Junge Welt 01.02.2003

Generalprobe  

Vor 85 Jahren traten Hunderttausende deutsche Arbeiter in den Streik gegen den Krieg  

 

Die russische Oktoberrevolution hatte bei den Arbeitern und Soldaten der kriegführenden Mächte die Hoffnung auf ein baldiges Ende des Völkerschlachtens ausgelöst. Doch die militärische und politische Führung Deutschlands und Österreich-Ungarns hoffte, durch einen Separatfrieden mit Rußland große Teile des ehemaligen Zarenreiches zu annektieren und Truppen für eine neue Offensive an der Westfront freizubekommen. Gegen den geplanten Raubfrieden von Brest-Litowsk und eine Fortführung des Krieges breitete sich seit dem 15. Januar 1918 eine politische Massenstreikbewegung von Wiener Neustadt über das ganze Habsburger Reich bis nach Prag und Budapest aus.

Das Vorbild ihrer österreichischen Kollegen ermutigte die deutsche Arbeiterschaft. Eine halbe Million Berliner Arbeiter folgte am 28. Januar einem Aufruf der Unabhängigen Sozialdemokratie zum Streik. Ihre Hauptforderung lautete »schleunige Herbeiführung des Friedens ohne Annexion, ohne Kriegsentschädigung, auf Grund des Selbstbestimmungsrechts der Völker entsprechend den Ausführungsbestimmungen, die dafür von den russischen Volksbeauftragten in Brest-Litowsk formuliert wurden«. Für Deutschland forderten die von den Streikenden gebildeten Berliner Arbeiterräte eine »durchgreifende Demokratisierung der gesamten Staatseinrichtungen«. Ein von den Arbeitern gewählter elfköpfiger Aktionsausschuß unter Leitung von Richard Müller führte die Streikbewegung an. Als Vertreter der Arbeiterparteien wurden die USPD-Reichstagsabgeordneten Hugo Haase, Georg Ledebour und Wilhelm Dittmann sowie die Vorstandsmitglieder der SPD Friedrich Ebert, Philipp Scheidemann und Otto Braun hinzugezogen.

Zu Arbeitsniederlegungen und Demonstrationen kam es auch in Kiel, Braunschweig, Halle, Magdeburg, Leipzig, Breslau, Köln und Mannheim. Rüstungsbetriebe wurden lahmgelegt, ebenso die Zechen im Dortmunder Kohlenrevier und viele Werften. In Bayern unternahm die Mehrheitssozialdemokratie (MSPD) unter Erhard Auer alles, um wilde Streiks zu verhindern. Auer befürchtete, die MSPD würde ihre Rolle als alleinige Vertretung der bayerischen Arbeiterschaft einbüßen, wenn sie die Zügel lockerlasse. In Nürnberg schloß sich die MSPD schließlich dem Streikaufruf an, um die Kontrolle über die Bewegung zu behalten. 40 000 Arbeiter traten daraufhin in den Ausstand. Der Führer der Unabhängigen Sozialdemokratie in München, der Journalist Kurt Eisner, strebte im Gegensatz zur Berliner USPD-Führung gleich den revolutionären Sturz der kaiserlichen Regierung an. Es gelte, »den Frieden zu erzwingen, den nicht die heutige Regierung schließen will und schließen kann, sondern nur das freie Volk selber durch seine Vertreter«.

Doch lediglich 250 Interessierte beteiligten sich an einer für den 27. Januar in den Kolosseums-Bierhallen einberufenen Streikversammlung der Münchner USPD. Noch war es nicht gelungen, ausreichende Verbindungen mit den Arbeitern der Großbetriebe zu knüpfen. Diese Gelegenheit bot sich, als die MSPD die Arbeiter der Münchner Rüstungsbetriebe am 28. und 29. Januar zu Belegschaftsversammlungen aufrief, um dort beschwichtigend auf sie einzuwirken. Gegen den Widerstand der MSPD-Redner erteilten die Arbeiter der Krupp- und der Rapp-Motorenwerke auch Eisner das Rederecht, der auf große Zustimmung stieß. Die Vertrauensleute beschlossen, am 31. Januar in den Streik zu treten. Dem Demonstrationszug der Krupp-Arbeiter vor die Werks-tore der anderen Großbetriebe im Münchner Norden war zu verdanken, daß es zu weiteren Arbeitsniederlegungen kam. Insgesamt waren rund 9000 Münchner Rüstungsarbeiter dem Aufruf zum Streik gefolgt.

Das militärische Oberkommando reagierte auf den Massenstreik mit der Verhängung des verschärften Belagerungszustandes für Berlin. Die bestreikten Rüstungsbetriebe wurden unter militärische Kontrolle gestellt. Massenverhaftungen setzten in den ersten Februartagen ein. Streikende wurden von der Polizei in die Kasernen gebracht und zum Kriegsdienst gezwungen. So wurden allein von der Maschinenbaufirma Schwartzkopff 1400 Arbeiter zur Truppe eingezogen. Da eine Steigerung der Streikbewegung im Reichsmaßstab – auch aufgrund der hemmenden Rolle der MSPD – nicht für möglich gehalten wurde, beschloß der Aktionsausschuß für den 4. Februar den Abbruch des sechstägigen Massenstreiks.

In München hatte die Polizei Kurt Eisner bereits in der Nacht zum 1. Februar als »geistigen Leiter und Organisator der Ausstandsbewegung« verhaftet und für achteinhalb Monate inhaftiert. Ihres Führers beraubt, geriet die Münchner Streikbewegung unter den Einfluß der Mehrheitssozialdemokratie, die sich gegen-über der Regierung als Wortführer der Arbeiterschaft gebärdete und den Streik bereits am 3. Februar abbrach.

Dennoch hatte sich Erhard Auers Befürchtung bewahrheitet. Teile der bayerischen Arbeiterschaft waren von der MSPD abgerückt und sahen in Eisner ihren Führer. Bisher hatten selten mehr als 100 Personen an den Diskus- sionsabenden der Unabhängigen Sozialdemokratie in München teilgenommen, die in München gerade einmal über 600 Mitglieder verfügte. Während des Streiks war es der USPD erstmals gelungen, eine Massenbewegung zu führen. Durch die Verhaftung Eisners, Ernst Tollers und anderer führender Aktivisten war die bayerische USPD für mehrere Monate wieder zurück auf das Stadium eines Diskussionszirkels geworfen worden. Doch der Samen, den Eisner im Januar 1918 gelegt hatte, sollte im November des Jahres aufgehen, als die bayerischen Arbeiter, Bauern und Soldaten König Ludwig III. stürzten.

Eisner, der vor dem Krieg dem revisionistischen Flügel der SPD angehörte, hatte im Januarstreik die Erkenntnis gewonnen, daß die Sozialdemokratie »eine bis zur Komik getreue Volksausgabe des Staates, in dem sie lebt« darstellt und ihre Funktionäre eine »beispiellos unfähige und verdächtig zersetzende Führung, die sich unmäßig weise in ihrer illusionsfreien Realpolitik dünkt und den alten Grundsätzen dabei treugeblieben zu sein behauptet«. Notwendig sei daher eine Emanzipation der Arbeiter von diesen Führern und ihre Selbstorganisation auf Betriebsebene. »Sie dürfen sich nicht vertreten lassen, von niemandem.«

Wie richtig seine Einschätzung der SPD-Führer war, belegen deren Aussagen vor Gericht, als Reichspräsident Ebert 1925 durch reaktionäre Journalisten wegen seiner Teilnahme am Januarstreik 1918 des Landesverrats bezichtigt wurde. Er sei mit der bestimmten Absicht in die Streikleitung eingetreten, den Streik zum schnellsten Abschluß zu bringen und eine Schädigung des Landes zu verhüten, versicherte Ebert. Und Scheidemann ergänzte: »Wenn wir nicht in das Streikkomitee hineingegangen wären, dann wäre der Krieg und alles andere nach meiner festen Überzeugung schon im Januar erledigt gewesen.« Deutlicher als in ihren eigenen Worten läßt sich die verräterische Rolle der rechten Sozialdemokraten nicht formulieren.

Auch wenn die Januarstreiks keinen sofortigen Erfolg brachten, ist Lenins Einschätzung dieser Generalprobe für die Novemberrevolution zuzustimmen: »Der Zauber der russischen Revolution fand in der ersten grandiosen Aktion der deutschen Arbeiter während des Krieges seinen Ausdruck, als diese auf die Brester Verhandlungen mit einem kolossalen Streik in Berlin und anderen Industriezentren reagierten. Diese Aktion des Proletariats in einem Land, das durch das Gift des Nationalismus und Chauvinismus in einen Rauschzustand versetzt worden war, ist eine Tatsache von erstrangiger Wichtigkeit.«

 

Nick Brauns