"Escalation" und "Emanzipation"

Literatur um 1968 im Marbacher Literaturarchiv

 

"Protest! Literatur um 1968" ist der Titel der Jahresausstellung 1998 des Deutschen Literaturarchivs in Marbach. Eine Revolte, sorgsam archiviert hinter Glas - so ist der erste Eindruck. An der Wand das bekannte "Alle reden vom Wetter"-Plakat des SDS, gegenüber eine Vietkongfahne. Doch der Eindruck täuscht. Weit mehr als die Klischees der Studentenrevolte haben die Ausstellungsmacher des Marbacher Literaturarchivs in Zusammenarbeit mit dem Germanistischen Seminar der Uni Heidelberg und dem Deutschen Rundfunkarchiv geleistet. Das Zusammenspiel von Literatur und Gesellschaft, Kultur und Politik von den frühen 60er Jahren bis Mitte der 70er Jahre wird anhand von Büchern, Flugblättern, Zeitungsausschnitten, Briefen, Photos, Plakaten und Videobändern dokumentiert. Nicht durch einem chronologisch-linearer Ablauf, sondern gegliedert in Haupt- und Unterthemen nähert man sich den unterschiedlichen Facetten des Themas an.

"Escalation", also die als stufenweise Verschärfung des politischen Klimas bis hin zu den Höhepunkten des Pariser Maiaufstandes und der Niederschlagung des Prager Frühlings ist so ein Hauptbereich.  Ein Exemplar des Godesberger Programms der SPD trägt handschriftliche Anmerkungen Theodor Adornos. Nach der Formulierung "Diese neue und bessere Ordnung erstrebt der demokratische Sozialismus" fragte sich der Philosoph: "Innerhalb des bestehenden Demos?". Daneben ein Brief  Stephan Hermlins an den tschechoslowakischen Botschafter vom 25.Juli 1969: "Ich empfinde als deutscher Kommunist die Drohungen gegenüber einem Volk, in dessen Schuld wir weiter stehen ... als persönliche Schmach." Natürlich darf auch die Gruppe 47 nicht fehlen und der Wahlkontor deutscher Schriftsteller um Günter Grass.

Eine Anzeige vom März 1965 gibt die Verlobung von Bernward Vesper mit Gudrun Ensslin bekannt. Sie symbolisieren "Escalation" im persönlichen Bereich. Die beiden Studenten arbeiten an der Herausgabe des Werkes von Bernwards Vater Willi Vesper, einem Hofdichter der Nazis. Zugleich veröffentlichen sie die Anthologie "Reden wider den Tod" mit Texten pazifistischer Autoren. Gudrun Ensslin wird später Protagonistin des bewaffneten Kampfes. Vesper begeht 1971 Selbstmord - innerlich zerrissen als "Kind von Marx und Coca Cola, von Hitler und LSD".  Zu sehen ist das Typoskript zu Vespers Autobiographie "Die Reise". Das im März-Verlag erschienene Buch ist der Spiegel einer Generation in ihren Widersprüchen.

"Die politische Alphabetisierung Deutschlands" hatte Hans Magnus Enzensberger im Kursbuch gefordert. Der Alphabetisierungskanon steht aufgereiht: Günter Wallraffs Fabrikreportagen, Bahman Nirumands Persien-Buch, Ulrike Meinhof Kolumnen aus der konkret (damals noch mit Playgirls auf dem Cover), und natürlich die regenbogenfarbenen Titel der edition suhrkamp, die auf keinem studentische Nachtschrank fehlen durften.

Auch die Frankfurter Buchmesse wurde in den Jahren 1967 und `68 zum Schauplatz politischer Auseinandersetzungen. Zuerst sollten DDR-Verlage ausgeschlossen werden, dann beschlagnahmte die Polizei beim Staatsverlag der DDR das "Braunbuch" über die NS-Vergangenheit führender BRD-Politiker. Linkstendenzen in der Buchbranche werden deutlich, als mit dem Philosophen Erst Bloch erstmals ein bekennender Marxist den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhält. Als im Jahr 1968 der Preis an den senegalesischen Präsidenten Sédar Senghor geht, der gewaltsam Studentenproteste in seinem Land niederschlagen ließ, protestiert der SDS. Es kommt zu Ausschreitungen und massiven Polizeieinsätzen. Nur mit knapper Not konnte ein Auseinanderbrechen des Börsenvereins an der Frage der Polizeipräsenz auf der Messe verhindert werden.

In die Buchbranche kommt Bewegung. Von der Analyse des "Warencharakters der Literatur" ausgehend kommt die Forderung nach Autorenmitbestimmung in den Verlagen. Erste gewerkschaftliche Organisierung im Verband der Schriftsteller und unterschiedliche Mitbestimmungsmodelle wie der Verlag der Autoren und die Autoren-Edition folgten. Mit Raubdrucken - in der Ausstellung mit Absicht frei zugänglich - soll vergriffene marxistische und psychoanalytische Literatur billig unter das Volk und in die neugegründeten K-Gruppen gelangen. Wilhelm Reichs "Was ist Klassenbewußtsein" gehörte zu den Bestsellern auf dem illegalen Markt.

Hinter dem Themenbereich "Emanzipationen" verbirgt sich die Literatur der neuen sozialen Bewegungen. Das "Kinderbuch für kommende Revolutionäre" und die "Rote Schülerfibel" werden ebenso präsentiert, wie die "Sexfront"- Literatur, mit ihrer Verbindung aus Marx und Freud und das Entstehen des Verlages Frauenoffensive.

Eine eigene Abteilung ist dem MÄRZ-Verlag gewidmet. Dieser Verlag des ehemaligen Melzer-Lektors Jörg Schröder präsentiert sich mit seinem Programm als der eigentliche kulturrevolutionäre Verlag der Epoche. Im knalligen Gelb mit dem großen MÄRZ-Logo erschienen so prägende Werke wie Vespers "Reise", Edward Snows "Roter Stern über China", Günter Amendts "Sex-Front" und die Sammlung ACID.

Verlage wie Rowolth, Fischer und Bertelsmann integrierten bald die profitversprechende Revolution in ihr Programm. Zu Recht warnte Ralf-Rainer Rygulla schon 1967 in einer im sozialistischen Oberbaumverlag erschienen Sammlung radikaler US-Autoren, "daß diese Anthologie schnell gelesen werden sollte, denn schon gibt es Anzeichen für die Gesellschaftsfähigkeit, für die kommerzielle Etablierung, für den Verfall des Undergrounds."

Hält man den 670 (!) Seiten dicken Ausstellungskatalog in der Hand, ist man versucht, in der Ausstellung selber lediglich eine Ergänzung zu diesem Werk zu sehen. Äußerlich im Stil eines Raubdruckes gehalten, präsentiert sich der Katalog als eine Quellensammlung erster Güte. Im Original schwer lesbare handschriftlichen Ausstellungsstücke werden hier entschlüsselt. Ein zusammenfassender Essay von Helmuth Kiesel inklusive einer Bibliographie mit Sekundärliteratur schließt den Katalog ab.

Der Gefahr einer Historisierung der Epoche traten übrigens zur Ausstellungseröffnung im Mai einige Demonstranten entgegen, die auf Flugblättern erklärten "Von wegen `68 - wir sind noch nicht zu Ende."

 

Nick Brauns

 

Die Ausstellung ist bis zum 30.November täglich von 9 bis 17. Uhr geöffnet.

Der Katalog kostet DM 40.-

Schiller-Nationalmuseum

Schillerhöhe 8-10

71672 Marbach a.N.