Opfer politischer Hysterie
Vor 75 Jahren wurden trotz weltweiter Proteste Sacco und Vanzetti hingerichtet
»Lang lebe die
Anarchie«, rief Nicola Sacco, als ihn Wachmänner an den elektrischen Stuhl
fesselten. Bartolomeo Vanzetti verabschiedete sich mit einem Händedruck vom
Direktor des Staatsgefängnisses von Massachusetts und beteuerte noch einmal
seine Unschuld. Dann töteten auch ihn die Stromstöße. In der Nacht vom 22. zum
23. August 1927, kurz nach Mitternacht, ging mit der Hinrichtung zweier Unschuldiger
ein siebenjähriger Justizskandal zu Ende, der wie kaum ein anderer Fall die
klassenbewußten Arbeiter in aller Welt bewegt hatte und in erschütternder Weise
an das Schicksal des noch heute in der Todeszelle sitzenden afroamerikanischen
Journalisten Mumia Abu-Jamal erinnert.
Unter dem Eindruck der russischen Oktoberrevolution hatte der US-Kongreß 1920
drei Millionen Dollar »zum Schutze der Staaten gegen Verbrechen« gewährt. In
der Folge kam es zu einer Hexenjagd gegen »Rote« und »Anarchisten« im ganzen
Land. Politisch oder gewerkschaftlich aktive Arbeitsemigranten wurden in ihre
Herkunftsländer abgeschoben. Anfang Mai 1920 verhaftete die Polizei auch die
italienischstämmigen Anarchisten Sacco und Vanzetti.
Gegen den Fischhändler Vanzetti wurde Anklage wegen Raubes und Mordversuchs am
Kassierer einer Schuhfabrik erhoben. Obwohl 18 Entlastungszeugen angaben, zur
Tatzeit bei Vanzetti Fische gekauft zu haben, wurde er zu zwölf Jahren
Zuchthaus verurteilt. »Auch wenn er das Verbrechen, das ihm zugeschrieben wird,
nicht begangen haben sollte, ist er trotzdem der moralische Schuldige, denn er
ist ein Feind unserer bestehenden Einrichtungen«, hatte der Richter erklärt.
Nachdem Vanzetti auf diese Weise vorbestraft war, wurde gegen ihn und den
Schuhschneider Sacco Anklage wegen Mordes im Falle eines unaufgeklärten
Überfalls in South Braintree erhoben. Am 31. Mai 1920 begann im Gericht von
Dedham in Massachusetts der Prozeß unter der Leitung von Richter Webster
Thayer. 105 der 160 Zeugen sagten zugunsten von Sacco und Vanzetti aus, während
sich die Zeugen der Anklage in Widersprüche verwickelten oder ihre Aussagen
später zurückzogen. Ein Konsulatsangestellter bestätigte, daß Sacco zur Tatzeit
wegen einer Paßangelegenheit im italienischen Konsulat war, und Vanzetti konnte
nachweisen, entfernt vom Tatort Fische verkauft zu haben. Ballistikexperten
fanden keine Hinweise, daß die Waffen der Angeklagten mit den Tatwaffen
identisch waren. Diese Widersprüchlichkeiten versuchte Staatsanwalt Katzmann zu
umgehen, indem er Sacco und Vanzetti »unamerikanisches« Verhalten wegen ihrer
Flucht vor dem Militärdienst während des Krieges vorwarf. Nach 30 Prozeßtagen
plädierten die Geschworenen auf »schuldig« wegen Mordes.
In seltener Einheit protestierten anarchistische, kommunistische und
sozialdemokratische Organisationen in aller Welt gegen das politisch motivierte
Urteil an den zwei Arbeiteraktivisten. Insbesondere die Sektionen der 1921 zur
Unterstützung von Opfern der Klassenjustiz gegründeten Internationalen Roten
Hilfe organisierten weltweite Proteste. »Ich darf Euere Exzellenz ergebenst
darauf aufmerksam machen, daß die Sympathie politisch denkender und aktiver
Schichten Deutschlands durchaus auf seiten der Verurteilten ist. Die Verletzung
der einfachsten Menschenrechte bedarf einer Reparatur; die Begnadigung der
beiden Leute ist in unseren Augen das mindeste, was von der amerikanischen
Regierung erwartet wird.« So wie Kurt Tucholsky schrieben viele Intellektuelle
und Betriebsbelegschaften Telegramme an den US-amerikanischen Botschafter.
Obwohl der zum Tode verurteilte Celestino Madeiros, der an dem Überfall auf die
Geldboten beteiligt war, versicherte, daß Sacco und Vanzetti mit der
Angelegenheit nichts zu tun hatten, lehnte der Oberste Staatsgerichtshof von
Massachusetts im Mai 1926 einen Wiederaufnahmeantrag ab. Während einer
richterlichen Anhörung im September 1926, bei der 61 eidesstattliche
Erklärungen für die Unschuld Saccos und Vanzettis vorgelegt wurden, gelangten
Enthüllungen über die Einschleusung polizeilicher Spitzel in die amerikanischen
Sacco-Vanzetti-Komitees an die Öffentlichkeit. Unter Eid erklärte ein früherer
Justizagent, daß die Bundesbehörden von der Unschuld der Angeklagten wußten und
trotzdem auf deren Hinrichtung hinarbeiteten. Diese Enthüllungen führten zu
einem Umschwung der öffentlichen Meinung selbst in der bürgerlichen Presse der
USA. Ein Gesuch zur Wiederaufnahme des Verfahrens aber wurde abgelehnt und die
Vollstreckung des Todesurteils für den 10. Juli verkündet.
Aufgrund der Proteste und Appelle - über 50 Millionen Menschen hatten in aller
Welt bis dahin individuell oder kollektiv 110000 Protesterklärungen gegen die
Hinrichtung von Sacco und Vanzetti verabschiedet - setzte der Gouverneur von
Massachusetts, Alvin Fuller, den Hinrichtungstermin aus und beauftragte einen
hinter verschlossenen Türen tagenden Untersuchungsausschuß unter Leitung des
Harvard-Präsidenten A. Lawrence Lowell mit der Überprüfung des Verfahrens. Doch
die Untersuchungskommission, zu der nicht einmal die Anwälte der Verurteilten
zugelassen waren, bestätigte das Todesurteil. Die Hinrichtung wurde auf den 22.
August 1927 festgesetzt.
In Deutschland begaben sich Anfang August 1927 auf Initiative der Roten Hilfe
200 Protestdelegationen zur Berliner US-Botschaft. Am 9. August legten die
Beschäftigten vieler Berliner Betriebe mehrere Stunden die Arbeit nieder.
Bauarbeiter hängten Plakate mit der Losung »Proteststreik für Sacco und
Vanzetti« an Baugerüste. 40 kommunistische, sozialistische, gewerkschaftliche,
anarchistische, pazifistische und humanistische Organisationen hatten zum Tag
der geplanten Hinrichtung zu Demonstrationen in 24 Berliner Stadtbezirken
aufgerufen, an denen sich auch mehrere Betriebsbelegschaften beteiligten.
Berliner Arbeiter hielten in der Nacht vom 22. auf den 23. August »Totenwache«
vor der US-Botschaft.
In den frühen Morgenstunden des 23. August protestierte die KPD mit
Agitprop-Lastwagen gegen den Justizmord. Ruhrbergarbeiter hielten
Belegschaftsversammlungen in Zechen ab, und die Arbeiter der Mannheimer
Benz-Werke traten in einen 15minütigen Streik. In Halle galoppierten berittene
Polizisten gegen die Demonstranten. In Leipzig und Hamburg schoß die Polizei in
die Menge, es gab Tote und Verletzte. Eine mächtige Trauerkundgebung mit bis zu
150000 Teilnehmern im Berliner Lustgarten, zu der die KPD am 24. August
aufgerufen hatte, gehörte zu den größten Massendemonstrationen der Weimarer
Republik.
Proteststürme gegen den Justizmord im amerikanischen Massachusetts
erschütterten auch London, Kopenhagen und Paris. In Paraguay und Australien
riefen Gewerkschaften zum Generalstreik auf.
Eine teilweise Rehabilitierung der Hingerichteten erfolgte zum 50. Jahrestag
des Justizmordes. Der damalige Gouverneur von Massachusetts, Michael J.
Dukakis, erklärte den 23. August 1977 zum »Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti
Memorial Day«, weil die Hingerichteten »keinen fairen Prozeß hatten, weil
Richter und Staatsanwalt voreingenommen gegen Ausländer und Dissidenten waren,
weil im Prozeß ein Klima politischer Hysterie geherrscht hat«.
Nick Brauns
Junge Welt 17.08.2002