Tageszeitung junge Welt

junge Welt 28.04.2007 / Geschichte / Seite 15


»Erziehung des Negers«

Vor 100 Jahren beschloß der Reichstag die Einrichtung eines Kolonialministeriums

Nick Brauns

Am 3. Mai 1907 beschloß eine Reichstagsmehrheit aus konservativen und liberalen Parteien die Schaffung eines Ministeriums für Kolonialangelegenheiten. Reichskanzler Bernhard von Bülow (1849–1929) hatte diese Forderung bereits im Frühjahr 1906 erhoben, war aber am Widerstand der So­zialdemokratie und der katholischen Zentrumspartei gescheitert, die vor dem Hintergrund des blutigen Kolonialkrieges gegen die aufständischen Nama in der Kolonie Deutsch-Süd­westafrika weitere Mittel für koloniale Abenteuer ablehnten. Nach der vorzeitigen, mit nationalen Phrasen aufgeladenen Reichstagswahl im Januar 1907 verfügte Bülow über eine satte Mehrheit für seine Kolonialpolitik. Erstmals war auch eine Gruppe junger kolonialerfahrener Abgeordneter im Parlament vertreten.

Ein Erlaß vom 17. Mai 1907 bestimmte, »daß die bisher mit dem Auswärtigen Amt verbundene Kolonialabteilung nebst dem Oberkommando der Schutztruppen fortan eine besondere, dem Reichskanzler unmittelbar unterstellte Zentralbehörde unter der Benennung Reichskolonialamt zu bilden hat«. Das neue Ministerium fand seinen Sitz in der Berliner Wilhelmstraße 62. Das ihm angegliederte Kommando der Kolonialarmee lag in der Mauerstraße 45–49.

»Höhere Kultur geben«

Mit dem Kolonialstaatssekretär im Ministerrang Bernhard Dernburg (1865–1937) gelangte erstmals ein Vertreter der Hochfinanz direkt in eine Schlüsselposition im bis dahin dem Adel vorbehaltenen Staatsapparat. Dernburg gehörte dem Vorstand der Darmstädter Bank für Handel und Industrie an und hatte zahlreiche Aufsichtsratsmandate in der Schwerindustrie. Schon seine Berufung an die Spitze der Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes 1906 war ein Zugeständnis der Reichsregierung an die Liberalen gewesen. Diese hatten über den opferreichen Kolonialkrieg in Süd­westafrika gejammert, doch sie störten sich weniger an der blutigen Ausrottung der aufständischen Stämme als an den Kosten in Höhe von 400 Millionen Mark.

Bankensanierer Dernburg sollte eine rationellere ökonomischen Erschließung des Kolonialbesitzes betreiben. Er beschrieb seine Mission wie folgt: »Kolonisation (…) heißt die Nutzbarmachung des Bodens, seiner Schätze (…) und vor allem der Menschen zugunsten der Wirtschaft der kolonisierenden Nation, und diese ist dafür zu der Gegengabe ihrer höheren Kultur, ihrer sittlichen Begriffe, ihrer besseren Methoden verpflichtet.« Die Arbeitskraft der Afrikaner wurde als Kapital verstanden, und das neue kolonialpolitische Paradigma lautete »Erziehung des Negers zur Arbeit«.

Zusammen mit dem Industriellen Walther Rathenau (1867–1922) bereiste Dernburg 1908 Südafrika, um die Ausbeutungsmethoden des britischen Imperialismus in der Minenindustrie zu studieren. Für seine Inspektionstour durch Deutsch-Südwestafrika stand dem Kolonialstaatssekretär der erste nach seinen Wünschen von der Daimler-Motoren-Gesellschaft gebaute Allradpersonenwagen der Automobilgeschichte zur Verfügung.

Großkapital bevorteilen

Der Vernichtungskrieg gegen die Herero und Nama hatte die Errichtung eines regelrechten Überwachungsstaates der deutschen Siedler vorangetrieben. Verordnungen des Kolonialamtes verfügten 1907 eine allgemeine Paß- und Meldepflicht, das Eingeborenenrecht führte zu einer rassistischen Parallelgesellschaft, die zusammen mit der Zwangsumsiedlung afrikanischer Stammesverbände in Reservate eine Art Apartheidsystem bildete.

Zur kolonialen Verwaltung gehörte eine sogenannte Hüttensteuer für jeden einheimischen Haushalt. Menschen, die sich bislang selbst versorgen konnten, gerieten so in Abhängigkeit von den Kolonialisten, denen sie diese Steuern in Form von Naturalien, Geld oder Plantagenarbeit zahlten. Um die Steuer aufzubringen, mußte in Deutsch-Ostafrika ein Großteil der Bevölkerung auf Baumwollplantagen der Siedler arbeiten. Diese äußerst harte Zwangsarbeit dezimierte die unterworfene Bevölkerung kaum weniger verheerend wie die Kolonialkriege, die ihren Ursprung auch in Rebellionen der Plantagenarbeiter hatten.

Als Diamantenfunde 1908 im südwestafrikanischen Lüderitzbucht einen Schürfrausch auslösten, sperrte das Reichskolonialamt das gesamte Gebiet südlich des 26. Breitengrads bis zum Oranje-Fluß in einer Breite von 100 Kilometern landeinwärts für die freie Schürftätigkeit und überließ der Deutschen Diamanten-Gesellschaft als Tochtergesellschaft der Deutschen Kolonial-Gesellschaft das Terrain zur Ausplünderung. Kurzerhand enteignete Dernburg die deutschen Siedler und forderte 32 Bankhäuser vor allem in Berlin und Frankfurt/Main zur Bildung eines Minensyndikats auf, denen er 1300 Prozent Dividende im ersten Jahr ohne Risiko garantierte. »Die Dernburgsche großkapitalistische Gesellschaftspolitik ist ein Unglück für Südwestafrika«, warnte Matthias Erzberger (1875–1921). »Von da ab ist es ja doch nur so ein kleiner Schritt bis zum südwestafrikanischen Staatenbund und zur Lostrennung vom Mutterland«, befürchtete der Zentrumspolitiker Separationsbestrebungen der Kolonisten. Die einseitige Bevorzugung des Großkapitals bei der Ausbeutung der Diamantenfunde und Dernburgs Beschimpfung der Siedler als »minderwertige Menschen« trugen 1910 zu seinem Rücktritt bei. Sein Nachfolger im Kolonialamt wurde der ehemalige Gouverneur von Südwestafrika, Friedrich von Lindequist (1869–1945).

Das Reichskolonialamt wurde am 20. Februar 1919 in ein Reichskolonial­ministerium umgewandelt, daß sich mit der Abwicklung der im Krieg verlorenen Kolonien befaßte und ein Jahr später aufgelöst wurde. Im Versailler Friedensvertrag hieß es in Artikel 119: »Deutschland verzichtet zugunsten der alliierten und assoziierten Hauptmächte auf alle seine Rechte und Ansprüche bezüglich seiner überseeischen Besitzungen.« Die neuen britischen und französischen Kolonialräuber begründeten dies mit Deutschlands »Unfähigkeit zur Kolonisierung« und der besonderen Grausamkeit der deutschen Kolonialbeamten und -truppen.



Das deutsche Kolonialreich


Nick Brauns

Die ganze Kolonialpolitik ist ja Schwindel, aber wir brauchen sie für die Wahlen«, hatte der Realist Otto von Bismarck (1815–1898) gegenüber dem Auswärtigen Amt deutlich gemacht. Um mit Kolonialschwärmerei von innenpolitischen Problemen wie der sozialen Frage abzulenken, gab der Reichskanzler grünes Licht für überseeische Erwerbungen. Nach dem Motto »Die Fahne folgt dem Handel« sicherte sich das Reich solche Gebiete als »Schutzgebiete«, die deutsche Kaufleute mit List und Betrug bereits in ihren Besitz gebracht hatten. 1884 wurde das heutige Namibia besetzt und zum »Schutzgebiet« Deutsch-Südwestafrika erklärt. Es folgten »Schutzgebiete« in Togo und Kamerun sowie dem heutigen Tansania, das zusammen mit Teilen des heutigen Ruanda und Burundi zu Deutsch-Ostafrika zusammengefaßt wurde. Weitere Kolonien waren das Pachtgebiet Kiautschou in China, Samoa und eine Reihe von Südseeinseln inklusive eines großen Teils von Neuguinea, die sich das Reich in den Jahren 1897 bis 1899 aneignete.

Nachdem am grünen Tisch willkürliche Grenzen gezogen worden waren, folgte eine Phase der Landnahme und blutigen Befriedigung. Die beiden größten Kolonialkriege waren die Niederschlagung des Maji-Maji-Aufstandes in Ostafrika (1905–1907) und des Herero- und Nama-Aufstandes (1904–1907) in Südwestafrika. Von 80000 Hereros überlebten nur rund 15000 die koloniale Schlächterei. Mit der Gründung des Reichskolonialamtes wurde eine neue Phase eingeleitet, die in der wirtschaftlichen, verkehrstechnischen und verwaltungsrechtlichen Erschließung der Kolonien bestand.

Wirtschaftlich und bevölkerungspolitisch war die deutsche Kolonialherrschaft nicht rentabel. In einem Gesamtgebiet von 2,6 Millionen Quadratkilometern, d. h. der rund fünffachen Größe des Deutschen Reiches, lebten 1904 nur 5495 deutsche Siedler. 1911, als das deutsche Kolonialreich seine größte Ausdehnung erreicht hatte, waren es 21000, vor allem Soldaten, Polizisten, Verwaltungsbeamte und Missionare. Der Anteil der Kolonien am Außenhandel betrug in den letzten Vorkriegsjahren nie mehr als 0,5 Prozent, und deutsches Auslandskapital wurde statt in den Kolonien vornehmlich in Europa und im Nahen Osten angelegt.

Während die deutschen Kolonien als kostspieliges imperiales Prestigeobjekt dienten, hatte das deutsche Großkapital die Märkte und Rohstoffe entlang des Stranges der Bagdadbahn im zerfallenden Osmanischen Reich vor Augen, und Kriegszieldenkschriften träumten von einem bis weit nach Rußland reichenden Kontinentalreich.