Aus: junge Welt vom 23.11.2019, Seite 15 /
Geschichte
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koloniale Joch
Vor 120 Jahren schlugen die Briten im Sudan den Mahdi-Aufstand nieder
Von Nick Brauns
Als »Bilad Al-Sudan« (»Land der Schwarzen«)
dienten die Provinzen am Oberlauf des Nil Ägypten im 19. Jahrhundert zur
Gewinnung von Sklaven, die als Soldaten in die Armee gepresst wurden. Formal
gehörte Ägypten zwar noch dem Osmanischen Reich an. Doch die tatsächliche
Kontrolle über das durch den Bau des Suezkanals 1875 in den Staatsbankrott
getriebene Land übte das britische Finanzkapital mit Hilfe einer
internationalen Finanzaufsicht aus. So wurde der britische Kolonialoffizier
Charles Gordon im Jahr 1877 zum Generalgouverneur des Sudan ernannt. Offiziell
unter der Flagge der Antisklavereibewegung
verschärfte Gordon die Unterdrückung der Völker des Sudan durch Abgaben.
Die doppelte Ausbeutung durch den osmanischen Gouverneur und dessen
Gläubiger in der Londoner City sorgte Ende der 1870er Jahre für erhebliche
Unzufriedenheit am Nil. Es bedurfte nur noch eines charismatischen Anführers
für einen Aufstand. Ein solcher fand sich in dem 1844 in einer arabisierten
nubischen Familie in Dongola als Sohn eines Bootsbauern geborenen Sufi-Mönch Muhammad Ahmad. Der
Prediger verband den Ruf nach einer Erneuerung des Islam mit sozialen
Forderungen angesichts der Fremdherrschaft und der drückenden Steuerlast. Zur
damaligen Zeit war der Glaube an die Ankunft eines Mahdi – eines islamischen
Messias – im Sudan weit verbreitet. So war es nur eine Frage der Zeit, bis
einer von Muhammad Ahmads Jüngern, der aus dem Westen des Sudan kommende
Abdullah ibn Muhammad, nach seiner Heilung von einer
schweren Krankheit seinen Retter zu eben diesem Mahdi und sich selbst zu dessen
erstem Kalifen erklärte.
Rückzug in die Berge
Eine Polizeitruppe, die den aufmüpfigen Prediger verhaften sollte, wurde im
August 1881 von dessen Getreuen auf der Nilinsel Aba
in einem Hinterhalt getötet. Muhammad Ahmad rief seine Anhänger, die sich nach
den ersten Gefährten des Propheten als Ansar (Helfer)
bezeichneten und sich in Dschibba genannte einfache
Baumwollgewänder mit bunten Flicken kleideten, nun zum Rückzug in die
südsudanesischen Nuba-Berge auf. Zulauf bekam seine
Bewegung in dieser für einen Guerillakampf günstigen Region von Bauern und
Nomaden, die vor Steuerschulden geflohen waren. Doch auch Sklavenhändler, denen
der Mahdi die Wiederzulassung des von der anglo-ägyptischen Verwaltung
verbotenen Menschenhandels versprach, und andere unter der ägyptischen
Steuerlast leidende Kaufleute leisteten Unterstützung.
An ihrem Hauptquartier am Berg Gedir konnten die
anfangs kaum über Schusswaffen verfügenden Ansar im
Dezember 1881 eine waffentechnisch überlegene ägyptische Armee schlagen. Dieser
und ein weiterer Sieg im Juni 1882 festigten den Ruf Muhammad Ahmads,
tatsächlich der erwartete Mahdi zu sein. Sein Ruf zum »heiligen Krieg« gegen
die »Ungläubigen« wurde gehört, und der Aufstand griff im folgenden Jahr auf
das ganze Land über. Nach monatelanger Belagerung kapitulierte im Januar 1883
die nach Karthum zweitwichtigste Stadt des Landes, Al-Obaid.
Eine zur Rückeroberung dieser Handelsstadt entsandte 12.000 Mann starke
ägyptische Invasionstruppe unter Führung des britischen General William Hicks
wurde von den Ansar fast vollständig aufgerieben.
Auch der als Gouverneur von Darfur in ägyptischen Diensten
stehende Österreicher Rudolf Slatin kapitulierte und
kam – seine Konvertierung zum Islam vortäuschend – in Gefangenschaft des Mahdi.
Angesichts des rasanten Vormarsches der in London lange unterschätzten
Mahdi-Armee beschloss der liberale britische Premierminister William Gladstone
Ende 1883, den Sudan aufzugeben, um die Kräfte des Empires auf den Konflikt mit
Russland zu konzentrieren. Der Gouverneur Charles Gordon wurde mit der
Evakuierung von Tausenden in Karthum verbliebenen ägyptischen Beamten und
Militärs beauftragt. Nach rund einjähriger Belagerung erfolgte am 26. Januar
1885 der Angriff von 50.000 mit Speeren, Schwertern und Gewehren bewaffneten Ansar. Die Stadt wurde geplündert, viele männliche Bewohner
wurden massakriert und zahlreiche Frauen versklavt. Der Kopf des im Kampf
gefallenen Gordon wurde von den Mahdi-Anhängern stolz als Siegeszeichen präsentiert.
Der Mahdi konnte sich seines Triumphes nur für kurze Zeit erfreuen. Ein
halbes Jahr nach der Eroberung von Karthum starb er in seiner neuen Hauptstadt
Omdurman. Eine Sklavin aus dem großen Harem des Herrschers, der entgegen seinen
Predigten von Askese selbst ein Luxusleben geführt hatte, soll ihn vergiftet
haben. Unter seinem Nachfolger, dem Kalifen Abdullah, der sich gestützt auf die
Krieger des Baggara-Stammes gegen Rivalen
durchgesetzt hatte, entstand nun eine straff organisierte Militärdiktatur.
Das durch eine verheerende Hungersnot geschwächte Mahdi-Reich geriet bald
wieder in den Fokus der britischen Kolonialstrategen. Denn inzwischen war der
Kampf um die Aufteilung des afrikanischen Kontinents unter den
imperialistischen Mächten voll entbrannt, und der Sudan erlangte strategische
Bedeutung als Brücke zwischen Nord- und Südafrika. So wurde 1896 eine
Expeditionsarmee unter Generalmajor Lord Herbert Kitchener aufgestellt, um das
Land dem britischen Kolonialreich einzuverleiben. In London wurde dieser Krieg
als humanitäre Intervention zur Bekämpfung des Sklavenhandels verkauft. Um für
den Nachschub nicht mehr auf den Nil mit seinen hinderlichen Katarakten
angewiesen zu sein, ließ Kitchener eigens eine 350 Kilometer lange
Eisenbahntrasse durch die Nubische Wüste bauen.
Strategischer Fehler
Der Kalif beging den strategischen Fehler, die 26.000 Mann starke
britisch-ägyptische Invasionstruppe vor den Toren seiner Residenzstadt Omdurman
zur offenen Entscheidungsschlacht zu erwarten. Doch den britischen
Maxim-Maschinengewehren hatten die 50.000 Ansar
nichts entgegenzusetzen. 11.000 »Gotteskrieger« wurden am 2. September 1898
niedergemetzelt, auf seiten der Angreifer gab es
keine 50 Gefallenen.
Der Kalif flüchtete in den Süden, wo die Mahdisten weiter das Gebiet
zwischen Darfur und der äthiopischen Grenze
beherrschten. Bei Umm Diwaykarat
in der Provinz Kordofan stellte eine anglo-ägyptische
Streitmacht am 24. November 1899 schließlich die Ansar-Armee.
Mit Maschinengewehren wurden Abdullah und seine Getreuen massakriert. Die
letzte Schlacht gegen die Mahdi-Bewegung war geschlagen. Der Sudan wurde
faktisch zum britischen Kolonialbesitz.
Quelle:
Kurz nach sechs Uhr hörten wir
von drüben her merkwürdiges summendes Tönen, das sich anfänglich niemand
erklären konnte; bald schwoll es an, dann wieder verhallte es gänzlich – es war
der Kriegs- und Sterbegesang von 50.000 Derwischen. Und dann erschienen sie auf
dem Bergrücken; ein Anblick, den niemand vergessen wird, der ihn gehabt. Die
breiten und tiefen Schlachthaufen der in weiße Gewänder gehüllten Derwische
schimmerten wie helle Bänder auf der Ebene, neue und immer neue Scharen wälzten
sich heran, die Sonne gleißte auf einem Meer von Speeren und Schwertern; allen
voran und hoch zu Ross erschienen die Emire, einzelne von diesen von Kopf bis
Fuß in eiserne Kettenpanzer gehüllt, auf dem Kopf die stählerne,
mittelalterliche Sturmhaube mit Nasenbügel und Helmdecken; bei ihnen die
großen, mit Koransprüchen bedeckten Fahnen. Der Gesang, die Kriegspauken und
Tamtams waren bald deutlich zu hören und erfüllten die Luft mit tosendem Lärm;
zeitweise vereinigten sich die Stimmen zu einem langgezogenen »Allahuuu!« (…) Dann begann ein
Maschinengewehr seine Tätigkeit mit dem ihm eigenen klopfenden Lärm, ein
zweites, ein drittes – zehn, zwanzig fielen ein. (…) Man sah, wie die Derwische
in ganzen Haufen stürzten, wie die hellen Bänder in Streifen geschlitzt wurden,
sich wieder zusammenschlossen und von neuem vorwärts stürmten; ihr Kriegsgesang
verhallte unter dem betäubenden Donner der Feuerwaffen.«
Bericht von Major Adolf von Tiedemann, der als Beobachter des
preußischen Generalstabs am Feldzug gegen die Mahdi-Bewegung teilnahm. Zit. n.
Wilfried Westphal: Sturm über dem Nil – Der Mahdi-Aufstand. Aus den Anfängen
des islamischen Fundamentalismus, Sigmaringen 1998, S. 358 f.