Junge Welt 19.10.2002

 

Aussprechen, was ist  

Lenin ruft zum Aufstand und das ZK verbrennt erschrocken seinen Brief  

 

Niemals hätte Lokomotivführer Hugo Jalava in dem evangelischen Pastor, der in der finnischen Grenzstadt Wyborg den Zug ins russische Petrograd bestieg, den Mann erkannt, der noch im August als Heizer getarnt auf seiner Lokomotive nach Finnland geflohen war. Gegen die ausdrückliche Weisung seiner Parteigenossen, die seine Sicherheit aufgrund eines immer noch bestehenden Haftbefehls der Kerenski-Regierung in Rußland nicht garantieren konnten, kehrte der überzeugte Atheist Wladimir Iljitsch Lenin am 20. Oktober 1917 als Gottesmann gekleidet in die russische Hauptstadt zurück. Seinen Bart hatte er abrasiert, dafür verdeckte eine Perücke seinen spärlichen roten Haarwuchs. In Petrograd tauchte Lenin in der Wohnung der jungen Bolschewistin Margarita Fofanowa unter. »Er gab mir den Auftrag, jeden Morgen nicht später als um halb neun sämtliche in Petrograd erscheinenden Zeitungen, einschließlich der bürgerlichen zu besorgen«, erinnerte sich Fofanowa.

Aus dem finnischen Exil hatte Lenin die Führung der Bolschewiki zur Vorbereitung eines sofortigen bewaffneten Aufstandes zu drängen versucht und vor Illusionen in die Einberufung der Konstituierenden Versammlung oder den Sowjetkongreß gewarnt. »Man muß ›aussprechen, was ist‹«, vermerkte Lenin auf deutsch, und »die Wahrheit zugeben, daß bei uns im ZK und in den Parteispitzen eine Strömung oder Meinung existiert, die für das Abwarten des Sowjetkongresses, gegen die sofortige Machtergreifung, gegen den sofortigen Aufstand ist. Diese Strömung oder Meinung muß niedergekämpft werden. Sonst würden sich die Bolschewiki auf ewig mit Schmach bedecken und als Partei erledigt sein«. Die Reaktion des Zentralkomitees der Bolschewiki auf Lenins Brandbrief beschrieb Bucharin später: »Wir alle waren baff. Niemand hatte bis dahin die Frage so schroff gestellt. ... Vielleicht war das der einzige Fall in der Geschichte unserer Partei, wo das Zentralkomitee einstimmig beschloß, Lenins Brief zu verbrennen.«

Wie schon in den Apriltagen fand sich Lenin in Opposition zum Zentralkomitee, dem er Passivität und Versöhnlertum vorwarf. Zögern wäre »Verrat am Proletariat«, ein »Verbrechen«, tobte er. In seiner Verzweiflung hatte Lenin sogar seinen Austritt aus dem ZK beantragt, um sich die Freiheit der Agitation in den unteren Parteiorganisationen und auf dem Parteitag vorzubehalten. »Lenin vertraute nicht dem Zentralkomitee – ohne Lenin. Darin liegt der Schlüssel zu seinen Briefen aus der Illegalität«, sah Trotzki den Grund für dessen Mißachtung der Parteidisziplin durch seine unerlaubte Rückkehr aus Finnland.

Am 23. Oktober konnte Lenin seine Aufstandspläne endlich direkt vor dem Zentralkomitee vortragen. Ausgerechnet in der Wohnung des abwesenden Linksmenschewisten Nikola Suchanow, der mit einer Bolschewikin verheiratet war, berieten die zwölf anwesenden Mitglieder des ZK bei Tee und Wurstbroten den Aufstand.

In seinem Referat »Über den gegenwärtigen Augenblick« forderte der weiterhin als evangelischer Pastor mit Brille und Perücke gekleidete Lenin die sofortige Vorbereitung des bewaffneten Aufstandes. »Seit Anfang September ist eine gewisse Gleichgültigkeit für die Frage des Aufstandes zu beobachten«, ging er gleich zu Beginn zum Angriff auf das ZK über. Meutereien in der deutschen Flotte »als höchster Ausdruck des Heranreifens der sozialistischen Weltrevolution in ganz Europa«, die Gefahr eines Friedensschlusses zwischen den kämpfenden imperialistischen Lagern mit dem Ziel, die russische Revolution zu erdrosseln, Kerenskis Absicht, das revolutionäre Petrograd den Deutschen auszuliefern, die Vorbereitung eines weiteren gegenrevolutionären Putsches, Bauernaufstände in Rußland und das wachsende Vertrauen des russischen Volkes gegenüber den Bolschewiki – all das würde »den bewaffneten Aufstand auf die Tagesordnung« setzen.

Nach einer zehnstündigen erregten Debatte stimmten im Morgengrauen des 24. Oktober zehn ZK-Mitglieder – darunter Stalin und Trotzki – für die von Lenin mit einem Bleistiftstummel auf einer karierten Kinderheftseite hastig niedergeschriebene Resolution, in der es hieß: »Das Zentralkomitee stellt somit fest, daß der bewaffnete Aufstand unumgänglich und völlig herangereift ist.« Ohne einen genauen Termin festzulegen, hatten sich die ZK-Mitglieder darauf geeinigt, den Aufstand unmittelbar vor dem Sowjetkongreß durchzuführen und anschließend von diesem legitimieren zu lassen.

Gegen die Aufstandslosung hatten Sinowjew und Kamenew votiert. Eine solche Aktion sei verfrüht. Vielmehr ginge es darum, im Rahmen einer Doppelherrschaft aus Konstituierender Versammlung, in der die Bolschewiki eine starke Oppositionskraft bilden würden, und Sowjets, wo die Bolschewiki in der Mehrheit waren, die Macht zu erobern. Diese unbestimmte Perspektive stand gegen Lenins Diktum: »Der Erfolg der russischen und der internationalen Revolution hängt von zwei, drei Kampftagen ab.«

Unter offener Mißachtung der Parteidisziplin appellierten Sinowjew und Kamenew mit einem Brief an die unteren Parteiorganisationen, sich gegen den im übrigen noch nicht veröffentlichten Beschluß des ZK zu wenden. In der von Maxim Gorki – damals kein Freund der Bolschewiki – verlegten Zeitung Nowaja Shisn bezeichneten sie den geplanten Aufstand als »Verzweiflungstat«. Lenin empörte sich in einem in der Parteizeitung Rabotschi Put veröffentlichten »Brief an die Mitglieder der Partei der Bolschewiki« über dieses »Streikbrechertum« seiner langjährigen Weggefährten: »Ich würde es als Schmach ansehen, wollte ich aus Rücksicht auf meine früheren engen Beziehungen zu diesen ehemaligen Genossen schwanken, sie zu verurteilen. Ich sage offen, daß ich beide nicht mehr als Genossen betrachte und mit aller Kraft sowohl im ZK als auch auf dem Parteitag für den Ausschluß der beiden aus der Partei kämpfen werden.«

Unerwartete Rückendeckung bekamen die »Streikbrecher« dagegen von Josef Stalin, der als Redakteur der Rabotschi Put die »Schärfe« des Leninschen Briefes rügte und – trotz seiner Zustimmung zur Resolution des ZK – seine »wesentliche« Gesinnungsgenossenschaft mit Sinowjew und Kamenew bekundete. Zu einem Parteiausschluß ist es schon aufgrund der vordringlicher erscheinenden Aufstandsvorbereitungen nicht gekommen. Kamenew trat freiwillig als ZK-Mitglied zurück, während Stalins Rücktrittsersuchen aus der Redaktion der Rabotschi Put abgelehnt wurde.

Auch in einer am 29. Oktober abgehaltenen erweiterten ZK-Sitzung unter Beteiligung von Vertretern der Petrograder und Moskauer Parteikomitees und der bolschewistischen Militärorganisation gelang es Lenin nach einer langen Debatte erneut, bis auf Kamenew und Sinowjew alle Zweifler auf seine Seite zu ziehen. In einer abschließenden Erklärung hieß es: »Die Versammlung begrüßt die Resolution des ZK und billigt sie voll und ganz; sie fordert alle Organisationen und alle Arbeiter und Soldaten auf, den bewaffneten Aufstand allseitig und tatkräftig vorzubereiten ... Sie gibt der vollen Überzeugung Ausdruck, daß das ZK und der Sowjet rechtzeitig den günstigsten Zeitpunkt und die zweckmäßigsten Mittel des Angriffs bestimmen werden.« Mit dem ursprünglich auf Initiative des Petrograder Sowjets zur Abwehr einer drohenden deutschen Offensive geschaffenen Militärischen Revolutionskomitee schufen sich die Bolschewiki in den folgenden Wochen die notwendige militärische Leitung für den beschlossenen »Roten Oktober«.

Nick Brauns