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Marxistische Schulung
Klassenkampfausbildung statt Bildungssimpelei: Vor 100 Jahren wurde die sozialdemokratische
Parteischule in Berlin eröffnet
Von Nick Brauns
Eine Folge der russischen Revolution von 1905 war das wachsende Interesse an
sozialistischer Theorie auch innerhalb der deutschen Arbeiterbewegung. So wuchs
die Zahl der Teilnehmer an Kursen der Arbeiterbildungsschule Berlin auf
1 282 im Schuljahr 1905/06 an, und sozialdemokratische Lese- und
Debattierklubs verzeichneten einen Aufschwung. Es fehlte jedoch eine
systematische theoretische Schulung und Kaderbildung in der Partei.
Der Teilnahmslosigkeit leitender Parteigenossen sei es zuzuschreiben, daß kaum
zehn Prozent der Genossen Kenntnisse der marxistischen Gedankengänge besäßen,
beklagte Alexander Kosiol in der Theoriezeitschrift Die Neue Zeit. »Die Frage
der Vertiefung des sozialistischen Geistes rührt jedoch an den Lebensnerv der
Partei, nichts ist von größerer Wichtigkeit für uns, als zu wissen, ob sich
unsere Organisationen auf dem vagen, unberechenbaren Klassengefühl gebildet
haben oder ob sie sich auf den festen unverrückbaren Pfeilern des
proletarischen Klassenbewußtseins erheben.«
Als erste Maßnahme gegen das auch vom Parteivorsitzenden August Bebel erkannte
Theoriedefizit wählte der Parteivorstand am 7. November 1906 einen
Zentralbildungsausschuß, zu dessen Aufgaben die Erarbeitung von Programmen für
Kulturveranstaltungen und Schulungen, die Vermittlung von Wanderlehrern sowie
die Herausgabe von Unterrichtsmaterial gehörten.
Studium generale
Am 15. November 1906 eröffnete Bebel in Berlin den ersten Halbjahreskurs der
neu geschaffenen sozialdemokratischen Parteischule. Ihre spezielle Aufgabe
bestand nach seinen Worten in der fundamentalen Ausbildung »einer Reihe tätiger
und geistig strebsamer Genossen«, um dem immer spürbareren Mangel an
theoretisch geschulten Kräften abzuhelfen. Die Schule solle die Schüler mit
denjenigen Wissensgebieten vertraut machen, die »zum Verständnis oder zur
besseren Befestigung der sozialistischen Weltanschauung führen«, forderte der
Obmann der Schule, Heinrich Schulz. Unterrichtet wurde in den Fächern
Wirtschaftsgeschichte und Nationalökonomie, Soziologie, historischer
Materialismus, deutsche Geschichte, Geschichte des Sozialismus, Rechtsfragen,
Kommunalpolitik, Naturwissenschaften, Literatur, Rhetorik und Stilistik. Der
Unterricht dauerte von acht bis 13 Uhr. Die Nachmittage standen für
Selbststudien zur Verfügung. Dem Schüler sollte »die Methode des Denkens und
Arbeitens« beigebracht werden, »damit er, wenn er in seinen Beruf zurückkehrt
oder ein Parteiamt bekleidet, sich selbst weiterhelfen kann«.
Bis zum Ersten Weltkrieg bildete die Schule, deren Räume sich im Hinterhof
eines Fabrikgebäudes in der Lindenstraße 3 befanden, in sieben
Winterhalbjahreskursen insgesamt 203 Sozialdemokraten aus. Die Schüler waren
fast alle Arbeiter oder Handwerker und wurden von ihren Partei- oder
Gewerkschaftsorganisationen ausgewählt. Unterricht und Lehrmaterial waren
kostenlos. Die Schüler erhielten ein monatliches Stipendium von 125 Mark. Waren
sie verheiratet, bekamen auch ihre Familien eine finanzielle Beihilfe der
Partei.
Die Berufung des Revisionisten Max Maurenbrecher zum Lehrer war durch den
Widerstand Clara Zetkins in der Parteikontrollkommission sowie der Berliner
Parteiorganisation verhindert worden. Von Anfang an sah sich die Parteischule
nun den Angriffen der Parteirechten ausgesetzt. Nach deren Willen sollte der
marxistische Bildungsinhalt durch eine vom Klassenkampf losgelöste Allgemeinbildung
ersetzt werden. Demgegenüber warnte August Bebel ausdrücklich vor einer
»Bildungssimpelei«, und Heinrich Schulz bestand auf eine »ausgesprochene
Klassenkampfausbildung«.
»Agitatoren-Akademie«
Auch der politischen Polizei war die »vom Geiste des starren Marxismus beseelte
Agitatoren-Akademie« ein Dorn im Auge. Spitzel beobachteten die Schule und
beschafften »vertraulich« Stundenpläne und Lehrmaterialien. Mit der Drohung der
Ausweisung vom preußischen Staatsgebiet zwang die Polizei im Juni 1907 den österreichischen
Ökonomen Rudolf Hilferding und den holländischen Philosophen Anton Pannekoek,
ihre Lehrtätigkeit einzustellen. Doch der Vorwärts behielt mit seiner
Einschätzung Recht, »daß nicht nur der Ersatz, sondern auch die Art des
Ersatzes bei der hohen Behörde nicht gerade angenehme Gefühle auslösen« würde.
Der Historiker Franz Mehring konnte seine Unterrichtsstunden zu historischem
Materialismus und deutscher Geschichte fast verdoppeln, und als neue Lehrerin
für Nationalökonomie wurde Rosa Luxemburg eingestellt. Bei den Schülern
erfreute sich die führende Theoretikerin der marxistischen Linken inhaltlich
und methodisch allerhöchster Beliebtheit. Ihre Schriften »Einführung in die
Nationalökonomie« und »Die Akkumulation des Kapitals« entstanden aus ihrer
Lehrtätigkeit. Als 1912 auch der Österreicher Gustav Eckstein von der Polizei
zur Beendigung seiner Lehrtätigkeit gezwungen wurde, übernahm der langjährige
sozialistische Wanderlehrer Hermann Duncker das Fach Geschichte des
Sozialismus. Zu seinem Unterrichtsstoff gehörten Vorlesungen über den
utopischen Sozialismus, den englischen Chartismus, das Kommunistische Manifest,
die Geschichte der Internationale, die Pariser Kommune und die Entwicklung der
internationalen sozialistischen Bewegung.
Die weitere Rechtsentwicklung der deutschen Sozialdemokratie, die 1914 in der
Zustimmung ihrer Reichstagsfraktion zu den Kriegskrediten gipfelte, konnte die
Parteischule nicht aufhalten. Zu sehr hatten sich die reformistischen Tendenzen
bereits im Parteiapparat und insbesondere unter den Mandatsträgern
breitgemacht. Doch auf der Parteischule hatte inzwischen eine Reihe von
Sozialdemokraten ihr marxistisches Rüstzeug erhalten, die wie Wilhelm Pieck,
Fritz Heckert, Wilhelm Koenen, Georg Schumann oder Jacob Walcher nach dem
Ersten Weltkrieg führende Positionen in der kommunistischen Bewegung einnahmen.
Somit hatte die Parteischule erheblichen Anteil an der Herausbildung eines
konsequent marxistischen Flügels innerhalb der Sozialdemokratie als Kern des
Spartakusbundes und der KPD.
Quellentext: Paul Frölich über Rosa Luxemburg als Parteischullehrerin
»Sie war eine hervorragende Lehrerin. Nicht nur, weil sie
ihr Gebiet souverän beherrschte. Sie war ein erstklassiges pädagogisches
Talent. Schon als Schriftstellerin und Rednerin hatte dies einen Teil ihres
Erfolgs ausgemacht, jetzt konnte es sich zur vollen Wirkung entfalten. Die
Aufgabe war nicht leicht. Marx’ ›Kapital‹, das die Grundlage des Unterrichts
bildete, ist kein populäres Lehrbuch; und das richtige Verständnis seiner Lehren
setzte bereits große Kenntnisse auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiet
voraus. Die Schüler aber waren aus verschiedenem Milieu bunt zusammengewürfelt:
neben jungen Menschen, die frisch und unbeleckt waren, doch einmal die
Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatten, alte erfahrene Parteiarbeiter, Leute
aus den verschiedensten Berufen, Schlosser, Tischler, Tapezierer, Bergarbeiter,
Parteisekretäre, Gewerkschafter, Hausfrauen, Intellektuelle; die meisten nur
durch Agitationsschriften vorbereitet, selten einer an wissenschaftliches
Denken gewöhnt. (...)
Sie behandelte zunächst die verschiedenen Wirtschaftsformen, ihre
charakteristischen Merkmale, ihre Wandlungen und deren Ursachen. Im
Zusammenhang damit wurden die wichtigsten ökonomischen Theorien vor und nach
Marx untersucht. Schließlich, nachdem so in langen Wochen ein Gesamtbild der
tatsächlichen Entwicklung der Produktions- und Austauschverhältnisse und ihrer
Widerspiegelung in der bürgerlichen Wissenschaft erarbeitet war, wurden die
Marxschen Lehren anhand des ›Kapitals‹ durchgearbeitet. Während des ganzen
Kurses beschränkte die Lehrerin den Wissensstoff, den sie selbst zu geben
hatte, aufs Notwendigste. Sie holte aus den Köpfen der Schüler, was dort an
Kenntnissen und Vorstellungen lebte, und unterwarf sie durch immer neue
Einwürfe und Fragen einer gründlichen Prüfung, bis sich das wirkliche Bild des
Lebens gestaltete. So war vor allem der eigentliche Denkprozeß die Aufgabe der
Schüler selbst. .(...) Es gab wohl einzelne, die mit Vorurteilen und dem Vorsatz
zur Parteischule kamen: Mich wird sie nicht zum Ketzer machen! Rosa Luxemburg
hat sie alle bezwungen, und selbst diejenigen, die später in der
Arbeiterbewegung ihre Gegner wurden, zeigten doch, daß sie von Dankbarkeit und
Verehrung für sie erfüllt waren. Sie eroberte die Menschen und erfüllte sie mit
dem Reichtum marxistischer Gedanken und mit dem Willen zum Kampf für die
Verwirklichung dieser Gedanken.«
zitiert nach: Paul Frölich: Rosa Luxemburg. Gedanke und Tat, Berlin: Dietz
1990, S.192 f.