junge Welt 11.11.2006 / Geschichte / Seite 15

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Marxistische Schulung

Klassenkampfausbildung statt Bildungssimpelei: Vor 100 Jahren wurde die sozialdemokratische Parteischule in Berlin eröffnet

Von Nick Brauns


Eine Folge der russischen Revolution von 1905 war das wachsende Interesse an sozialistischer Theorie auch innerhalb der deutschen Arbeiterbewegung. So wuchs die Zahl der Teilnehmer an Kursen der Arbeiterbildungsschule Berlin auf 1 282 im Schuljahr 1905/06 an, und sozialdemokratische Lese- und Debattierklubs verzeichneten einen Aufschwung. Es fehlte jedoch eine systematische theoretische Schulung und Kaderbildung in der Partei.

Der Teilnahmslosigkeit leitender Parteigenossen sei es zuzuschreiben, daß kaum zehn Prozent der Genossen Kenntnisse der marxistischen Gedankengänge besäßen, beklagte Alexander Kosiol in der Theoriezeitschrift Die Neue Zeit. »Die Frage der Vertiefung des sozialistischen Geistes rührt jedoch an den Lebensnerv der Partei, nichts ist von größerer Wichtigkeit für uns, als zu wissen, ob sich unsere Organisationen auf dem vagen, unberechenbaren Klassengefühl gebildet haben oder ob sie sich auf den festen unverrückbaren Pfeilern des proletarischen Klassenbewußtseins erheben.«

Als erste Maßnahme gegen das auch vom Parteivorsitzenden August Bebel erkannte Theoriedefizit wählte der Parteivorstand am 7. November 1906 einen Zentralbildungsausschuß, zu dessen Aufgaben die Erarbeitung von Programmen für Kulturveranstaltungen und Schulungen, die Vermittlung von Wanderlehrern sowie die Herausgabe von Unterrichtsmaterial gehörten.

Studium generale
Am 15. November 1906 eröffnete Bebel in Berlin den ersten Halbjahreskurs der neu geschaffenen sozialdemokratischen Parteischule. Ihre spezielle Aufgabe bestand nach seinen Worten in der fundamentalen Ausbildung »einer Reihe tätiger und geistig strebsamer Genossen«, um dem immer spürbareren Mangel an theoretisch geschulten Kräften abzuhelfen. Die Schule solle die Schüler mit denjenigen Wissensgebieten vertraut machen, die »zum Verständnis oder zur besseren Befestigung der sozialistischen Weltanschauung führen«, forderte der Obmann der Schule, Heinrich Schulz. Unterrichtet wurde in den Fächern Wirtschaftsgeschichte und Nationalökonomie, Soziologie, historischer Materialismus, deutsche Geschichte, Geschichte des Sozialismus, Rechtsfragen, Kommunalpolitik, Naturwissenschaften, Literatur, Rhetorik und Stilistik. Der Unterricht dauerte von acht bis 13 Uhr. Die Nachmittage standen für Selbststudien zur Verfügung. Dem Schüler sollte »die Methode des Denkens und Arbeitens« beigebracht werden, »damit er, wenn er in seinen Beruf zurückkehrt oder ein Parteiamt bekleidet, sich selbst weiterhelfen kann«.

Bis zum Ersten Weltkrieg bildete die Schule, deren Räume sich im Hinterhof eines Fabrikgebäudes in der Lindenstraße 3 befanden, in sieben Winterhalbjahreskursen insgesamt 203 Sozialdemokraten aus. Die Schüler waren fast alle Arbeiter oder Handwerker und wurden von ihren Partei- oder Gewerkschaftsorganisationen ausgewählt. Unterricht und Lehrmaterial waren kostenlos. Die Schüler erhielten ein monatliches Stipendium von 125 Mark. Waren sie verheiratet, bekamen auch ihre Familien eine finanzielle Beihilfe der Partei.

Die Berufung des Revisionisten Max Maurenbrecher zum Lehrer war durch den Widerstand Clara Zetkins in der Parteikontrollkommission sowie der Berliner Parteiorganisation verhindert worden. Von Anfang an sah sich die Parteischule nun den Angriffen der Parteirechten ausgesetzt. Nach deren Willen sollte der marxistische Bildungsinhalt durch eine vom Klassenkampf losgelöste Allgemeinbildung ersetzt werden. Demgegenüber warnte August Bebel ausdrücklich vor einer »Bildungssimpelei«, und Heinrich Schulz bestand auf eine »ausgesprochene Klassenkampfausbildung«.

»Agitatoren-Akademie«
Auch der politischen Polizei war die »vom Geiste des starren Marxismus beseelte Agitatoren-Akademie« ein Dorn im Auge. Spitzel beobachteten die Schule und beschafften »vertraulich« Stundenpläne und Lehrmaterialien. Mit der Drohung der Ausweisung vom preußischen Staatsgebiet zwang die Polizei im Juni 1907 den österreichischen Ökonomen Rudolf Hilferding und den holländischen Philosophen Anton Pannekoek, ihre Lehrtätigkeit einzustellen. Doch der Vorwärts behielt mit seiner Einschätzung Recht, »daß nicht nur der Ersatz, sondern auch die Art des Ersatzes bei der hohen Behörde nicht gerade angenehme Gefühle auslösen« würde. Der Historiker Franz Mehring konnte seine Unterrichtsstunden zu historischem Materialismus und deutscher Geschichte fast verdoppeln, und als neue Lehrerin für Nationalökonomie wurde Rosa Luxemburg eingestellt. Bei den Schülern erfreute sich die führende Theoretikerin der marxistischen Linken inhaltlich und methodisch allerhöchster Beliebtheit. Ihre Schriften »Einführung in die Nationalökonomie« und »Die Akkumulation des Kapitals« entstanden aus ihrer Lehrtätigkeit. Als 1912 auch der Österreicher Gustav Eckstein von der Polizei zur Beendigung seiner Lehrtätigkeit gezwungen wurde, übernahm der langjährige sozialistische Wanderlehrer Hermann Duncker das Fach Geschichte des Sozialismus. Zu seinem Unterrichtsstoff gehörten Vorlesungen über den utopischen Sozialismus, den englischen Chartismus, das Kommunistische Manifest, die Geschichte der Internationale, die Pariser Kommune und die Entwicklung der internationalen sozialistischen Bewegung.

Die weitere Rechtsentwicklung der deutschen Sozialdemokratie, die 1914 in der Zustimmung ihrer Reichstagsfraktion zu den Kriegskrediten gipfelte, konnte die Parteischule nicht aufhalten. Zu sehr hatten sich die reformistischen Tendenzen bereits im Parteiapparat und insbesondere unter den Mandatsträgern breitgemacht. Doch auf der Parteischule hatte inzwischen eine Reihe von Sozialdemokraten ihr marxistisches Rüstzeug erhalten, die wie Wilhelm Pieck, Fritz Heckert, Wilhelm Koenen, Georg Schumann oder Jacob Walcher nach dem Ersten Weltkrieg führende Positionen in der kommunistischen Bewegung einnahmen. Somit hatte die Parteischule erheblichen Anteil an der Herausbildung eines konsequent marxistischen Flügels innerhalb der Sozialdemokratie als Kern des Spartakusbundes und der KPD.

Quellentext: Paul Frölich über Rosa Luxemburg als Parteischullehrerin

»Sie war eine hervorragende Lehrerin. Nicht nur, weil sie ihr Gebiet souverän beherrschte. Sie war ein erstklassiges pädagogisches Talent. Schon als Schriftstellerin und Rednerin hatte dies einen Teil ihres Erfolgs ausgemacht, jetzt konnte es sich zur vollen Wirkung entfalten. Die Aufgabe war nicht leicht. Marx’ ›Kapital‹, das die Grundlage des Unterrichts bildete, ist kein populäres Lehrbuch; und das richtige Verständnis seiner Lehren setzte bereits große Kenntnisse auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiet voraus. Die Schüler aber waren aus verschiedenem Milieu bunt zusammengewürfelt: neben jungen Menschen, die frisch und unbeleckt waren, doch einmal die Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatten, alte erfahrene Parteiarbeiter, Leute aus den verschiedensten Berufen, Schlosser, Tischler, Tapezierer, Bergarbeiter, Parteisekretäre, Gewerkschafter, Hausfrauen, Intellektuelle; die meisten nur durch Agitationsschriften vorbereitet, selten einer an wissenschaftliches Denken gewöhnt. (...)

Sie behandelte zunächst die verschiedenen Wirtschaftsformen, ihre charakteristischen Merkmale, ihre Wandlungen und deren Ursachen. Im Zusammenhang damit wurden die wichtigsten ökonomischen Theorien vor und nach Marx untersucht. Schließlich, nachdem so in langen Wochen ein Gesamtbild der tatsächlichen Entwicklung der Produktions- und Austauschverhältnisse und ihrer Widerspiegelung in der bürgerlichen Wissenschaft erarbeitet war, wurden die Marxschen Lehren anhand des ›Kapitals‹ durchgearbeitet. Während des ganzen Kurses beschränkte die Lehrerin den Wissensstoff, den sie selbst zu geben hatte, aufs Notwendigste. Sie holte aus den Köpfen der Schüler, was dort an Kenntnissen und Vorstellungen lebte, und unterwarf sie durch immer neue Einwürfe und Fragen einer gründlichen Prüfung, bis sich das wirkliche Bild des Lebens gestaltete. So war vor allem der eigentliche Denkprozeß die Aufgabe der Schüler selbst. .(...) Es gab wohl einzelne, die mit Vorurteilen und dem Vorsatz zur Parteischule kamen: Mich wird sie nicht zum Ketzer machen! Rosa Luxemburg hat sie alle bezwungen, und selbst diejenigen, die später in der Arbeiterbewegung ihre Gegner wurden, zeigten doch, daß sie von Dankbarkeit und Verehrung für sie erfüllt waren. Sie eroberte die Menschen und erfüllte sie mit dem Reichtum marxistischer Gedanken und mit dem Willen zum Kampf für die Verwirklichung dieser Gedanken.«

zitiert nach: Paul Frölich: Rosa Luxemburg. Gedanke und Tat, Berlin: Dietz 1990, S.192 f.