Junge Welt 07.06.2010
/ Politisches Buch / Seite 15
Der Repression zum Trotz
Die PKK: Vom Überleben der kurdischen Guerilla
zwischen Angriff und Selbstverteidigung. Nikolaus Brauns und Brigitte Kiechle
legen mehr als ein Organisationsporträt vor
Von Gerd
Schumann
Auf Seite 99 kommt den Autoren ihr
Objekt abhanden. Die Partiya Karkaren
Kurdistan (Arbeiterpartei Kurdistan/PKK) verschwindet von der politischen
Bühne. Sie habe »ihre historische Mission vollendet«, so der Beschluß des Parteikongresses. Ab dem 4. April 2002 seien
»alle Tätigkeiten unter dem Namen PKK einzustellen«. Das geschah dann auch
zeitweilig. Aus Gegnersicht indes blieb die
Organisation das, was sie vorher gewesen war: »terroristisch«. Der Westen hielt
an ihrer Ächtung fest, NATO-Mitglied Türkei setzte seinen seit Jahrzehnten
praktizierten Vernichtungskurs fort. Vergeblich. Die PKK existiert immer noch,
und die verbotenen drei Buchstaben werden zwar hinter vorgehaltener Hand, aber
ebenso ehrfürchtig wie vor 20 Jahren gezischelt.
500 breitformatige Seiten widmen Nikolaus Brauns,
Historiker und jW-Autor, und Brigitte Kiechle,
Rechtsanwältin und Irak-Spezialistin, der Partei. In der Tat wäre das komplexe
Thema auf weniger Raum nur schwer faßbar gewesen:
Äußerst widersprüchlich stellen sich Geschichte, Gegenwart und Perspektive
dieser zumindest in Nordkurdistan – den kurdischen Gebieten in der Türkei –
wohl einflußreichsten politischen Kraft dar. Brauns
und Kiechle betrachten deren Entwicklung dorthin, leuchten auch die politischen
Rahmenbedingungen gründlich aus. Sie machen so sagenhafte Erfolge, aber auch
Niederlagen und Flügelkämpfe, Metamorphosen und Umorientierungen
nachvollziehbar, die die PKK im Laufe ihres über 30jährigen Bestehens erlebte.
Gegründet im November 1978 überstand die Organisation die »Periode des Großen
Terrors« nach dem Militärputsch 1980 ebenso wie den schmutzigen Krieg in den
1990er Jahren, als die türkische »Konterguerilla« Tausende Aktivisten verschwinden
und die Armee in ungezählten kurdischen Dörfern keinen Stein auf dem anderen
ließ. Es folgten: Die Verschleppung von Parteichef Abdullah Öcalan 1999 durch
den türkischen Geheimdienst und der Abzug der Befreiungskräfte
nach Südkurdistan (Nordirak). Es folgten außerdem immer wieder einseitig
erklärte Waffenstillstände mit jeweils weitreichenden Friedensangeboten. Diese
scheiterten sämtlich, und der Eindruck, daß Ankara
nichts außer einer vollständigen Kapitulation akzeptiert, zog sich durch die
Jahre – bis in die Gegenwart. Dabei hatte die Guerilla, getragen von den
Sympathien der Bevölkerung, den türkischen Streitkräften zeitweise »ein
strategisches Gleichgewicht« (Brauns/Kiechle) abgerungen.
Nach 1980 formierten sich im libanesischen Exil jene Kräfte, denen die Flucht
aus dem Folterstaat Türkei gelungen war. Etwa 300 Kader schulten sich dort
unter Öcalans Führung auch militärisch, erste Propagandaeinheiten kehrten »zur
Quelle« nach Nordkurdistan zurück. Angesichts des staatlichen Terrors blieb –
außer der Aufgabe – keine Alternative, als »mit der Waffe in der Hand zu
kämpfen, um welchen Preis auch immer«, analysierte die PKK und stand damit
unter den verbliebenen linken Organisationen allein da. Mit mutigen Angriffen
auf Einheiten und Einrichtungen der türkischen Kolonialisten wurden Zeichen
gesetzt. Die opferreiche, führende Rolle im Gefängniswiderstand trug ein übriges zum Ansehen der Arbeiterpartei, die sich eher als
Bewegung der Unterdrückten verstand, bei. Anderthalb Jahrzehnte später wurde die PKK-Guerilla auf eine Stärke von einigen zehntausend
Männern und Frauen geschätzt. Derzeit ist von zwischen 3000 und 8000
Bewaffneten die Rede.
Programmatiken der Anfangszeit – von der Schaffung eines vereinten unabhängigen
Kurdistan bis zum sozialistischen Charakter eines solchen Gebildes –
veränderten und verformten sich. Neue Konzepte wurden präsentiert und wieder
verworfen. Hammer und Sichel wichen der Fackel. Vieles blieb im Fluß, und manchmal schienen weder Weg noch Ziel eindeutig.
Brauns/Kiechle nähern sich diesem Phänomen durch gründliches Zitieren: Sie
nennen Positionen und Entscheidungen der PKK im O-Ton, ordnen sie ein und – wo
besonders dringend nötig – helfen bei der Interpretation. So werden die Autoren
dem eigenen Anspruch gerecht, »eine solidarische Auseinandersetzung mit der PKK
zu führen«. Diese solle jenseits des Totschlagarguments »Terrorismus« oder der
kritiklosen Unterstützung der Partei geschehen.
Konsequent sachlich behandeln Brauns/Kiechle alle heiklen Themen.
Erklärungsansätze für den ausgeprägten Personenkult um Abdullah Öcalan
beispielsweise werden nicht diffamiert, sondern dargestellt und hinterfragt.
Das gilt auch für Öcalans eigenartige, selbst hinter Gittern ausgeübte Rolle
als »Serok Apo« (Führer Apo) und Ideenvorgeber. Waren dessen »Beschlüsse« 1999 nach
seiner Isolierung auf der Gefängnisinsel Imrali von
der Parteiführung zunächst als »nicht mehr bindend« angesehen worden, nahmen
sie schon wenig später wieder den alten Rang ein. Entscheidende
Strategiewechsel wurden aus der Zelle heraus vorgegeben, darunter die
Einstellung des bewaffneten Kampfes im Januar 2000.
2003, als die USA und deren »Koalition der Willigen« den Irak überfielen,
schien die Exguerilla »auf die Kriegslügen der
Neokonservativen reingefallen« (Brauns/Kiechle) zu sein. Washington sei zu
einer »Überwindung« des kapitalistischen Systems entschlossen, hatte die
Führung einen Monat nach Kriegsbeginn »eingeschätzt«. Auch deren Haltung zur EU
als eventuell »zivilisatorischer« Kraft sowie die dubiosen Kontakte des PKK-Ablegers
im Iran muten seltsam an. Doch war und bleibt das große Verdienst der
Organisation, die kurdische Frage – insbesondere in Folge des 15. August 1984,
als der bewaffnete Kampf eröffnet wurde – erstmals nach Jahrzehnten der
Depression und Repression wieder auf die politische Agenda in der Region
gebracht zu haben. Gleiches gilt für die Frauenfrage, die von den Autoren als
Kernpunkt jeglicher Politik der Befreiung in einem gesonderten Kapitel
behandelt wird. Lesenswerte Beigabe zudem die – jeweils zuerst in der jungen
Welt gedruckten – Reportagen von Brauns aus Kurdistan.
Nikolaus Brauns/Brigitte Kiechle: PKK, Perspektiven
des kurdischen Freiheitskampfes - Zwischen Selbstbestimmung, EU und Islam.
Schmetterling-Verlag, Stuttgart 2010, 510 Seiten, 26,80 Euro