Barrikaden in Paris

 

Die  Rebellion der französischen Arbeiter und Studenten im Mai 1968

 

„Zweifellose war es die bedeutendste revolutionäre Erhebung in Westeuropa seit den Tagen der Pariser Commune. Hunderttausende von Studenten haben sich regelrechte Schlachten mit der Polizei geliefert. Neun Millionen Arbeiter standen im Streik. Die rote Fahne der Revolte flatterte über besetzten Fabriken, Universitäten, Baustellen, Werften, Haupt- und Realschulen, Grubeneingängen, Bahnhöfen, Kaufhäusern, Überseeflugzeugen, Theatern, Hotels. Die Pariser Oper, das Folies Berères und das Gebäude des Nationalen Rates für Wissenschaftliche Studien wurden besetzt, ebenso wie das Hauptquartier der französischen Fußballföderation, mit dem klaren Ziel, `normale Fußballer davon abzuhalten, Spaß am Fußball zu haben´“ schilderte Maurice Brinton als Augenzeuge die Ereignisse des Mai 1968 in Frankreich.

 

Die Schnelligkeit, mit der sich die Protestbewegung über das ganze Land und alle Schichten der Bevölkerung ausdehnte, lässt sich nur mit den während der 10-jährigen Präsidialdiktatur General de Gaulles angestauten  Spannungen und Widersprüchen in der Gesellschaft erklären. Tatsächlich „verschleiert das glänzende, verchromte Modell-Frankreich von 1968 ein großes Ausmaß an wirklichem Elend“, wie das englische Sonntagsblatt Observer während der Streikbewegung erklärte. „5-6 Millionen Franzosen leben nahe des Existenzminimums. Ein Viertel der Arbeiterschaft verdient weniger als 150 Francs die Woche. Arbeitslosigkeit – von der wahrscheinlich mehr als 500.000 betroffen sind – und Kurzarbeit sind neue, fremde und erschreckende Erscheinungen in einem Land, das 30 Jahre lang nur Vollbeschäftigung gekannt hat.“ Jugendliche machten 23% der Arbeitslosen aus. Dazu kamen völlig unzureichende Wohnverhältnisse, unter dem ein Drittel der Pariser Bevölkerung litt. In der Hälfte aller Wohnungen gab es beispielsweise keine Toiletten. Eine Inflation von 45%, Mehrwertsteuererhöhungen und Angriffe auf die Sozialleistungen während der zehnjährigen Präsidentschaft de Gaulles hatte die Arbeiter ausgesaugt. Nur mit Überstunden kamen viele über die Runden. In den großen Automobilfabriken herrschten frühkapitalistische Arbeitsbedingungen. Citroen, wo ein Drittel der Belegschaft aus Einwanderern bestand, die in werkseigenen Wohnheimen kaserniert waren, stand in dem Ruf, ein Zuchthaus statt einer Fabrik zu sein. 

 

Unmittelbare Auslöser der Mairevolte war die Unzufriedenheit vieler Studenten mit dem starren Bildungssystem. 50% der Studierenden wurde vor Beendigung des Studiums hinausgedrängt. Die Durchfallquote betrug 20%. Stipendien existieren kaum und nur 10% der Studenten kamen aus Arbeiterfamilien. Die Arbeitslosigkeit unter Hochschulabsolventen war hoch. Die Studierenden forderten Mitbestimmung über die Studieninhalte und mehr Freiheiten auf dem Campus wie die Aufhebung der Geschlechtertrennung in den Wohnheimen.

An den Universitäten hatten sich Studentengewerkschaften gebildet, in denen vor allem Kader trotzkistischer und anarchistischer Gruppierungen tonangebend waren. Bekanntester Aktivist war der in Frankreich als Sohn deutscher jüdischer Emigranten geborene Student Daniel Cohn-Bendit. Im Interview mit dem SPIEGEL erklärte der spätere Grünenpolitiker: „Für mich ist die grundlegende Analyse von Marx richtig, die Analyse der kapitalistischen Gesellschaft. Aber die Organisationsformen, die sich die kommunistische Bewegung gegeben hat, lehne ich vollkommen ab. Sie bringen keine neue Gesellschaft zustande, sondern nur neue autoritäre Herrschaft.“ Damit drückte der „anarchistische Marxist“ Cohn-Bendit das Unbehagen eines Großteils der radikalen Studierenden mit der Rolle der Kommunistischen Partei Frankreichs aus. Wie die neuen Organisationsformen aussehen sollten, wurde am 22. März deutlich, als Studierende an der Philosophischen Fakultät der Universität von Nanterre, einem Arbeitervorort von Paris, mehrere Hörsäle besetzten und basisorientierte Debatten organisierte. „Es ist kein Zufall, dass die `Revolution´ in Nanterre in den Fachbereichen Soziologie und Psychologie begann. Die Studenten erkannten, dass das, was sie in Soziologie lernten, nicht dazu diente, die Gesellschaft zu erkennen und zu verändern, sondern sie zu kontrollieren und zu manipulieren. In diesem Prozess entdeckten sie die revolutionäre Soziologie“, schrieb ein Beobachter. Die spontan gebildete „Bewegung des 22. März“ stand unter der Leitung von Cohn-Bendit und dem Trotzkisten Daniel Bensaid.

Polizei wurde zur Räumung des Gebäudes eingesetzt und die Universität am 29.März geschlossen. Auch auf die Sorbonne griff die Bewegung über. Am 3. Mai nahm die Polizei dort über 600 Studenten fest, die gegen einen Aufmarsch der faschistischen Studentenorganisation Occident protestierten. Ein Teil der Festgenommenen waren ausgesperrte Studenten aus Nanterre. Der Universitätsdirektor erklärte die Sorbonne für geschlossen. Schnellgerichte verurteilten einige „Rädelsführer“ zu mehrmonatigen Haftstrafen.

Die Kommunistische Partei und ihr Studentenverband hatten sich bisher abseits gehalten. Am 4. Mai verteilten sie ein Flugblatt: „Nanterre ist geschlossen, die Sorbonne ist geschlossen. In drei Wochen sind die Examen und Zehntausende von Studenten werden daran gehindert, sich normal vorzubereiten. [...] Ultralinke und Faschisten spielen um die Macht! Man sieht heute sehr gut, wohin die Umtriebe der ultralinken Gruppen (Trotzkisten, Maoisten, Anarchisten und andere) – unter ihnen der deutsche Anarchist Cohn-Bendit – führen.“ Und die Parteizeitung L`Humanié ergänzte: „So verhalten sich diese falschen Revolutionäre objektiv als Verbündete des gaullistischen Staates und seiner Politik.“ Bei dieser Linie sollte die KPF während der gesamten Mai-Revolte blieben.

 

Für Montag den 6.Mai hatten die „Bewegung des 22.März“ und die trotzkistische Revolutionär Kommunistische Jugend zu einer Protestdemonstration gegen die Schließung der Universitäten aufgerufen. Schwerbewaffnete Polizisten der Sondereinheit CRS griffen die über 10.000 Studenten an. Es gab mehr als 1100 Verletzte und über 400 Festnahmen. Schon einen Tag später demonstrierten in ganz Frankreich rund 60.000 Studenten und Lehrer. 25.000 von ihnen veranstalteten hinter einem Fronttransparent mit der Losung „Vive la Commune“ einen „Langen Marsch“ durch Paris. Eine Reihe von Gymnasien schloss sich dem Studentenstreik an und weitere Universitäten wurden besetzt.

 

Zum eigentlichen Auslöser des heißen Mai, der den Funken auch auf die Arbeiterschaft überspringen ließ, wurde aber die Barrikadennacht vom 10.Mai in der Rue Gay-Lussac. Mehrere Zehntausend Demonstranten belagerten die geschlossene Sorbonne. Zum ersten Mal seit 1944 wurden im Quartier Latin Barrikaden errichtet. Die Brutalität der CRS überraschte alle. Tränengas, Chlor- und Phosphorgranaten wurden gegen die Schüler, Studenten und Lehrer eingesetzt. Auch Krankentransporter wurden gestürmt und Verletzte zusammengeknüppelt. Anwohner öffneten ihre Wohnungen für fliehende Demonstranten oder schütteten Wasser auf sie, um sie vom Granatengas zu befreien. Andere warfen Blumentöpfe auf die Polizei. Am Morgen des 11.Mai gab es über 1000 schwer verletzte Demonstranten und Anwohner. Zum Teil hatten ihnen Granaten die Hände abgerissen. 460 Festnahmen wurden gemeldet. 188 Autos waren beschädigt oder ausgebrannt. Den bisher als verwöhnt geltenden Studenten, die sich für ihre Anliegen bis zum letzten mit der auch unter der normalen Bevölkerung verhassten Polizei geschlagen hatten, gehörte die Sympathie.

Angesichts der Polizeibrutalität  riefen die Gewerkschaften einen Generalstreik für Montag 13.Mai aus. Auch die kommunistische CGT als einflussreichste Kraft unter den französischen Werktätigen konnte sich nicht mehr abseits halten.  Über 750.000 Studenten, Arbeiter, Schüler und Professoren zogen durch Paris. Arm in Arm musste der kommunistische CGT-Vorsitzende mit dem Anarchisten Cohn-Bendit marschieren. Junge Arbeiter gingen unter schwarzen und roten Fahnen in den Blöcken der Studenten mit.

 

Gegen die Absicht der CGT setzten die Arbeiter im ganzen Land den Generalstreik auch an den folgenden Tagen fort. Am 14.Mai besetzten die Arbeiter von Sud Aviation in Nantes ihre Fabrik und sperrten den Direktor aus. Ihnen folgten die Belegschaften der Renaultwerke. Im ganzen Land kam es zu Fabrikbesetzungen, in einigen Fällen sogar zur Arbeiterkontrolle der Produktion. Am Höhepunkt der Bewegung in der letzten Maiwoche standen rund 10 Millionen Arbeiter im Streik. Im ganzen Land hatten sich über 600 revolutionäre Aktionskomitees gebildet. Dem Vorbild der Pariser Commune von 1871 folgten insbesondere die Ereignisse in der Stadt Nantes. Ende der zweiten Streikwoche lag dort die Macht bei einem aus Bauern- und Arbeitergewerkschaften gebildeten zentralen Streikkomitee, dass seinen Sitz im Rathaus der Stadt hatte. Mit Unterstützung der Bauerngewerkschaft wurde die Nahrungsmittelversorgung der Einwohnerschaft sichergestellt. Arbeiter der Stadtwerke regelten die Energieversorgung. Trupps von Arbeitern und Studenten halfen Bauern bei der Ernte und überwachten die Einhaltung „normaler Preise“ in den Läden.

 

Auf dem Höhepunkt der Streikbewegung, als vielerorts die Losung nach der Arbeitermacht ertönte, bekundeten die Führer der kommunistischen CGT, die Angst hatten, dass ihnen die Bewegung entglitt, den Wunsch nach Verhandlung mit einer Regierung, die den Ereignissen weitgehend machtlos gegenüberstand. Am 27. Mai präsentierten die CGT-Führer schließlich ein Abkommen mit der Regierung und den Unternehmern, dass eine Erhöhung des Mindeststundenlohns von 2,22 Fr. auf 3 Fr., weitere Lohnerhöhungen von 7 bis 15 % und eine Reduzierung der Wochenarbeitszeit von 48 auf 46 Stunden vorsah. Im Vergleich dazu hatten die französischen Arbeiter 1936, als lediglich drei Millionen im Streik standen, schon einmal die 40 Stundenwoche erkämpft. So forderten die Renault-Arbeiter den Generalsekretär der CGT Séguy auch dazu auf, das Abkommen nicht zu unterzeichnen.

 

Trotz eines von der Regierung verhängten Versammlungsverbots gingen die Massendemonstrationen im ganzen Land weiter. Noch einmal zogen am 29. Mai rund 800.000 Demonstranten unter der von den Kommunisten ausgegebenen Losung „Volksfront demokratischer Einheit“ durch Paris und forderten eine „Volksregierung“, an der die KPF teilzunehmen sollte. Francois Mitterand, Führer der Linksföderation, meldete seine Bereitschaft zur Präsidentschaftskandidatur an.

Charles de Gaulle übergab den Schlüssel zu Safe mit seinem politischen Testament an seinen Stellvertreter, packte seinen Koffer und meinte: „Das Spiel ist aus.“ Doch während der Staatspräsident noch an einen demonstrativen Rücktritt dachte, hatte KPF-Sekretär Waldeck Rochet beschlossen: „Wir müssen es verstehen, einen Streik zu beenden.“

 

Am 29. Mai wurde General Charles de Gaulle für mehrere Stunden als vermisst gemeldet. Der General hatte sich zu den im deutschen Baden-Baden stationierten französischen Streitkräften abgesetzt. Um sich der Loyalität der Armee zu versichern, sagte er die Freilassung einer Reihe von Offizieren der rechtsterroristischen OAS zu, die wegen des Algerienaufstandes inhaftiert waren. Panzereinheiten wurden in die Umgebung von Paris verlegt. Einen Tag später wandte sich de Gaulle in einer 4 ½ minütigen Rundfunkansprache an das französische Volk. Er erklärte die Nationalversammlung für aufgelöst und kündigte Neuwahlen für den 23. Juni an. „Frankreich ist in der Tat von einer Diktatur bedroht. Man will Frankreich zwingen, sich einer Macht zu beugen, die sich in dieser Situation der nationalen Hoffnungslosigkeit herbeidrängt. Diese Macht, sie sich den Sieg zunutze machen wird, ist die des totalitären Kommunismus“, warnte der Präsident. Dem Aufruf de Gaulles, zur „bürgerlichen Aktion“, folgten am 30. Mai rund 400.000 Gaullisten und Faschisten mit einer Großdemonstration auf den Champs-Elysées. Das französische Bürgertum, darunter viele ehemalige Algerienkämpfer, demonstrierte unter Losungen wie „Vorwärts de Gaulle!“, aber auch „Cohn-Bendit nach Dachau“ und „Erschießt Mitterand“.

Neben der Mobilisierung des verängstigten Bürgertums spekulierte de Gaulle vor allem auf die staatstragende Rolle der Kommunistischen Partei, der er den Köder der vorgezogenen Parlamentswahl zuwarf. Die KPF sah darin ein Zugeständnis de Gaulles. Sofort orientierte die Partei ihren gesamten Apparat auf den Wahlkampf und ihre Vertrauensleute in den Betrieben forderten den Abbruch der Streiks und ein Ende der Demonstrationen. Dort, wo die Arbeiter nicht auf Weisung der CGT wieder an die Produktion gehen, griff die Polizei gewaltsam ein. CRS-Einheiten attackieren Streikenden bei Renault-Fins und Peugeot. Der 24-jährige Arbeiter Pierre Beylot wurde dabei getötet. Auch ein 17-jähriger Schüler starb nach Polizeiangriffen auf eine Solidaritätsdemonstration mit den Renaultarbeitern.

 

Gegen die radikale Linke setzte Mitte Juni eine massive Repressionswelle ein. Premier Pompidou verbot 11 trotzkistische, maoistische und anarchistische Organisationen mit Hilfe des aus der Zeit der Volksfront von 1936 stammenden Verschwörergesetzes, dass ursprünglich gegen faschistische Gruppen erlassen worden war. 80 ausländische Aktivisten wurden abgeschoben. Cohn-Bendit hatte bereits nach einer Berlin-Reise am 23.Mai Einreiseverbot erhalten. 17 führende Revolutionäre wurden inhaftiert. Im Gegenzug wurden 50 Mitglieder der rechtsextremen OAS aus dem Gefängnis entlassen.

Die KPF, die sich im Wahlkampf als „loyale Opposition“ präsentierte, schwieg zur Kriminalisierung der radikalen Linken. „All unsere Aktivitäten haben im Dienst des Volkes gestanden. Ich bekräftige, dass es vor allem die ruhige und entschlossene Haltung der Kommunistischen Partei war, die ein blutiges Abenteuer in unserem Land verhinderte“, erklärte Parteisekretär Waldeck Rochet. Die Wähler dankten es der KP nicht. Die Partei verlor bei den Parlamentswahlen, auf die sie ihre ganze Hoffnung gesetzt hatte, fast 2 ½ Prozentpunkte und kam auf 20,03 %. Vor allem in Arbeitervierteln waren viele KP-Wähler den Urnen ferngeblieben. Die Gaullisten konnten dagegen einen Erdrutschsieg verzeichnen und stiegen von 37,73 auf 43,65 %. Als einzige Kraft links von der KPF war die linkssozialistische Vereinigte Sozialistische Partei PSU angetreten, die einen Achtungserfolg von 3,94% verzeichnete. Eine Einteilung der Wahlkreise, die die konservativen ländlichen Regionen begünstigte, trug ebenso zur Niederlage der Linken bei, wie die Weigerung de Gaulles, das Wahlalter auf 18 Jahre zu senken. Ein Großteil der jugendlichen Aktivisten vom Mai 68 war somit vom Wahlrecht ausgeschlossen. Selbst eine Viertelmillion zu Beginn des Jahres 1968 volljährig Gewordener durfte nicht wählen.

 

Der Mai 1968 hat den bis heute andauernden Niedergang der einst mächtigen Kommunistischen Partei Frankreichs eingeleitet, während die radikale Linke, die schon mal auf 10% der Wahlstimmen kommt, seitdem aus den gesellschaftlichen Kämpfen nicht mehr wegzudenken ist.

„Man muss 1968 richtig einordnen, weder banalisieren noch mystifizieren“, resümierten Daniel Bensaid und Alan Krivine, ehemals führende Teilnehmer der Studentenbewegung von 1968 und heute Vordenker trotzkistischen Revolutionär Kommunistischen Liga (LCR). „Wenn wir vom Mai 68 als einer Generalprobe gesprochen haben, dann dachten wir nicht an ein Modell, sondern eher an einen Versuch der Geschichte, die sich tastend, durch Akkumulation von Erfahrungen, durch Erfolge und Irrtümer voranbewegt. Natürlich war 1968 für uns keine Apotheose, sondern die erste wesentliche Episode eines langen Kampfes. Es brauchte Zeit und weitere Anstrengungen um die nötigen Kräfte zu sammeln und zu schmieden. [...] Noch heute behaupten wir, dass es andere Möglichkeiten und Wege gegeben hätte; nicht die Offenbarung oder die Revolution in Großbuchstaben, sondern den Sturz des Regimes durch Streik und außerparlamentarische Mobilisierung. Danach hätte eine andere Geschichte begonnen und es wäre eitel, sie auf den Sandstrand zu schreiben.“

 

Nick Brauns