Junge Welt 21.01.2004
»Die Ketten, die er angefeilt, zerreißt!«
Vor 80 Jahren starb Wladimir Iljitsch Lenin
Vor 80 Jahren erreichte die Welt die Botschaft vom Tode
Wladimir Iljitsch Lenins. »Das wirkte auf uns wie ein Donnerschlag«, erinnerte
sich der spätere Präsident der DDR, Wilhelm Pieck, den die Nachricht in Moskau
erreichte. »Ich konnte nicht länger in meinem Zimmer bleiben und wollte mit
irgend jemandem meinen Schmerz teilen. Ich lief auf die Straße hinaus. Bald
füllte sich diese mit immer neuen Menschen, die alle zum Zentrum strömten und
von tiefster Trauer erfaßt waren. Auf allen Gesichtern lag der gleiche Ausdruck
tiefsten Schmerzes.« Und der Anarchist Erich Mühsam mahnte in einem Gedicht:
»Lenin ist tot. – Die Sichel senkt, den Hammer in trauervoller Ehrfurcht seinem
Geist. Doch überlaßt euch nicht dem faulen Jammer! Die Ketten, die er
angefeilt, zerreißt! Sein großes Werk setzt fort, baut aus, vollendet! Wo sie
noch herrscht, da brecht die Sklaverei! Solang’ nicht jedes Volk sein Schicksal
wendet, solang’ ist auch das Russenvolk nicht frei.«
Der junge Revolutionär
Wladimir Iljitsch Uljanow, wie Lenin mit bürgerlichem Namen hieß, wurde am 22.
April 1870 in Simbirsk als Sohn eines Schulinspektors aus dem niederen Adel
geboren. Eine prägende Erfahrung war für ihn 1887 die Hinrichtung seines
Bruders Alexander wegen eines geplanten Attentats auf den Zaren. Alexander
hatte sich der Gruppe »Volkswille« angeschlossen, die mit terroristischen
Mitteln für einen bäuerlichen Sozialismus kämpfte. Das Schicksal seines Bruders
zeigte dem jungen Iljitsch eindringlich die Notwendigkeit, einen anderen
politischen Weg zu gehen. Er fand die Antworten in Schriften von Marx und
Engels, die Georgi Plechanow ins Russische übersetzt hatte. Aufgrund politischer
Aktivitäten wurde Iljitsch von der Universität gewiesen. Als Externer konnte er
1891 seinen Abschluß in Jura machen, er war danach rund zwei Jahre als
Rechtsanwalt in Samara tätig.
1893 siedelte Iljitsch nach St. Petersburg um. Zusammen mit Julius Martow, dem
späteren Führer der Menschewiki, gründete er 1895 den »Kampfbund zur Befreiung
der Arbeiterklasse«. Nachdem die zaristische Geheimpolizei den Kampfbund
aufrollte, wurde Iljitsch zu fünf Jahren Gefängnis und Verbannung in Sibirien
verurteilt. In der Verbannung heiratete er seine Genossin, die Lehrerin
Nadeschda Krupskaja. Iljitsch nutzte die Zeit der Verbannung, um seine erste
wichtige theoretische Schrift über »Die Entwicklung des Kapitalismus in
Rußland« zu verfassen. Entgegen der von den »Volkstümlern« vertretenen
Auffassung, daß Rußland eine feudale Gesellschaft sei, die mit Hilfe der
bäuerlichen Dorfgemeinschaften zum Sozialismus kommen könnte, wies er nach, daß
sich auch im Zarenreich der Kapitalismus durchsetzt und der Marxismus auch für
Rußland Gültigkeit hat.
Geburt des Bolschewismus
Aus der Verbannung ging Iljitsch 1900 ins westeuropäische Exil, wo er erstmals
das Pseudonym »Lenin« benutzte. Mit seinem in München verfaßten Buch »Was tun?«
– der Titel war einem Roman des russischen Schriftstellers Nikolai G.
Tschernyschewski entlehnt – trat Lenin für die Schaffung einer straff
organisierten Kaderpartei von Berufsrevolutionären ein. Da die Arbeiterklasse
von sich aus nur gewerkschaftliche Kampforganisationen schaffen könne, sei es
die Aufgabe der Sozialisten, politisches Bewußtsein in die Klasse zu tragen und
die spontanen Kämpfe der Arbeiter auf das sozialistische Ziel auszurichten.
Gleichsam als Baugerüst der Partei sollte eine revolutionäre Zeitung als
kollektiver Organisator, Agitator und Propagandist dienen. Mit der 1900 bis
1902 erschienenen Iskra, die von Lenin zusammen mit Plechanow, Martow, Axelrod,
Potressow und Vera Sassulitsch herausgegeben wurde, entstand erstmals ein
solches Organ.
Die 1898 gegründete Sozialdemokratische Arbeiterpartei Rußlands (SDAPR) war
damals ein loser Verbund verschiedener sozialistischer Zirkel. Auf dem II.
Parteitag der
SDAPR, der im Sommer 1903 zuerst in Brüssel, dann in London tagte, sollte eine
einheitliche Partei geschaffen werden. Doch zwischen den Delegierten bestand
Uneinigkeit über den
Charakter dieser Partei. Martow und seine Anhänger strebten den Aufbau einer
breiten Massenpartei nach Vorbild der deutschen Sozialdemokratie an.
Demgegenüber stellte Lenin sein Modell einer zentralistischen Partei von
»Berufsrevolutionären«, die fest in die Parteiorganisation eingebunden sind.
Persönliche Mitarbeit in der Partei war für ihn das ausschlaggebende
Mitgliedskriterium. Lenin und die »harten Iskristen« erlitten in dieser Frage
zwar eine Niederlage, doch nach der Abreise der Delegierten des Jüdischen
Arbeiterbundes verfügten sie plötzlich über die Mehrheit. Sie nannten sich von
nun an Mehrheitler – Bolschewiki, während Martows Gruppe als Menschewiki, also
Minderheitler, bezeichnet wurde.
Formal bestand die in zwei Fraktionen geteilte SDAPR bis 1912 fort. Doch beide
Gruppen schufen eigenständige Parteiapparate. Auch die politischen Differenzen
wurden deutlicher. Während die Menschewiki in der bürgerlichen Revolution gegen
den Zarismus die Hauptaufgabe sahen und die Arbeiterklasse lediglich als
Anhängsel des liberalen Bürgertums betrachteten, setzte Lenin auf eine
sozialistische Revolution der Arbeiterklasse im Bündnis mit den Bauern. Während
der revolutionären Streikbewegung im Jahr 1905 konnte Lenin nach Rußland
zurückkehren. Er spielte allerdings keine aktive Rolle, sondern trat als
gründlicher Beobachter auf und ging nach Niederschlagung des Petrograder
Sowjets und des bewaffneten Arbeiteraufstandes in Moskau erneut ins europäische
Exil. Unter dem Eindruck der gescheiterten Revolution und der nachfolgenden
Stolypinschen Konterrevolution in Rußland kam es auch in den Reihen der
Bolschewiki zu ideologischer Verwirrung. Neue philosophische Strömungen
versuchten, Idealismus und Materialismus zu versöhnen. Mit seinem
philosophischen Hauptwerk »Materialismus und Empiriokritizismus« trat Lenin
1909 zur Verteidigung der marxistischen Theorie an.
Imperialismus und Krieg
Den Ausbruch des Ersten Weltkrieges erlebte Lenin im Schweizer Exil. Als er den
Vorwärts mit dem Bericht über die Zustimmung der SPD zu den kaiserlichen
Kriegskrediten in den Händen hielt, glaubte er zuerst an eine Fälschung. Der
Philosoph Slavoj Zizek sieht hier die Geburt des Leninismus: »Dieser Moment der
Verzweiflung, diese Katastrophe eröffnete den Schauplatz für das leninistische
Ereignis, für den Bruch mit dem evolutionären Historismus der Zweiten
Internationale – und nur Lenin formulierte die Wahrheit dieser Katastrophe
unmißverständlich. Dieser Moment der Verzweiflung brachte jenen Lenin hervor,
der über den Umweg einer gründlichen Lektüre von Hegels ›Logik‹ die einmalige
Gelegenheit der Revolution erkannte.«
Auf den Konferenzen der sozialistischen Kriegsgegner in Zimmerwald (1915) und
Kienthal (1916) in der Schweiz konnte sich Lenin gegen die pazifistische
Mehrheit mit seiner Losung der »Umwandlung des Krieges in einen Bürgerkrieg«
zum Sturz des Kapitalismus nicht durchsetzen. Doch er knüpfte Kontakte zu jenen
entschiedenen Linken, die 1919 die Kommunistische Internationale gründen sollten.
1916 erschien Lenins Schrift »Der Imperialismus als höchstes Stadium des
Kapitalismus«. Ausgehend von den Forschungen des sozialdemokratischen Ökonomen
Rudolf Hilferding untersuchte Lenin die Ablösung eines Kapitalismus der freien
Konkurrenz durch den Monopolkapitalismus. Das Finanzkapital sei die alles
beherrschende Macht geworden. Nicht mehr der Export von Waren, sondern von
Kapital stehe im Vordergrund. Der Krieg um die Neuaufteilung der Märkte und
Rohstoffe ist für Lenin das zwangsläufige Produkt einer zwischen räuberischen
Großmächten und den dahinterstehenden Kapitalgruppen aufgeteilten Welt. Damit
wandte sich Lenin explizit gegen die von Karl Kautsky aufgestellte und bis
heute von Globalisierungstheoretikern wiedergekäute These eines Ultraimperialismus,
der innerimperialistische Kriege ausschließe. Da Imperialismus faulender
Kapitalismus in seinem Endstadium sei, stände die sozialistische Revolution
weltweit auf der Tagesordnung.
Lenin brannte darauf, nach Rußland zurückzukehren und selbst aktiv
einzugreifen, als ihn im Februar 1917 die Nachrichten vom Sturz des Zaren
erreichten. Da der Weg durch mit Rußland verbündete Länder versperrt war,
verfällt Lenin auf die abenteuerliche Idee, mit Hilfe des deutschen
Generalstabs nach Rußland zu kommen. Die kaiserliche Führung hoffte, mit Hilfe
der Bolschewiki den russischen Kriegsgegner von innen zerrütten und einen
Separatfrieden schließen zu können, um für die Westfront dringend benötigte
Truppen von der Ostfront abziehen zu können. Im »plombierten Waggon« reisten
Lenin, Sinowjew, Radek und andere russische Revolutionäre unter Wahrung
strikter Exterritorialität durch Deutschland weiter nach Finnland und Rußland.
In Petrograd bereiteten revolutionäre Arbeiter und Soldaten Lenin einen
jubelnden Empfang. In seinen »Aprilthesen« formulierte Lenin ein
sozialistisches Aktionsprogramm für Rußland, das in der Forderung gipfelte:
»Alle Macht den Räten«.
Revolution
Als die provisorische Regierung unter dem Sozialrevolutionär Alexander Kerenski
nach bewaffneten Demonstrationen der Bolschewiki im Juli Lenin verhaften
wollte, floh er als Heizer getarnt auf einer Dampflok nach Finnland. In einer
Strohhütte verfaßte er sein Werk »Staat und Revolution«. Darin analysierte
Lenin den Staat als Unterdrückungsinstrument der herrschenden Klassen. Die
Diktatur des Proletariats sah er in einer Rätedemokratie nach dem Vorbild der
Pariser Kommune verwirklicht. Bei fortschreitender sozialistischer Entwicklung
würde der Arbeiterstaat absterben und die Unterdrückung von Menschen durch die
Verwaltung von Sachen abgelöst. Die Zuspitzung der revolutionären Ereignisse in
Rußland läßt das Buch unvollendet. »Es ist angenehmer und nützlicher, die
›Erfahrungen der Revolution‹ mitzumachen, als über sie zu schreiben«, schloß
Lenin.
Als evangelischer Pastor verkleidet, kehrte der überzeugte Atheist ohne Bart,
aber mit Perücke am 20. Oktober in die russische Hauptstadt zurück. Gegen
Sinowjew und Kamenew setzte er im Zentralkomitee durch, daß die Partei Kurs auf
den bewaffneten Aufstand nahm. Am 7. November siegte der Aufstand der
Bolschewiki unter Leitung Lenins und Trotzkis. Das Winterpalais wurde gestürmt,
und Kerenski mußte fliehen. »Der Übergang von der Illegalität und dem
Umhergetriebenwerden zur Macht ist zu schroff. Es schwindelt einem«, meinte
Lenin in dieser Nacht zu Trotzki. Am folgenden Tag verkündet er das »sofortige
Angebot eines demokratischen Friedens, die Aufhebung des gutsherrlichen
Grundbesitzes, die Arbeiterkontrolle über die Produktion, die Bildung einer
Räteregierung«. Die Macht geht auf den II. Allrussischen Sowjetkongreß über,
der Lenin zum Vorsitzenden des Rates der Volksbeauftragten, also zum russischen
Regierungschef wählt.
Lenins »revolutionäre Realpolitik«, wie sie Georg Lukács nannte, zeigte sich
bei den Brest-Litowsker Friedensverhandlungen mit Deutschland. Während linke
Kommunisten aufgrund der vom deutschen Generalstab diktierten unannehmbaren
Bedingungen für einen revolutionären Krieg eintraten, drängte Lenin zur
Unterschrift. Er vertraute darauf, daß eine Revolution in Deutschland den am 3.
März 1918 geschlossenen Raubfrieden rückgängig machen würde. Bis dahin galt es,
Zeit zur Verteidigung der Revolution zu gewinnen. Durch ein Attentat der
Sozialrevolutionärin Fanija Kaplan wurde Lenin am 30. August schwer verwundet.
Die Bolschewiki gingen von nun an auch gegen ihre linken Gegner mit Härte vor.
Abermals erwies sich Lenin als revolutionärer Realpolitiker, als er nach Ende
des Bürgerkrieges 1921 die Neue Ökonomische Politik mit begrenzten
marktwirtschaftlichen Elementen als vorübergehende taktische Maßnahme
einleitete, um die Versorgungslage in dem vom Krieg zerrütteten Land zu
verbessern.
Der letzte Kampf
Zwei Schlaganfälle minderten Lenins Arbeitsfähigkeit im folgenden Jahr. Sein
letzter Kampf galt Stalin, der seit März 1922 Generalsekretär der Partei war.
In seinem »Brief an den Parteitag« forderte Lenin die Ablösung Stalins, der für
seine Position »zu grob« sei. Er bezichtigte Stalin zudem des großrussischen
Chauvinismus gegenüber den Kaukasusvölkern. In seinem letzten Artikel »Lieber
weniger, aber besser« beklagte Lenin 1922 eine zunehmende Bürokratisierung des
Staats- und Parteiapparates. Nach einem dritten Schlaganfall im März 1923
konnte Lenin nicht mehr sprechen. Teilweise gelähmt, verbrachte er sein letztes
Lebensjahr in einem Sanatorium in Gorki bei Moskau. Am 20. Januar 1924 ließ
sich Lenin von Nadeschda Krupskaja eine Erzählung von Jack London vorlesen.
»Die nächste Erzählung ... war von bürgerlicher Moral durchtränkt ... Iljitsch
fing an zu lachen und winkte ab.« Am 21. Januar gegen 18.50 Uhr starb der
Begründer der Sowjetunion.
Sechs Tage später fand die Trauerzeremonie in Moskau statt. Es war der kälteste
Tag des Jahres. Die Trompeter mußten ihre Instrumente mit Wodka benetzen, um
nicht durch ihre Atemluft mit den Lippen festzufrieren. Das öffentliche Leben
war zum Stillstand gekommen. Fabriksirenen ertönten zu Ehren des Verstorbenen.
Die ganze Nacht brannten in Moskau Feuer auf den Straßen, an denen sich die
vielen Hunderttausend Menschen wärmten, bis sie an der Reihe waren, von Lenin
Abschied zu nehmen. Vier Tage und Nächte zog das Volk am Leichnam Lenins
vorbei. Als die führenden Bolschewiki Sinowjew, Kamenew, Bucharin, Stalin,
Molotow, Tomski, Rudzutak und Dzierzynski den Sarg aus dem Gewerkschaftshaus in
ein provisorisches Mausoleum trugen, stimmte die Masse auf dem Roten Platz die
»Internationale« an. Trotzki fehlte. Stalin hatte seinem schärfsten Kritiker
einen falschen Termin genannt, den der in Suchumi zur Kur weilende Trotzki
unmöglich erreichen konnte.
Gegen den Willen des Verstorbenen und den Protest seiner Witwe Krupskaja ließ
Stalin Lenins Leiche einbalsamieren und in einem Mausoleum auf dem Roten Platz
aufbahren.
Nick Brauns