Aus: junge Welt Ausgabe
vom 17.05.2019, Seite 15 / Feminismus
Der Revolutionär und das Glas Wasser
Clara Zetkins Gespräche mit Lenin über Sexualität und
»Frauenfrage« neu aufgelegt
Von Nick Brauns
Im Spätherbst 1920 diskutierte die
deutsche Kommunistin und führende Exponentin der sozialistischen Frauenbewegung
Clara Zetkin anlässlich der Ausarbeitung von »Richtlinien für die
kommunistische Frauenbewegung« mit Wladimir Iljitsch Lenin über die
»Frauenfrage«. Zetkins Wiedergabe dieser Gespräche fand in ihre nach dem Tod
des sowjetischen Revolutionsführers verfassten »Erinnerungen an Lenin« Eingang
und wurde erstmals 1929 als Broschüre im Verlag der Kommunistischen Partei
Deutschlands (KPD) für Literatur und Politik veröffentlicht. 90 Jahre später
hat der Verlag Wiljo Heinen in einer Reihe von Klassikertexten
mit dem schönen Namen »Arbeiterlogik« die »Gespräche über die Frauenfrage«
wieder aufgelegt.
Zetkin präsentiert uns einen lebendigen,
schlagfertigen Lenin. Dieser zeigt sich irritiert, dass die Jugend zu einem
Zeitpunkt, an dem das Überleben des Sowjetstaates auf dem Spiel steht,
vordringlich über freie Liebe diskutieren und ihre durch die Revolution auch
auf dem Gebiet der Sexualmoral errungenen Freiheiten ausleben will. Lenin weist
die damals unter jungen Kommunisten populäre »Glas-Wasser-Theorie«, nach der
die Befriedigung sexueller Bedürfnisse so einfach und belanglos sei wie das
Trinken eines Glases Wasser, als gänzlich unmarxistisch
und unsozial zurück. »Durst will befriedigt sein. Aber wird sich der normale
Mensch unter normalen Bedingungen in den Straßenkot legen und aus einer Pfütze
trinken? Oder auch nur aus einem Glas, dessen Rand fettig von vielen Lippen
ist?« Die Fick-App Tinder
hätte Lenin wohl nicht gemocht. Der Kommunismus solle aber »nicht Askese
bringen, sondern Lebensfreude, Lebenskraft auch durch erfülltes Liebesleben«,
kritisierte er zugleich das andere bei Kommunisten anzutreffende Extrem –
Enthaltsamkeit im Namen der revolutionären Reinheit zu predigen. Eher altbacken
erscheint Lenins an die Jugend gerichteter Rat zu Sport und Studium anstelle
endloser Diskussionen über sexuelle Probleme.
Den proletarischen Kampf um die Rechte
der Frauen unterscheiden Lenin und Zetkin klar von der »bürgerlichen Frauenrechtelei«. Wo letztere nur auf Verbesserungen im
Rahmen der kapitalistischen Ordnung zielt, die wesentlich
Frauen aus höheren Klassen zugute kommen, setzt die
kommunistische Bewegung auf materielle Veränderungen. Die Gründung von
Gemeinschaftsküchen, Kindertagesstätten und Bildungsanstalten solle im
sozialistischen Staat die Grundlagen dafür schaffen, die »Frau von der alten
Haussklaverei und jeder Abhängigkeit vom Manne« zu erlösen und sie in die
soziale Wirtschaft, Verwaltung, Gesetzgebung und Regierung einzugliedern.
Angesichts der heutigen postmodernen
Verwirrungen akademischer Linker lohnt sich der Blick auf die Debatten vor 100
Jahren, auch wenn manche Standpunkte von Lenin und Zetkin durch die Praxis
ebenso wie durch die marxistisch-feministische Theoriedebatte überholt
erscheinen. So sollte es spätestens nach 1968 Gemeingut innerhalb der
revolutionären Linken sein, dass die Bildung eigenständiger
Frauenzusammenschlüsse nicht nur mit dem Ziel der Mobilisierung von Frauen für
den Klassenkampf erfolgt, sondern auch dazu dient, den Kampf gegen patriarchale
Vorbehalte und das Festhalten an männlichen Privilegien innerhalb der Linken zu
führen. Dass solche existieren, war auch Lenin bewusst, wie sein Ausspruch
»Kratzt den Kommunisten, und der Philister erscheint« deutlich macht.
Clara Zetkin: Erinnerungen an Lenin –
Gespräche über die Frauenfrage, Verlag Wiljo Heinen,
Berlin und Böklund 2019, 84 Seiten, sieben Euro