Junge Welt 10.01.2004

Genossenmord  

Die Berliner Januarkämpfe vor 85 Jahren  

 

In den ersten Januartagen des Jahres 1919 riefen Plakate an Berliner Litfaßsäulen offen zum Mord an den Führern der Kommunistischen Partei auf: »Schlagt ihre Führer tot! Tötet Liebknecht! Dann werdet ihr Frieden, Arbeit und Brot haben.« Schon bald sollte die sozialdemokratische Reichsregierung im Bündnis mit rechtsextremen Söldnerbanden die Möglichkeit zum militärischen Vorgehen gegen die radikale Arbeiterschaft und die erst zu Neujahr gegründete Kommunistische Partei finden.

Auf Druck ihrer Parteibasis waren Ende Dezember 1918 die Vertreter der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei (USPD) aus dem Rat der Volksbeauftragten ausgetreten, nachdem Reichskanzler Friedrich Ebert revolutionäre Matrosen durch Freikorpsverbände zusammenschießen ließ. Der Ebert-Regierung war nun noch der Berliner Polizeipräsident Emil Eichhorn ein Dorn im Auge. Durch die Auflösung der politischen Polizei und andere Maßnahmen hatte Eichhorn bisher verhindert, daß die Polizei gegen die revolutionäre Arbeiterschaft eingesetzt werden konnte. Am 4. Januar 1919 gab das preußische Innenministerium die Absetzung Eichhorns bekannt. »Ich habe mein Amt von der Revolution empfangen, und ich werde es nur der Revolution zurückgeben«, erklärte Eichhorn dagegen.

Am Abend des 4. Januar beschlossen die Revolutionären Obleute – radikale Betriebsvertrauensmänner – auf einer gemeinsamen Sitzung mit Karl Liebknecht und Wilhelm Pieck von der KPD sowie Berliner USPD-Führern, eine Massenkundgebung gegen die Absetzung Eichhorns einzuberufen. »Mit dem Schlage, der gegen das Berliner Polizeipräsidium geführt wird, soll das ganze deutsche Proletariat, die ganze deutsche Revolution getroffen werden«, hieß es in einem Aufruf. Rund 100 000 zum Teil bewaffnete Arbeiter marschierten am Sonntag, den 5. Januar durch das Brandenburger Tor. Vom Balkon des Polizeipräsidiums am Alexanderplatz sprachen Emil Eichhorn, Karl Liebknecht, USPD-Führer Georg Ledebour und Ernst Däuming von dem Revolutionären Obleuten. Alle Redner protestierten gegen die niederträchtige Hetze im SPD-Blatt Vorwärts. »Auf zum Vorwärts«, hieß es plötzlich. Tausende Demonstranten folgten dieser vermutlich von einem Provokateur ausgegebenen Losung. Die Posten am Eingang des Vorwärts-Gebäudes wurden schnell überwältigt. Anschließend besetzten revolutionäre Arbeiter, Soldaten und Jugendliche auch bürgerliche Verlage wie Mosse und Ullstein im Berliner Zeitungsviertel um die Kochstraße. Aus Papierballen wurden Barrikaden errichtet.

Bis heute wird in bürgerlichen Geschichtsbüchern die Legende vom »Spartakusaufstand« verbreitet. Tatsächlich plante die Kommunistische Partei Deutschlands (Spartakusbund) keine Eskalation der Ereignisse, wie sie durch die Besetzung des Vorwärts ausgelöst wurde. Die Zentrale der KPD war sich bewußt, daß bei einem Sturz der Regierung durch die Berliner Arbeiterschaft das rote Berlin im Reich isoliert bliebe. Beim Gründungsparteitag der KPD (Spartakusbund) zum Jahreswechsel 1918/19 hatte Rosa Luxemburg darauf verwiesen, daß ein Sturz der Reichsregierung erst der Endpunkt eines sozialistischen Massenkampfes sein könne. Im Parteiprogramm wandte sie sich gegen jeden Putschismus: »Der Spartakusbund wird nie anders die Regierungsgewalt übernehmen als durch den klaren, unzweideutigen Willen der großen Mehrheit der proletarischen Massen in ganz Deutschland, nie anders als Kraft ihrer bewußten Zustimmung zu den Ansichten, Zielen und Kampfmethoden des Spartakusbundes.« Die KPD verfügte bisher nur über geringen Einfluß unter den Betriebsarbeitern. In dieser Situation konnte die Partei nicht viel mehr tun, als geduldige Propaganda zu betreiben und an der eigenen Stärkung zu arbeiten.

Doch der überraschende Erfolg der Demonstration vom 5. Januar ließ die KPD-Vertreter Pieck und Liebknecht ohne Rücksprache mit ihrer Parteizentrale auf einer Sitzung mit den Revolutionären Obleuten und der Berliner USPD-Leitung für einen Sturz der Regierung stimmen. Ein Vertreter der Volksmarinedivision hatte fälschlicherweise versprochen, die Berliner Truppenverbände seien bereit, gegen die Regierung zu kämpfen. Ein 33köpfiger Revolutionsausschuß unter Vorsitz von Karl Liebknecht, Georg Ledebour und Paul Scholze wurde gebildet, der aufgrund einer falschen Einschätzung des Kräfteverhältnisses für den 6. Januar zur Eroberung der »Macht des revolutionären Proletariats« aufrief.

Am 6. Januar wurde in Berlin der Generalstreik verkündet. Über eine halbe Million Arbeiter zog mit roten Fahnen ins Stadtzentrum. »Hoch Liebknecht! Hoch Luxemburg! Hoch Eichhorn! Nieder mit der Regierung«, hieß es in Sprechchören. Aus staatlichen Depots und Werkstätten wurden Waffen für rund 3 000 Revolutionäre beschafft. Verschiedene Bahnhöfe, die Reichsbank und die Reichsdruckerei wurden besetzt. Gleichzeitig demonstrierten Tausende Menschen nach einem Aufruf der SPD in der Wilhelmstraße zum Schutz der Reichsregierung gegen die Spartakisten.

Schnell verfaßte Wilhelm Pieck auf einer Schreibmaschine ein Schriftstück: »Die Regierung Ebert-Scheidemann hat sich unmöglich gemacht. Sie ist von dem unterzeichneten Revolutionsausschuß der Vertretung der revolutionären sozialistischen Arbeiter und Soldaten (Unabhängige Sozialdemokratische Partei und Kommunistische Partei) für abgesetzt erklärt. Der unterzeichnete Revolutionsausschuß hat die Regierungsgeschäfte vorläufig übernommen.« In einem Handstreich sollte die Reichsregierung verhaftet und eine neue Regierung durch Liebknecht, Ledebour und Scholze gebildet werden. »Karl, ist das unser Programm?« soll Rosa Luxemburg entsetzt ausgerufen haben, als sie die Erklärung zu lesen bekam. Das Papier wurde in mehreren Kasernen verlesen, doch die Berliner Truppenteile waren nicht bereit, sich den Aufständischen anzuschließen.

Für die Reichsregierung waren die radikalen Reaktionen auf die Absetzung Eichhorns der ersehnte Anlaß, militärisch gegen die revolutionäre Bewegung vorzugehen und die KPD zu zerschlagen. »Die Regierung bereitet jetzt alles vor, so daß sie einen Schlag führen kann«, versicherte Gustav Noske. Am 6. Januar wurde er vom preußischen Kriegsminister Oberst Reinhardt zum Oberbefehlshaber der regierungstreuen Truppen in Berlin ernannt. Indem ein Sozialdemokrat statt eines kaiserlichen Generals das Oberkommando erhielt, sollte die Arbeiterschaft über den konterrevolutionären Charakter der Regierungstruppen getäuscht werden. »Meinetwegen! Einer muß der Bluthund sein, ich scheue die Verantwortung nicht«, kommentierte Noske, der schon im Kaiserreich dem rechten Parteiflügel der SPD angehörte und gute Beziehungen zur Reichswehr unterhielt. Im SPD-Organ Vorwärts wurde zur Bildung von Freikorps aufgerufen. Weltkriegsoffiziere, Abenteurer und Kriminelle, Studenten und antikommunistisches Bürgertum aus Berliner Villenvororten schlossen sich in rechtsextremen Freiwilligenverbänden zusammen, die sich in den westlichen Berliner Vororten sammelten. Das militärische Kommando über die mehreren zehntausend Freikorpsmänner lag beim späteren Kapp-Putschisten General Walther Freiherr von Lüttwitz.

Angesichts des drohenden Blutbades begannen die USPD-Führer Verhandlungen mit der Reichsregierung. Sie erkannten nicht, daß es der Regierung nur darum ging, Zeit zu gewinnen, um die nötige militärische Überlegenheit zu erreichen. »Entscheidende Handlungen werden nicht mehr lange auf sich warten lassen. Es muß aber gründliche Arbeit getan werden, und die bedarf der Vorbereitung«, hieß es in einem Aufruf der Reichsregierung vom 8. Januar: »Die Stunde der Abrechnung naht!« Angesichts der zögerlichen Haltung der USPD-Führung zog die KPD Liebknecht und Pieck aus dem Revolutionsausschuß zurück. Die Partei rief die Arbeiter dazu auf, eine Rote Garde zu bilden. Noch während die USPD mit der Regierung verhandelte, begann am 8. Januar der Angriff der Freikorps. Der Anhalter Bahnhof und andere Stützpunkte der Revolutionäre wurden zurückerobert.

Die Berliner Arbeiterschaft trat erneut in den Generalstreik. »Einigkeit der Sozialisten« und »Kein Brudermord« waren die zentralen, aber illusionären Forderungen.

In der Nacht des 10. Januar begann schließlich der Sturm des Regiments »Potsdam« auf das Vorwärts-Gebäude. Gegen den zweistündigen Beschuß mit Feldgeschützen und Minenwerfern kamen die mehr als 300 oft militärisch unerfahrenen Besetzer des Gebäudes nicht an. Die Verluste waren groß. Der mit Maschinengewehren gesicherte Balkon des Hauses wurde von einer Mine abgerissen. Eine Gruppe Parlamentäre wurde von den Noske-Söldnern kaltblütig gelyncht. Unter Kolbenhieben und Peitschenschlägen wurden die übrigen Revolutionäre nach ihrer Kapitulation von den Freikorps abgeführt.

Nach dem Fall des Vorwärts-Hauses beschlossen die Besetzer der anderen Verlage den geordneten Rückzug. Über die Dächer und durch Hinterhöfe entging der größte Teil von ihnen der Gefangennahme. Auch am Schlesischen Bahnhof mußten sich bewaffnete Arbeiter, die dort Militärtransporte der Bahn verhindert hatten, zurückziehen. Die letzten Kämpfe fanden am 12. Januar kurz nach Mitternacht um das Polizeipräsidium statt. Auch hier schossen die Noske-Truppen das Gebäude sturmreif. Im USPD-Organ Freiheit schilderte ein Gefangener später die Greueltaten der Soldateska: »Als der Gefangenentransport vor die Alexanderkaserne kam, wurden fünf davon ... auf offener Straße an die Wand gestellt und von Regierungssoldaten ... niedergeschossen ... Die übrigen Gefangenen wurden, während sie durch das Tor in den Kasernenhof transportiert wurden, in unerhörter Weise von Regierungssoldaten, sogenannten ›Maikäfern‹, mißhandelt und mit Kolbenschlägen traktiert ... Ein sechzehnjähriger Knabe, der sich unter den Gefangenen befand, natürlich Zivilist, rief auf dem Kasernenhof: ›Hoch Liebknecht!‹ und erhielt ... mit dem Kolben einen Schlag auf den Kopf, der ihm den Schädel spaltete.«

Die Noske-Truppen besetzten ganz Berlin. Panzerwagen und Artillerie standen vor öffentlichen Gebäuden. Über die Stadt wurde der Belagerungszustand verhängt. Freikorps durchkämmten die Arbeiterviertel. Tausende Arbeiter wurden verhaftet und mißhandelt und Personen, bei denen man Waffen oder die Mitgliedskarte der KPD fand, sofort erschossen. Ein Untersuchungsausschuß des Preußischen Landtages bezifferte die Zahl der Toten in den Januarkämpfen später auf 156. In Wirklichkeit waren es wesentlich mehr, und viele von ihnen waren nicht im Kampf gefallen, sondern wehrlos in Gefangenschaft ermordet worden.

»›Ordnung herrscht in Berlin!‹ Ihr stumpfen Schergen! Eure ›Ordnung‹ ist auf Sand gebaut. Die Revolution wird sich morgen schon ›rasselnd wieder in die Höh’ richten‹ und zu eurem Schrecken mit Posaunenklang verkünden: Ich war, ich bin, ich werde sein!« So hieß es in Rosa Luxemburgs letztem Artikel am 14. Januar.

Immer offener wurde die Pogromhetze gegen die Führer der Kommunistischen Partei. Eine Antibolschewistische Liga, die von rund 50 deutschen Wirtschaftsführern, darunter Siemens, Stinnes und Borsig, gegründet wurde, stellte 500 Millionen Mark zur Bekämpfung des »Spartakismus« zur Verfügung. Und der Vorwärts veröffentlichte ein Gedicht, in dem es hieß: »Vielhundert Tote in einer Reih – Proletarier! Karl, Rosa, Radek und Kumpanei – es ist keiner dabei, es ist keiner dabei! Proletarier!« Am 15. Januar fielen Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg in ihrem letzten Unterschlupf in Wilmersdorf in die Hände der Garde-Kavallerie-Schützendivision des Hauptmann Waldemar Pabst. Sie wurden noch in derselben Nacht grausam ermordet.

»Die Januarkämpfe des Jahres 1919 sind die entscheidende Wendung der deutschen Revolution, denn damals wurde die Offensivkraft der radikalen Arbeiterschaft gebrochen. Die Nutznießer des Sieges waren nur scheinbar die Mehrheitssozialisten, in Wirklichkeit die Offiziere und durch sie das Bürgertum«, lautet das Fazit des sozialistischen Historikers Arthur Rosenberg über diese »Marneschlacht der deutschen Revolution«.

Der Kommunist Karl Retzlaw kommt als Teilnehmer an den Januarkämpfen von 1919 zu dem Ergebnis: »Den Mitgliedern der Partei [der SPD] aber, die während des Naziregimes unter dem Galgen standen oder unter dem Fallbeil lagen, mag in ihren letzten Augenblicken die Erkenntnis gekommen sein, daß die Anfänge des Hitlerregimes bei der Ebert-Regierung zu finden sind und daß es keine Hitlerdiktatur und keine Entartung der russischen Revolution unter der Stalin-Diktatur gegeben hätte, wenn die potentiellen Gegner der Diktatoren nicht ermordet worden wären. Der Genossenmord hat in Deutschland begonnen.«

 

Nick Brauns