Schachspielen mit
Öcalan
Der schwerste Kampf: Eine Kurdistanreise wird für
Redakteure des Lower Class Magazine zur Lehrstunde
über die Widersprüche der Revolution
Von Nick Brauns
Ein Handtuch sei »so ziemlich das
Nützlichste«, was man auf Reisen durch die Galaxis mit sich führen kann, heißt
es in Douglas Adams berühmten Roman »Per Anhalter durch die Galaxis«. Was für
Ford Prefect das Handtuch war, ist für den
Kurdistanreisenden die Kufija – hierzulande besser
bekannt als Palästinensertuch. Neben Tabak, Stift und Papier, einem
E-Book-Reader für die Werke von Karl Marx, Abdullah Öcalan und Käpt’n Blaubärs Abenteuer sowie einer erst vor Ort beim Schneider
zu erstehenden Pluderhose mit tiefen Taschen ist die Kufija
eines der fünf Dinge im »Hitchhiker’s Guide to Kurdistan«, der dem Reisetagebuch »Konkrete Utopie – Die
Berge Kurdistans und die Revolution in Rojava«
vorangestellt ist.
Mehrere Monate lang reisten Redakteure des
linksradikalen Politblogs Lower Class Magazine (LCM)
im Frühjahr des vergangenen Jahres durch Kurdistan. Der Weg führte sie von den
Guerillacamps der Arbeiterpartei Kurdistans PKK in den Bergregionen an der
türkisch-irakischen Grenze über das Siedlungsgebiet der Jesiden
im Sindschar-Gebirge weiter in die selbstverwaltete
Region Rojava in Nordsyrien bis zur Front in Rakka. Die LCM-Redakteure haben nicht den Anspruch
neutraler Berichterstatter, sie kamen als teilnehmende Beobachter, sie lebten
und lernten mit der Guerilla und beteiligten sich mit
eigenen Händen am Aufbau in Rojava. In dem von der
Ethnologin Anja Flach eingeleiteten Reisetagebuch wechseln Erfahrungsberichte
und Reportagen von junge Welt-Redakteur
Peter Schaber, Karl Plumba und Lisa Schelm ab mit
Interviews kurdischer Aktivisten und Internationalisten. Bebildert sind die in
ihrer Mehrheit zuvor bereits online im LCM veröffentlichten Kapitel mit Bildern
des jW-Fotojournalisten Willi
Effenberger.
Während unter einigen »Antiimperialisten« in Europa
die Ansicht herrscht, die kurdische Freiheitsbewegung sei sich der Gefahren
ihres Militärbündnisses mit den USA gegen den Islamischen Staat (IS) nicht
bewusst, zeigten die Gesprächspartner vor Ort ein hohes Bewusstsein dieser
Problematik. »Die USA sind die schlimmsten Feinde aller Revolutionäre und
Unterdrückten auf der Welt«, erklärt Sahin Cudi von
der Vereinigung der Jugend Rojavas. Doch ohne ein
solches taktisches Bündnis mit dem strategischen Feind hätte die Rojava-Revolution nicht überleben können, sind die LCM-Redakteure
überzeugt. Anstatt sich dabei an eine Großmacht strategisch zu binden, versucht
die Freiheitsbewegung, durch wechselnde Bündnisse die Kräfte gegeneinander
auszuspielen, um sich einen Raum für das eigene politische Projekt zu schaffen.
»Der Krieg in Syrien ist wie Schach«, schreiben die LCM-Redakteure. »Nicht wie
eine Feldschlacht, in der man sich bunt anmalt und wie in Mel Gibsons Braveheart erst dem Gegner den blanken Arsch zeigt, um ihn
dann Mann gegen Mann mit dem Schwert zu richten. Und beim Schach, anders als
bei der Arschzeige-Feldschlacht mit Gesichtsbemalung, muss man viele Millionen
möglicher Interaktionen zwischen den 32 Figuren auf dem Feld bedenken.«
Wie ein roter Faden durchzieht die Frage »Wie leben?«, die auch Titel eines Buches von Abdullah Öcalan ist, das
Reisetagebuch. Gemeint ist die Entwicklung einer revolutionären, das heißt
freien, Persönlichkeit in einem bewussten Prozess des Bruches mit dem
kapitalistischen Individualismus, um bereits im hier und jetzt ein kollektives
Leben zu schaffen. Die Reise durch Kurdistan wird für die LCM-Autoren so auch
zur Reise ins Ich, zum Hinterfragen der eigenen Lebensweise als radikale Linke
in den kapitalistischen Metropolen. Der Titel des Buches »Konkrete Utopie«
knüpft natürlich an Ernst Bloch, aber auch an ein Zitat von Sakine Cansiz an. »Wir haben uns dem Sozialismus nie utopisch
angenähert. Er war für uns nie irgendetwas ganz weit Entferntes. Stattdessen
haben wir angefangen, unsere Hoffnungen und Utopien im Hier und Jetzt
umzusetzen«, schrieb die vor fünf Jahren in Paris ermordete Vordenkerin der
kurdischen Freiheitsbewegung.
Widersprüche in der Realität werden von den LCM-Autoren
nicht ausgeblendet, etwa wenn verdiente Unterstützer der Revolution zu Hause
Tee trinken, während sie ihre drei Frauen die Hausarbeit erledigen lassen.
Anstatt dies zu verurteilen oder abstrakt über Geschlechtergerechtigkeit zu
dozieren, gilt es da, die Alternative vorzuleben, indem die männlichen Besucher
selbst den Abwasch in die Hand nehmen. Die Autoren räumen auch mit der von
libertären Linken im Westen gepflegten Legende von Rojava
als »Schlaraffenland der Basisdemokratie« auf, in dem sie auf die entscheidende
Rolle der Kader beim Aufbau der Rätestrukturen verweisen. »Die Revolution in Rojava ist der praktische Beweis der Richtigkeit der Leninschen Avantgardetheorie, nicht ihre Widerlegung«.
Während die anderen Autoren nach Deutschland zurückkehrten,
schloss sich Schaber den Volksverteidigungseinheiten YPG an, um an der Kampagne
zur Befreiung von Rakka vom IS teilzunehmen. An der
Front stellt sich Ernüchterung ein. Während Hunderte erfahrene Aktivisten der
Freiheitsbewegung in den Schlachten gefallen sind, strömen sehr junge,
mehrheitlich arabische Soldaten ohne politische Bildung an die Front, »deren
Bewusstsein geprägt ist von der Sozialisierung in den kaputten Gesellschaften
des Mittleren Ostens«. Damit droht jenes Band zu zerreißen, »das die Guerilla
in den Bergen ausmacht und das die YPG eigentlich zu übernehmen strebt: Die
Einheit von zivilem Aufbau, der Gestaltung des eigenen Zusammenlebens und des
bewaffneten Kampfes. Der schwerste Kampf, den wir heute in Syrien zu führen
haben, ist der gegen den Verfall der eigenen Ideale.«
Lower Class Magazine (Hg.):
Konkrete Utopie. Die Berge Kurdistans und die Revolution in Rojava.
Ein Reisetagebuch. Unrast-Verlag, Münster 2017, 192 Seiten, 14 Euro
Aus: junge Welt 30.4.2018