Bürgerkrieg als Option?

 

Bericht eines Teilnehmers der Süddeutschen Newroz-Delegation 2005

 

Ein wichtiges Indiz für Fortschritte bei der Demokratisierung der Türkei ist der Verlauf der kurdischen Newroz-Feste am 21. März. Nachdem es in den 1990er Jahren immer wieder zu Verboten und blutigen Massakern des Militärs gekommen war, beteiligen sich inzwischen Menschenrechtsaktivisten aus vielen Ländern als Beobachter an den Festen. Auch Mitglieder der Roten Hilfe aus Hamburg und München nahmen dieses Jahr an Newroz-Delegationen in die kurdischen Landesteile der Türkei teil.

 

Die diesjährigen Newroz-Feste waren fast überall von den staatlichen Behörden genehmigt worden. Nur in Dersim versagte der Gouverneur eine Genehmigung, da in der Anmeldung nicht die offizielle türkische Schreibweise „Nevruz“ sondern das kurdische Wort Newroz verwendet wurde. Wohl aufgrund einer größeren Zahl von Beobachtern aus mehreren europäischen Ländern verliefen die Newroz-Feste fast überall friedlich.

 

In Sirnak fuhren allerdings vor Festbeginn Panzerwagen auf. MG-Schützen gingen auf den Hausdächern um den Festplatz in Stellung. Aber auch hier, wo wenige Woche vorher fünf Jugendliche vom Militär verschleppt und zu Tode gefoltert wurden, versagte die Einschüchterung und über 5000 Menschen strömten auf den Festplatz strömten. Selbst als ein Vermummter die Fahne der PKK in der Mitte des Platzes schwenkte und Bilder von Abdullah Öcalan gezeigt wurden, griff die Polizei nicht ein. Ähnlich war die Lage in den anderen Städten, wo wie in Batman Hunderttausende oder in Diyarbakir sogar eine Million Menschen feierten.

 

Als die meisten ausländischen Delegationen abgereist waren, wurde bekannt, daß die Staatsanwaltschaft Ermittlungen gegen die Newroz-Komitees wegen der gezeigten PKK-Symbole eingeleitet habe. Auch Mitglieder einer norwegischen Menschenrechtsdelegation werden wegen Separatismus angeklagt, weil sie angeblich auf dem Newroz in Diyarbakir Abdullah Öcalan hochleben ließen.

 

Fahnenzwischenfall

 

In der Stadt Mersin kam es im Anschluß an das Newrozfest zu Auseinandersetzungen zwischen kurdischen Demonstranten, türkischen Nationalisten und der Polizei als einem Anhänger der faschistischen Grauen Wölfe eine türkische Fahne entrissen und von Kindern auf den Boden geschmissen wurde. Die Polizei riegelte einen ganzen Stadtteil ab und ließ am folgenden Tag die an dem Vorfall beteiligten Kinder verhaften. Ein Dreizehnjähriger wurde auf dem Schulhof verhaftet und in Schuluniform zum Verhör der Antiterrorabteilung der Polizei von Mersin gebracht. Die Anschuldigung lautet auf „Rufen von Parolen im Namen einer separatistischen Organisation, Steine werfen auf Sicherheitskräfte, Angriff auf die türkische Fahne sowie Durchführung illegaler Straßendemonstrationen mit terroristischen Zielen“. Die Jugendlichen kamen nach internationalen Protesten unter anderem von Amnesty International erst nach einer Woche wieder frei.

 

Der im Fernsehen übertragene Fahnenzwischenfall wurde von der Regierung, der Armeeführung und faschistischen Gruppen für eine nationalistische Hetzkampagne genutzt, in der Kurden als „so genannte Bürger“ diffamiert wurde. Die PKK würde die EU-Beitrittsverhandlungen für ihre gegen die Türkei gerichteten „separatistischen“ und „terroristischen“ Ziele ausnutzen. „Die türkischen Streitkräfte sind wie ihre Vorfahren bereit, ihren letzten Blutstropfen zu opfern, um das Vaterland und seine Fahne zu verteidigen“, erklärte der Generalstabschef.  In mehreren Städten wurden Anschläge auf Büros der kurdischen Demokratiepartei des Volkes (DEHAP) verübt. Vom Militär wurde Druck gemacht, neben öffentliche Gebäude und Offizierswohnungen auch Läden und Privatwohnungen mit türkischen Fahnen zu beflaggen. Landesweit veranstalteten staatliche Stellen zusammen mit nationalistischen Parteien wie den Grauen Wölfen Fahnenmärsche. In der kurdischen Metropole Diyarbakir stellten neben zwangsweise dorthin befohlenen Lehrern Soldaten in Zivilkleidung die Masse der Teilnehmer. Die DEHAP und andere zivilgesellschaftliche Organisationen werteten den Fahnenzwischenfall als bewußte Provokation angesichts der millionenfachen Beteiligung am Newroz-Fest.

Zusätzlich aufgeheizt wurde das Klima durch Enthüllungen der Tageszeitung „The New Anatolian“, wonach – offensichtlich mit dem Wissen staatlicher Stellen – wöchentlich Lastwagenladungen mit Waffen an die Grauen Wölfe und andere faschistische Kreise geliefert würden, um Angriffe auf kurdische Bürger vorzubereiten.

In Schwarzmeerstadt Trabzon versuchte ein nationalistischer Mob von über 1000 in wenigen Minuten zusammengeströmten Menschen Mitte April, Flugblattverteiler des Hilfsvereins für politische Gefangene Tayad zu lynchen. Zuvor was das Gerücht verbreitet worden, die Tayad-Unterstützer seien Kurden, die eine türkische Fahne verbrennen wollten. Die Polizei rettete den Angegriffenen mit einem Panzerwagen zwar das Leben, anschließend wurden diese jedoch wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses für eine Woche inhaftiert, während der Lynchmob straffrei ausging.

 

Militäroffensive

 

Die nationalistische Kampagne diente zugleich als propagandistische Vorbereitung für eine in der Woche nach Newroz angelaufene militärische Großoffensive gegen die PKK-Guerilla. In den Provinzen Sirnak, Siirt und Mardin, aber auch Diyarbakir, Bingöl und Dersim begannen die größten Operationen seit sechs Jahren, bei denen auch Kampfflugzeuge und Hubschrauber eingesetzt wurde. Während die Armee Mitte April von mehr als 30 getöteten PKK-Kämpfern sprach, hieß es in einer Erklärung der Kurdischen Volksverteidigungskräfte, die Operation sei mit 121 getöteten Soldaten und lediglich 14 gefallenen Guerillakämpfern ein Desaster für die Armee. Fünf Guerillakämpferinnen und Kämpfer seien bei einer Operation am Cudi-Berg in der Provinz Sirnak am 1. April durch den Einsatz von völkerrechtlich geächteten chemischen Kampfstoffen ermordet worden, hieß es in einer Meldung der Mesopotamischen Nachrichtenagentur.

 

Lebende Schutzschilde

 

Teilnehmer einer Hamburger Newroz-Delegation, darunter Mitglieder der Roten Hilfe, schlossen sich der kurdisch-türkischen Friedensinitiative „Lebende Schutzschilde“ an. Die Teilnehmer der Schutzschildkampagne hatten bereits im vergangenen Herbst versucht, in die Kampfgebiete an den Gabar-Bergen zu fahren, um dort für ein Ende der Gewalt und eine politische Lösung der kurdischen Frage zu werben. Die Schutzschildaktivisten seinen Militär festgenommen und mit Holzknüppeln so verprügelt, daß mehrere von ihnen ohnmächtig wurden, berichtet Umut Zafer, der in Siirt eine Gruppe von 20 Schutzschilden organisiert hat. Anschließend wurde sie wegen „moralischer Unterstützung der PKK“ zu einmonatigen Haftstrafen verurteilt.

 

Auch jetzt stoppte das Militär den Buskonvoi der Schutzschilde alle paar Kilometer, durchsuchte die Insassen und nahm sie schließlich fest. Der Hamburger Journalist Martin Dolzer wurde von der Gruppe getrennt, stundenlang verhört und schließlich nach Deutschland abgeschoben. „Über die 27 Verhafteten unserer Gruppe hinaus wurden in Adana 70 Demonstranten brutal verprügelt und verhaftet; eine über 60jährige Frau wurde schwer verletzt. Ich mache mir große Sorgen um die Verhafteten, sie haben weit mehr zu befürchten als das, was mir widerfuhr. In der Türkei werden die Menschenrechte noch immer mit Füßen getreten“, erklärte Dolzer nach seiner erzwungenen Rückkehr.

 

„Dorfschützer“

 

Neben den Kräften der Armee beteiligten sich in Sirnak und Siirt auch rund 2000 kurdische „Dorfschützer“ an den Operationen. Mehrfach sehen wir diese mit Kalaschnikows bewaffnete Zivilisten am Straßenrand. Noch immer gibt es mindestens 60.000 dieser vom Staat mit Geld oder Zwang gegen die PKK rekrutierten Paramilitärs, die Anhänger der DEHAP aus ihren Dörfern vertreiben und anschließend deren Äcker besetzen. Wenige Tage vor dem diesjährigen Newrozfest erschossen „Dorfschützer“ in Kiziltepe einen 13jährigen Hirtenjungen. Und in der Provinz von Diyarbakir verletzten „Dorfschützer“ in der folgenden Woche mit Gewehrschüssen einen Bürgermeister und zündeten sein Haus an, weil er bei der Wahl diesen bisher vom Chef des Dorfschützerclans gehaltenen Posten gewonnen hatte. Nach Informationen der Tageszeitung Özgür Politika haben allerdings nach Warnungen der Guerilla im April 72 Dorfschützer in der Provinz Sirnak ihre Waffen niedergelegt.

 

Aufgrund seiner politischen Aktivitäten wurde vor 15 Jahren auch Ahmet Arslan durch die Männer des „Dorfschützers“ Faik Yilmaz aus seinem Dorf Salkum Baglar in der Provinz Siirt vertrieben. Die Gebäude seines Bauernhofs sind inzwischen eingestürzt, seine Felder werden von den Familien der „Dorfschützer“ widerrechtlich genutzt. Staatlich unterstützte Rückkehrprojekte berücksichtigen allein die Sicherheitsinteressen der Militärs, erzählt Arslan, der heute dem Parteirat der DEHAP angehört. Ausschließlich staatstreue Kurden durften bisher in geräumte Dörfer zurück.. Gelder aus EU-Hilfsfonds zur Rückkehr in die Dörfer kämen daher allein den Dorschützerfamilien zugute. »Wir brauchen keine finanziellen Hilfen, sondern Sicherheitsgarantien, um dauerhaft Landwirtschaft betreiben zu können.« Die Auflösung des Dorfschützersystems ist daher eine zentrale Forderung von Göc-Der, dem Verein für kurdische Binnenflüchtlinge.

 

Eine Parlamentskommission gab die Zahl der in den 90er Jahren vom Militär zerstörten kurdischen Dörfer mit 3428 an. Drei Millionen Menschen wurde dabei vertrieben, die Mehrzahl lebt jetzt als Binnenflüchtlinge ohne Arbeit und Perspektive in den Slums oder Hochhausghettos um die großen kurdischen Städte wie Diyarbakir und Batman, aber auch in der Westtürkei in Ankara, Izmir und Istanbul.

 

Bis Sommer vergangenen Jahres wurden Rückkehrer in die Dörfer gezwungen zu unterschreiben, daß ihre Häuser von der PKK zerstört wurden und sie auf Entschädigungsansprüche gegenüber dem Staat verzichten. Ein im Juli 2004 erlassenes Gesetz über „Schäden im Rahmen der Terrorbekämpfung“ sieht dagegen Möglichkeiten staatlicher Entschädigungszahlungen vor, deren Höhe noch völlig ungewiß ist. Festgelegt wurde lediglich, bei Todesfällen im Rahmen der sogenannten Terrorbekämpfung eine Entschädigung von 1000 Dollar zu zahlen. Erschwerend kommt hinzu, daß das Innenministerium bei Individualklagen Protokolle offizieller Stellen über die Zerstörungen fordert. Die Täter müßten also von sich aus Dokumente ihrer Verbrechen zur Verfügung stellen. Als Hauptfortschritt sieht Anwalt Kalpak von Göc-Der die mögliche Eröffnung des Rechtsweges bis zum Gang vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte an. Da die nach wie vor ungelöste kurdische Frage der Hauptgrund der Binnenmigration sei, ständen allerdings nicht die rechtlichen, sondern soziale und politische Probleme im Vordergrund. Notwendig sei daher auch eine allgemeine Amnestie, die auch den zur Guerilla in die Berge gegangenen Jugendlichen die Rückkehr in ihre Dörfer ermöglicht.

 

Bürgerkriegsgefahr

 

Im Vergleich zu den Vorjahren hat es keine weiteren Fortschritte in der Menschenrechtssituation in der Türkei gegeben. Positive Gesetzesänderungen im Hinblick auf einen EU-Beitritt bleiben auf dem Papier, sie werden in der Praxis wenig umgesetzt und sind in den Köpfen der Sicherheitsorgane kaum verankert. Besorgniserregend ist die gegen Kurden und auch gegen Linke gerichtete nationalistische Hetzkampagne, bei der Zivilfaschisten, staatliche Stelle und der mächtige Generalstab Hand in Hand arbeiten. Nachdem die Frustration der Volksmassen über ihre desolate soziale Situation sich nicht mehr mit dem Versprechen eines schnellen EU-Beitrittes abspeisen läßt und langsam die negativen Folgen der EU-Anpassung spürbar werden, sehen Teile des Staates und die Grauen Wölfe die Entfesselung eines türkisch-kurdischen Bürgerkriegs als eine Option, um die Unzufriedenheit der Massen abzulenken.

 

Nick Brauns

 

Der Autor war Teilnehmer der süddeutschen Newroz-Delegation, die zum Newrozfest in Sirnak war und anschließend zu politischen Gesprächen unter anderem Siirt, Diyarbakir und Istanbul besuchten.

 

Aus: Die Rote Hilfe 2.2005