Junge Welt 28.08.2010
/ Geschichte / Seite 15
Zwei Strömungen
Generalstreik oder Schiedsgericht? Vor 100 Jahren
debattierte die sozialistische II. Internationale über den Kampf gegen die
Kriegsgefahr
Von Nick
Brauns
Angesichts der Zuspitzung
innerimperialistischer Konflikte der Großmächte im Kampf um Märkte und
Rohstoffe hatte die Kriegsfrage eine herausragende Stellung auf dem
Internationalen Sozialistenkongreß, der vom 28.
August bis zum 3. September 1910 im dänischen Kopenhagen tagte. 896 Delegierte,
darunter 189 Vertreter der deutschen Sozialdemokratie und
Gewerkschaftsbewegung, repräsentierten etwa acht Millionen organisierte
Arbeiter aus 23 Ländern. Unter den Delegierten befanden sich Clara Zetkin und
Georg Ledebour aus Deutschland, Rosa Luxemburg und
Julian Marchlewski aus Polen, Wladimir Illjitsch Lenin und Georgi Plechanow
aus Rußland und Jean Jaurès
aus Frankreich.
Bereits einen Tag vor Beginn des Kongresses traten die Vertreterinnen der
sozialistischen Frauenbewegung zusammen. Einstimmig wurde ein von Clara Zetkin,
Käte Duncker und anderen Genossinnen eingebrachter Antrag angenommen, nach dem
Vorbild der nordamerikanischen Sozialistinnen alljährlich einen
Internationalen Frauentag für die Gleichberechtigung durchzuführen.
Um den Weltfrieden
Wie schon beim Stuttgarter Sozialistenkongreß 1907
debattierten die Delegierten über die Sicherung des Weltfriedens. Grundlage war
die Stuttgarter Resolution von 1907. Darin wurden die Arbeiter und ihre
parlamentarischen Vertreter aufgefordert, »alles aufzubieten, um durch die
Anwendung der ihnen am wirksamsten erscheinenden Mittel den Ausbruch des
Krieges zu verhindern, die sich je nach der Verschärfung des Klassenkampfes und
der Verschärfung der allgemeinen politischen Situation naturgemäß ändern«. In
der Frage, wie dieses »alles« konkret aussehen sollte, versuchten sowohl
Anhänger einer anarchosyndikalistischen Taktik als
auch rechte Opportunisten, den Stuttgarter Beschluß
aufzuweichen. Die Linksradikalen um den Franzosen Édouard Vaillant und den
Briten Keir Hardie
forderten, daß der Kongreß
den Generalstreik zum entscheidenden Mittel im Kampf gegen den Krieg erklären solle.
Während die russischen Bolschewiki aus einem marxistischen Standpunkt heraus
eine solche einseitige Festlegung auf ein bestimmtes, womöglich aufgrund
ungünstiger sozialer und politischer Voraussetzungen zu Kriegsbeginn gar nicht
durchführbares Kampfmittel ablehnten, argumentierten die deutschen,
österreichischen und italienischen Sozialdemokraten vom Standpunkt des durch
Polizeiverfolgung eingeschüchterten Kleinbürgers gegen die Generalstreikslosung.
Statt dessen stellte die deutsche Sozialdemokratie die
pazifistischen Forderungen nach »Abrüstung« und der »Einsetzung eines
internationalen Schiedsgerichts« auf. Am 2. September beschloß
das Plenum des Kongresses eine Resolution über Militarismus und Krieg, die die
Stuttgarter Resolution bekräftigte, zugleich aber die sozialistischen
Parlamentsfraktionen verpflichtete, von ihren Regierungen einen Abbau der
Rüstung und die Beilegung zwischenstaatlicher Konflikte durch ein
Schiedsgericht zu verlangen. Lenin stellte anschließend fest, daß der Hauptmangel der Resolution nicht in der
»Nichterfüllbarkeit« dieser Forderungen »im Rahmen des Kapitalismus« bestehe,
sondern im Fehlen der Forderung nach Ersetzung der bürgerlichen Armee durch
eine Volkswehr.
Auch auf der Internationalen Konferenz der sozialistischen Jugendorganisationen,
die im direkten Anschluß an den Sozialistenkongreß
in Kopenhagen stattfand, wurde über den Militarismus debattiert. Karl
Liebknecht führte aus, »daß der heutige Militarismus
nicht als Einzelerscheinung in der Gesellschaft, sondern als ein Glied des
Kapitalismus betrachtet und bekämpft werden müsse«. Ausführlich widmete sich
Liebknecht auch dem inneren Militarismus: »Die Herausbildung eines hündischen
Kadavergehorsams und eines Landsknechtsübermutes
gegen die Masse der Zivilbevölkerung ist das erstrebte Ziel, das die Soldaten
geeignet machen soll, Streikbrecherdienste zu leisten
und bei wirtschaftlichen und politischen Konflikten auf die eigenen
Klassengenossen, auf Vater, Mutter und Geschwister zu schießen.« Unter dem
Motto »Krieg dem Kriege« rief die Jugend-Internationale zur »Zersetzung der für
den Militarismus erforderlichen Psychologie« innerhalb der Bevölkerung und der
Armee auf.
»Völlige Enteignung«
Zentral auf der Kopenhagener Agenda stand weiterhin die Genossenschaftsfrage:
»Müssen die Genossenschaften neutral und von politischen Organisationen
unabhängig oder durch persönliche Verbindungen mit der Partei liiert sein oder
schließlich zur Partei gehören?« Rechte
Sozialdemokraten, die sich innerhalb der Genossenschaftsbewegung bequeme
Pöstchen gesichert hatten, appellierten für eine Neutralität der
Genossenschaften, um ihre Privilegien nicht aufzugeben. Ein Resolutionsentwurf
der deutschen Delegation behauptete gar, daß »die
genossenschaftliche Konsumentenorganisation und die ihnen angegliederten
Produktivgenossenschaften als ein Mittel zur Demokratisierung und
Sozialisierung der Gesellschaft zu erachten« seien. Gegen diese reformistische
Illusion, daß die Genossenschaften bereits unter
kapitalistischen Bedingungen den Weg zum Sozialismus eröffneten, definierte
Lenin die Rolle der Genossenschaften »als eines der (unter bestimmten
Bedingungen) möglichen Hilfsmittel des proletarischen Klassenkampfes für die
›völlige Enteignung‹ (expropriation intégrale) der Kapitalistenklasse«.
Die vom Kongreß schließlich verabschiedete Resolution
benannte als Hauptziel der Genossenschaften die Förderung des Klassenkampfes
des Proletariats und die Verbesserung seiner Lebensbedingungen. Während vor
einer Übertreibung der Rolle der Genossenschaften gewarnt wurde, verlangte die
Resolution von Sozialisten die aktive Teilnahme an der Genossenschaftsbewegung,
in die sie sozialistisches Bewußtsein hineintragen
sollten.
Noch dominierte innerhalb der Zweiten Internationale die Strömung des durch
Politiker wie Ledebour und Hugo Haase aus Deutschland
oder Viktor Adler aus Österreich gebildeten Zentrums, die zwar in Worten den
Marxismus verteidigte, doch in der Praxis dem Vordringen des Opportunismus
nichts entgegenzusetzen hatte. »Meinungsverschiedenheiten mit den Revisionisten
sind zwar sichtbar geworden, doch ist es noch weit bis zu einem Auftreten der
Revisionisten mit einem selbständigen Programm«, urteilte Lenin, der am Rande
der Kopenhagener Zusammenkunft eine »Vertrauliche Versammlung der Linken der
Internationale« einberufen hatte, anschließend über das Vordringen der rechten
Opportunisten auf dem Sozialistenkongreß. »Der Kampf
gegen den Revisionismus wurde aufgeschoben, aber dieser Kampf wird
unvermeidlich kommen.«
Quellentext: »Eine wahre Affenschande«
In seinem Tagebuch kommentiert der
anarchistische Dichter Erich Mühsam am 5. September 1910 die Ablehnung des
Generalstreiks gegen den Krieg durch rechte Sozialdemokraten:
Den Sozialistenkongreß in Kopenhagen verfolgte ich in
diesen Tagen in den spärlichen Auslassungen des Matin mit großem Interesse. Es
ist doch schmachvoll, wie diese deutschen Sozialdemokraten ihren Beruf als
Volksführer auffassen, mit was für Mätzchen und Kniffen sie sich um die
selbstverständlichsten Pflichten herumdrücken. Von den Engländern (...) war der
Antrag gestellt worden, jeder drohenden Kriegserklärung sei von den Arbeitern
der betroffenen Länder mit dem Generalstreik zu begegnen. (...) Die Herren Ledebour und Renner haben beweglich gestöhnt, daß ein solcher Beschluß höchst
bittere Repressalien der Regierung gegen die Sozialdemokratie hervorrufen
würde. So weit ist es nun also glücklich gekommen, daß
die »revolutionäre« deutsche Arbeiterschaft selbst bei ihrer Abstimmung über
die Dinge, die die internationale Sache des sogenannten Proletariats betreffen,
nach dem Eindruck schielt, der »oben« – in der Wilhelmstraße – erweckt wird. Es
ist eine wahre Affenschande! – Aber die Ablehnung energischer Maßregeln gegen
androhende Kriege muß eine Wirkung ausüben, für die
jeder, der an dieser Ablehnung mitgewirkt hat, geköpft zu werden verdient. Das
Votum der deutschen Sozialdemokraten kann bei der Regierung gar nicht anders
verstanden werden als: »Wenn ihr Krieg führen wollt – auf uns, auf die deutsche
Arbeiterschaft, könnt ihr euch verlassen!« (...) Jetzt
hätte ein radikaler Beschluß ihrer Mandatare sicher
viel Verständnis und Zustimmung bei den Arbeitern gefunden. Aber man will sich
vor den Wahlen der »Mitläufer« versichern, man ist diplomatisch um des
Ehrgeizes willen, im Reichstag das Maul aufreißen zu dürfen. Pfui Deibel!
Aus: Erich Mühsam, Tagebücher 1910–1924, München 1994,
S. 20 ff.