Junge Welt 16.10.2004 Feuilleton
Norbert Göttlers Roman über die Münchner Räterepublik
nimmt es mit der historischen Wahrheit nicht so genau
Eine Besonderheit der bayerischen Revolution und der Münchner
Räterepublik 1918/19 war es, daß eine Vielzahl von Schriftstellern nicht nur
als passive Chronisten, sondern als führende Akteure auftraten: Erich Mühsam,
Kurt Eisner, Ernst Toller, Gustav Landauer oder Oskar Maria Graf. Die
literarische Verarbeitung dieser Ereignisse beschränkte sich bisher jedoch
weitgehend auf die Tagebücher und Memoiren der damaligen Akteure.
85 Jahre nach der bayerischen Revolution hat Norbert Göttler mit »Roter
Frühling« einen stimmungsvollen »Roman der Räterepublik« verfaßt. Er beschreibt
den Zusammenbruch der alten Ordnung, in dem die Ängste und Hoffnungen
unterschiedlicher Charaktere entfaltet werden, die in die revolutionären
Ereignisse hineingezogen werden.
Während im Herbst 1918 die deutsche Niederlage an der Front unausweichlich
erscheint, werden in der Schwabinger Boheme die politischen Entwicklungen
ebenso heftig diskutiert wie die Theorien des Wiener Nervenarztes Sigmund
Freud. Für Sophie Sitty, Kunststudentin aus gutem Hause, ist die Revolution
anfangs nur ein Abenteuer. Als sie erkennt, daß ihr undurchsichtiger russischer
Freund Sergej als Mitglied der konterrevolutionären Thule-Gesellschaft sie als
Spionin mißbraucht, schließt sie sich spontan der bayerischen Roten Armee an.
Dort trifft sie auf den überzeugten Sozialisten Bruno Vermehr, der von der
Reichswehr desertiert war, um den ebenso idealistischen wie waffentechnisch
unerfahrenen Revolutionären sein militärisches Fachwissen zur Verfügung zu
stellen. Sophies Jugendfreund, der kriegsversehrte und drogenkranke
Industriellensohn Alexander von Abstreiter findet dagegen nach dem Bruch mit
seiner Familie, die in ihm nur den Versager sieht, in einem Freikorps seine
neue Heimat.
Für Göttler ist die Räterepublik offensichtlich die gesamte Epoche zwischen dem
Sturz des Königs im November 1918 und der Einnahme Münchens durch die Freikorps
Anfang Mai 1919. In Wirklichkeit bestand die bayerische Revolution aus einer
Reihe von Etappen. Durch den Sturz des Königs am 7. November 1918 und die Wahl
des Landtags wurde Bayern erst eine parlamentarische Demokratie. Kurt Eisner
wollte den Räten zwar Mitverantwortung geben, lehnte aber die kommunistische
Forderung »Alle Macht den Räten« entschieden ab. Im Roman taucht Eugen Leviné
als KPD-Vertreter bereits nach dem Sturz des Königs auf. In Wirklichkeit war
die KPD zu diesem Zeitpunkt noch nicht gegründet, und Leviné befand sich in
Berlin.
Erst durch den Mord an Eisner und die Schüsse eines Anarchisten im Landtag – im
Roman wird letztere Aktion einer Gruppe von Marxisten zugeschrieben – ging die
Revolution nach dem 21. Februar in ihre radikale Phase. Nach langen Diskussion
wurde am 7. April von Anarchisten um Erich Mühsam und Gustav Landauer, von
USPDlern um Ernst Niekisch und Ernst Toller und einzelnen SPDlern eine
Räterepublik ausgerufen.
Wenn Göttler schreibt, Eugen Leviné habe den geisteskranken Doktor Lipp als
Außenminister und den völkisch angehauchten Erfinder der »Freigeldlehre« Silvio
Gesell als Finanzminister vorgeschlagen, ist dies eine grobe
Geschichtsfälschung. Die Kommunistische Partei hatte vielmehr die verfrühte
Ausrufung einer Räterepublik am grünen Tisch strikt abgelehnt und sich nicht an
diesem Abenteurer beteiligt.
Erst nach einem rechten Putschversuch gegen diese nicht in der Bevölkerung
verankerte »Scheinräterepublik« eine Woche später riefen Kommunisten und
Unabhängige Sozialdemokraten eine zweite Räterepublik aus, die auf
Arbeiterräten basierte und durch eine neu geschaffene Rote Armee geschützt
wurde.
Äußerst negativ kommen die Kommunisten am Schluß des Romans weg. »Mit den
Unabhängigen haben wir nichts zu tun. Die spielen auch keine Rolle mehr. Toller
ist abgesetzt. Die Kommunistische Partei und die Rote Armee haben die Macht
übernommen. Wir vertreten die Diktatur des Proletariats«, läßt Göttler einen
Politkommissar in den letzten Apriltagen erklären. Tatsächlich war es genau
umgekehrt. Während die USPD angesichts des um München geschlossenen
Belagerungsrings der Konterrevolution soweit entgegenkam, daß sie die
bürgerliche Presse wieder zuließ und Ernst Toller kommunistische Politiker als
»landfremde Elemente« diffamierte, fanden die KPD-Vertreter mit ihrer Forderung
nach Verteidigung der Arbeitermacht bis zum letzten Mann keine Mehrheit und
schieden am 27. April aus dem Aktionsausschuß aus.
Daß der Oberkommandierende der Roten Armee, Rudi Egelhofer, die Erschießung
aller Mitglieder der Münchner Bourgeoisie auf der Theresienwiese gefordert habe
und dies im Revolutionsrat nur mit knapper Mehrheit abgelehnt wurde, könnte als
theatralisches Element eines Romans durchgehen, wenn es sich nicht um ein immer
wieder kolportiertes Schauermärchen über den angeblichen roten Terror handeln
würde. Das auch im Roman beschriebene Blutbad an der Münchner Arbeiterschaft
durch die Freikorps wurde durch derartige Propagandalügen vorbereitet.
Tatsächlich war Egelhofer nicht einmal für die Erschießung von Geiseln aus der
antisemitischen Thule-Gesellschaft verantwortlich.
Fehler finden sich auch im historisch gehaltenen Epilog des Romans. So wurde
der Münchner KPD-Vorsitzende Max Levien nicht 1930 in Rom ermordet, sondern
fiel 1937 den Stalinschen Säuberungen in Moskau zum Opfer. Und Erich Mühsams
Frau Zenzl ist nicht in der Sowjetunion verschollen, sondern kehrte nach langer
Haft in einem sowjetischen Straflager Mitte der 1950er Jahre nach Ostberlin
zurück.
Trotz dieser Mängel ist »Roter Frühling« ein lesenswertes Buch, dessen Stärke
in der glaubwürdigen Beschreibung des Wertewandels verschiedener Schichten der
Münchner Bevölkerung vor dem Hintergrund von Krieg und Revolution liegt.
Illustriert wird der im katholischen Verlag Sankt Michaelsbund erschienene
Roman mit expressionistisch inspirierter Holzschnitten des international
ausgezeichneten Künstlers Klaus Eberlein.
Nick Brauns
* Norbert Göttler: Roter Frühling – Roman der Räterepublik. Verlag Sankt
Miachelsbund, München 2004, 312 Seiten, 23 Euro