß die Ergreifung der Macht »für den Frieden« erfolgen sollte und nur »für den Fall einer proletarischen Revolution im Westen für den Sozialismus« (zit. nach N. Popow: Geschichtlicher Abriß der KPdSU, Teil 1, London o. J., S. 381). Auch hier widersprach Stalin: »Die Möglichkeit ist nicht ausgeschlossen, daß gerade Rußland das Land sein wird, das den Weg zum Sozialismus bahnt. [... ] Man muß die überlebte Vorstellung fallen lassen, daß nur Europa uns den Weg weisen könne« (Werke, Bd. 3, S. 172 f.). Paradoxerweise machte sich Stalin hier den zuerst von Trotzki vertretenen Gedanken zu eigen, daß die sozialistische Weltrevolution im rückständigen Rußland als schwächstem Kettenglied des Imperialismus beginnen könnte, während Preobraschenski, der später ein führender Vertreter der »trotzkistischen« linken Opposition wurde, dies anzweifelte.

ZK der Oktoberrevolution


In der vom Parteitag angenommenen Resolution hieß es schließlich: »Die richtige Losung kann heute nur völlige Beseitigung der Diktatur der konterrevolutionären Bourgeoisie lauten. Nur das revolutionäre Proletariat ist – unter der Bedingung seiner Unterstützung durch die ärmste Bauernschaft – imstande, diese Aufgabe zu erfüllen, die als die nächste Aufgabe einer neuen Revolution in Rußland zu betrachten ist. [...]. Das Proletariat, insbesondere in der Hauptstadt, wird dann alle seine Kräfte anspannen müssen, um die Staatsmacht in seine Hände zu nehmen und sie im Bündnis mit dem revolutionären Proletariat der fortgeschrittenen Länder für den Frieden und die sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft einzusetzen« (zit. nach Albert Nenarokow: Geschichte der Großen Sozialisten Oktoberrevolution in Wort und Bild, Köln 1987, S. 180 f.). In einer Resolution zur wirtschaftlichen Lage forderten die Bolschewiki die Verstaatlichung des Bodens, der Banken und großen Industrieunternehmen sowie Arbeiterkontrolle über Produktion und Verwaltung.

Auf dem VI. Parteitag wurde die von Trotzki geführte Gruppe der Meschrajontsi (Interregionale Organisation) förmlich in die Partei aufgenommen. Nach den seit 1903 andauernden Meinungsstreitigkeiten zwischen den beiden zukünftigen Führern der Oktoberrevolution hatten sich deren Standpunkte während des Weltkrieges weitestgehend angenähert. Mit den »Aprilthesen« übernahm Lenin Trotzkis Einschätzung, daß die russische Revolution eine vom Proletariat geführte sozialistische sein müsse. Trotzki war dagegen in der Organisationsfrage vollständig auf das bolschewistische Konzept einer demokratisch-zentralistischen Partei von Berufsrevolutionären eingeschwenkt. Er »kam zu Lenin wie zu einem Lehrer, dessen Kraft und Bedeutung er (Trotzki) später als viele andere, aber vielleicht besser als sie begriffen hatte«, gestand Trotzki (Geschichte der russischen Revolution, Bd. 2, S. 287). Schon die Stimmenzahl bei der Wahl zum neuen Zentralkomitee verdeutlicht, daß er von den alten Bolschewiki als einer der ihren akzeptiert wurde. Das Parteitagsprotokoll vermerkt: »Es werden die Namen der vier Mitglieder des Zentralkomitees verlesen, die die meisten Stimmen erhielten: Lenin – 133 von 134, Sinowjew – 132, Kamenew – 131, Trotzki 131; außer ihnen sind in das Zentralkomitee gewählt: Nogin, Kolontay, Stalin, Swerdlow, Rykow, Bucharin, Artem, Joffe, Uritzki, Miljutin, Lomow« (ebd., S. 286). Unter Leitung dieses Zentralkomitees wurde die Oktoberrevolution vollbracht.

Quellentext. Heute sind die Sowjets ohnmächtig

Sowjets können und müssen in dieser neuen Revolution in Erscheinung treten, aber nicht die jetzigen Sowjets, nicht Organe des Paktierens mit der Bourgeoisie, sondern Organe des revolutionären Kampfes gegen die Bourgeoisie. Daß wir auch dann für den Aufbau des ganzen Staates nach dem Typ der Sowjets eintreten werden, das stimmt. Das ist nicht eine Frage der Sowjets schlechthin, sondern eine Frage des Kampfes gegen die gegenwärtige Konterrevolution und gegen den Verrat der gegenwärtigen Sowjets. Das Ersetzen des Konkreten durch Abstraktes ist einer der Hauptfehler, einer der gefährlichsten Fehler in der Revolution. Die gegenwärtigen Sowjets haben versagt, haben vollkommenen Schiffbruch erlitten, weil in ihnen die Parteien der Sozialrevolutionäre und Menschewiki herrschen. Gegenwärtig gleichen diese Sowjets Hammeln, die, zur Schlachtbank geführt, unter dem Messer stehend, jämmerlich blöken. Heute sind die Sowjets ohnmächtig und hilflos gegenüber der siegreichen und ihren Sieg weiter ausbauenden Konterrevolution. Die Losung: Übergabe an die Sowjets, kann aufgefaßt werden als »einfache« Aufforderung, daß die Macht an die gegenwärtigen Sowjets übergehen soll, aber das sagen, dazu auffordern, hieße jetzt, das Volks betrügen. Nichts ist gefährlicher als Betrug.

aus: Lenin: Zu den Losungen, Werke, Bd. 25, S. 188