Junge Welt 29.04.2010
/ Thema / Seite 10
Das »internationale Komplott«
Vorabdruck. »PKK – Perspektiven des kurdischen
Freiheitskampfes. Zwischen Selbstbestimmung, EU und Islam«
Von Nick
Brauns und Brigitte Kiechle
Für eine
friedliche und demokratische Entwicklung im Mittleren Osten ist die Lösung der
kurdischen Frage Voraussetzung. Die erfordert die Einbeziehung der von EU und
USA als »terroristisch« verfolgten Arbeiterpartei Kurdistans PKK, meinen Nick
Brauns und Brigitte Kiechle in ihrem Anfang Mai erscheinenden Buch »PKK –
Perspektiven des kurdischen Freiheitskampfes: Zwischen Selbstbestimmung, EU und
Islam«.
Die Autoren setzen sich ausführlich mit der Geschichte der kurdischen
Befreiungsbewegung einschließlich ihrer starken Frauenbewegung auseinander. Die
Kurdenpolitik der amtierenden islamischen AKP-Regierung wird analysiert, nach
den Folgen eines türkischen EU-Beitritts gefragt und die Rolle Deutschlands als
Kriegspartei deutlich gemacht. Wir veröffentlichen aus dem Buch vorab die
gekürzte Fassung eines Abschnitts aus dem zweiten Kapitel, der sich mit der
Entführung und Verschleppung Abdullah Öcalans befaßt.
Ende der 90er Jahre war die Guerilla der PKK zwar
nicht besiegt, da eine Guerilla allen geschichtlichen Erfahrungen nach durch
eine konventionelle Armee niemals endgültig geschlagen werden kann. Doch
rückblickend wird deutlich, daß der bewaffnete Kampf
in dem Sinne gescheitert war, als es keine Aussichten gab, das in der ersten
Hälfte der 90er Jahre errungene strategische Gleichgewicht in eine Offensive
zur Befreiung Kurdistans zu überführen. Der ehemalige Kommandant Selahattin Çelik sieht die PKK ab 1998 militärisch in einer Sackgasse.
»Einerseits führten die Konzentrationen des Aktionsradius auf begrenzte Gebiete
und die Anwendung der immer gleichen Taktik dazu, daß
der Kriegsschauplatz sich immer weiter nach Südkurdistan1 verlagerte und sich
dort schließlich konzentrierte, was zu einem hohen Anstieg der Verluste führte.
Andererseits bot die PKK dem türkischen Staat auf dem Gebiet der internen
Nachrichtenbeschaffung immer größer werdende Angriffsflächen. Durch die Bildung
und Entsendung professioneller Einheiten durch den türkischen Staat und die
Aktivitäten, die die Konterguerilla entfaltete, wurden mehr und mehr
verheerende Verwüstungen angerichtet.«2 Die genaue
Zahl der Opfer während des 15jährigen bewaffneten Befreiungskampfes und des vom
Staat geführten schmutzigen Krieges zwischen dem 15. August 1984 und dem 15.
August 1999 sind nur schwer zu schätzen und die Angaben zutiefst
widersprüchlich. Schätzungen auf kurdischer Seite gehen für diesen Zeitraum von
35000 bis 45000 Menschenleben aus, davon zwei Drittel Guerillakämpfer und
Zivilisten. (…) Die Zahl der zerstörten oder entvölkerten Dörfer, Weiler und
Siedlungen liegt je nach Zählweise zwischen 3400 und 6000. (…)
Beginn einer Odyssee
Das
vorläufige Ende des Krieges wurde nicht durch einen militärischen, sondern
einen politischen Sieg des türkischen Staates erreicht: der Gefangennahme
Abdullah Öcalans.3 Dieses Drama ist in die kurdische Geschichte als
»internationales Komplott« eingegangen, und der 15. Februar als Tag von Öcalans
Verschleppung wird seitdem von PKK-Anhängern als nationaler Trauertag
alljährlich mit Kundgebungen begangen. Am Weltfriedenstag, dem 1. September
1998, hatte die PKK ihren dritten einseitigen Waffenstillstand erklärt. In
dieser Zeit schoß sich die türkische Propaganda
erneut auf Syrien als Unterstützer der PKK ein. Entsprechende Aussagen des
ehemals als rechte Hand Öcalans geltenden, 1998 zur KDP4 übergelaufenen und von
dieser an den türkischen Geheimdienst ausgelieferten PKK-Kommandanten S¸emdin Sakik wurden weithin
verbreitet. Ultimativ drohte Staatspräsident Süleyman Demirel bei der Eröffnung
des türkischen Parlaments am 1. November mit einem Einmarsch in das
Nachbarland, wenn Syrien weiterhin dem PKK-Führer Asyl gewähre.5 An der
syrischen Grenze fuhren Zehntausende türkische Soldaten mit Panzern auf, um
dieser Drohung Nachdruck zu verleihen. Während sich Ankara dabei von Israel,
mit dem seit 1996 eine enge Militärpartnerschaft bestand, unterstützt wußte, ließen die arabischen Staaten, der Iran, Rußland und Griechenland Syrien gegenüber den
Einmarschdrohungen alleinstehen. Im Auftrag der USA, deren Kriegsschiffe im
Mittelmeer die Drohkulisse gegen Syrien verstärkten, fungierte der ägyptische
Präsident Hosni Mubarak als Vermittler und überbrachte Damaskus die türkischen
Forderungen. Daß Mubarak sich persönlich
einschaltete, signalisierte dem syrischen Präsidenten Hafez
Al-Assad den Ernst der Lage. Die syrische Führung konnte diesem Druck nicht
standhalten und erklärte Öcalan, er müsse das Land verlassen, sonst gäbe es
Krieg. Am 9. Oktober 1998 verließ Öcalan Syrien nach 19jährigem Aufenthalt mit
einem Flugzeug. Wenige Tage später unterzeichneten Ankara und Damaskus das
Adana-Abkommen, in dem sich Syrien verpflichtete, auf seinem Boden keine
PKK-Aktivitäten mehr zu dulden.
Verfolgt von internationalen Geheimdiensten – allen voran dem israelischen Mossad, der dem türkischen Nachrichtendienst MIT die Spur
vorgab – begann Öcalans 130tägige Odyssee über einen »Planeten ohne Visum«.
Manche nationalistische Kritiker werfen Öcalan Feigheit vor, weil er in dieser
Situation nicht zur Guerilla in die Berge ging. Doch Öcalan rechtfertigte sich
später, daß dies ein Zeichen für eine Verschärfung
des bereits in einer Sackgasse angelangten Befreiungskrieges gewesen wäre. Statt dessen setzte er darauf, die kurdische Frage durch
seine Anwesenheit in Europa auf die internationale Agenda zu setzen und für
eine politische Lösung zu werben.
Nationalistische Hetzkampagne
Auf Einladung
des Vorsitzenden der ultranationalistischen russischen Liberaldemokraten
Wladimir Schirinowski landete Öcalan zuerst in Moskau, wo er einen Asylantrag
stellte. Zwar stimmte die Duma mit nur einer Enthaltung für die Asylgewährung,
doch Ministerpräsident Jewgeni Primakow und Staatspräsident Boris Jelzin
forderten aufgrund internationalen Drucks die Ausweisung Öcalans. Vermittelt
durch Abgeordnete der italienischen Kommunisten flog Öcalan am 12. November
1998 nach Italien, wo er aufgrund eines in Deutschland bestehenden
internationalen Haftbefehls am Flughafen verhaftet wurde. Schon vor seiner
Einreise hatte Öcalan sich gegenüber den italienischen Abgeordneten bereit
erklärt, notfalls nach Deutschland ins Gefängnis zu gehen. Während Öcalan auch
in Italien einen Asylantrag stellte, begann in der Türkei eine nationalistische
Hetzkampagne mit der Verbrennung italienischer Fahnen und Produkte. Die
türkische Regierung beschloß einen Wirtschaftsboykott
gegen Italien, entsprechende Verträge mußten
gekündigt werden. Büros der legalen kurdischen HADEP-Partei wurden vom
nationalistischen Mob in Brand gesetzt, und die Polizei verhaftete Hunderte
HADEP-Unterstützer.6 Mehrere HADEP-Anhänger wurden öffentlich gelyncht.
Die Verschleppung
Eine
Auslieferung Öcalans an die Türkei lehnte die von den Linksdemokraten geführte
italienische Regierung unter Massimo D’Alema ab. Vergeblich suchte D’Alema ein
anderes europäisches Land zur Aufnahme Öcalans zu bewegen. Aus Angst vor
Unruhen der millionenstarken kurdisch- und türkischstämmigen Migration in
Deutschland erklärte der deutsche Kanzler Gerhard Schröder (SPD), die
Bundesrepublik wolle Öcalan trotz eines seit 1990 offenen Haftbefehls wegen
eines angeblich von ihm angeordneten Mordes an einem PKK-Dissidenten nicht
haben.
Im Januar 1999 verkündete Öcalan eine äußerst weitgehende Friedensinitiative,
die durch europäischen Druck auf die Türkei umgesetzt werden sollte. Im
Gegenzug zu Friedensmaßnahmen des türkischen Staates und einer Amnestie würde
der bewaffnete Kampf dauerhaft eingestellt und die PKK sich auf eine
Legalisierung innerhalb des politischen Systems der Türkei vorbereiten. Als
Grundlage einer friedlichen Lösung könne das Konzept einer »demokratischen
Republik«, in der den Kurden das Recht auf volle Meinungsfreiheit garantiert
sei, akzeptiert werden. Die PKK werde nun ihre Politik unter der Parole »für
gesellschaftlichen Frieden, Amnestie und Brüderlichkeit« betreiben. Die
Umsetzung eines solchen Friedensprozesses solle von der UNO, der EU und der
OSZE überwacht werden. Doch die europäischen Institutionen schwiegen zu Öcalans
Initiative, so wie sie zuvor zu den Massakern der türkischen Armee geschwiegen
hatten. Am 16. Januar 1999 verließ Öcalan Italien. Er blieb mehrere Tage in Rußland und Tadschikistan. Am 30. Januar landete er nach
einer von der griechischen Regierung nicht genehmigten Zwischenlandung in
Griechenland in Belarus. Doch Premierminister Primakow erwirkte den Beschluß, daß kein Staat der GUS
Öcalan aufnehmen dürfe. Erneut flog Öcalan nach Griechenland, wo er vom
Geheimdienst in Empfang genommen und auf die Insel Korfu gebracht wurde. Hier
übernahm der US-Geheimdienst CIA die weitere Regie. Der US-Botschafter in
Athen, Nicholas Burns, schlug dem griechischen Außenminister Theodoros Pangalos
vor, Öcalan nach Kenia zu bringen, denn dort hatte die CIA einen großen
Stützpunkt errichtet und kontrollierte auch die Polizei. Am 2. Februar landete
das Flugzeug mit Öcalan auf dem Flughafen von Nairobi, und er wurde in die
griechische Botschaft gebracht. Nun bot die CIA dem türkischen Geheimdienst
eine gemeinsame Operation an, die von einem Kommando des MIT durchgeführt
werden sollte. Die Entscheidung begann am Morgen des 15. Februar. Das
siebenköpfige MIT-Team war mit einem Falcon-Flugzeug auf dem Flughafen in
Nairobi gelandet. Unterdessen besuchte der kenianische Geheimdienst die
Botschaft und drohte mit Gewalt, falls Öcalan nicht freiwillig mitkomme. Der
griechische Botschafter behauptete, die Niederlande seien nun doch bereit,
Öcalan aufzunehmen. Öcalan willigte ein und ließ sich im Jeep zum Flughafen
fahren. Dabei wurde er von seinen Begleitern getrennt. Im Flugzeug begrüßten
ihn die MIT-Agenten mit den berühmten Worten »Willkommen in der Heimat«.
Bereits am folgenden Tag wurde der prominente Gefangene auf die Gefängnisinsel Imrali im Marmarameer gebracht.
»Es waren USA und NATO …«
Die
praktische Operation war von der CIA und dem türkischen Geheimdienst MIT
durchgeführt worden. Der israelische Mossad, der
Öcalan während seiner Odyssee ständig verfolgt hatte und sich kurz vor der
Verschleppung mit dem MIT in Ankara traf, dementierte dagegen in einer
ungewöhnlichen Erklärung jede Verwicklung in das Öcalan-Kidnapping.
Zuvor waren bei Protesten vor der israelischen Botschaft in Berlin am 17.
Februar vier unbewaffnete kurdische Demonstranten vom Wachpersonal erschossen
worden. »Es waren die USA und die NATO, die mich hierher gebracht haben«,
benannte Öcalan später die Hauptverantwortlichen für sein Kidnapping.
Die europäischen Staaten und Rußland, die sich von
Washington unter Druck setzen ließen, hatten Öcalan durch ihre Weigerung, Asyl
zu gewähren förmlich ausgeliefert. Sie trifft damit ebenfalls die volle
Verantwortung für das Schicksal Öcalans und die bis heute ungelöste kurdische
Frage. »Doch Öcalan wurde letztendlich ein Opfer seiner selbst«, meint die
US-amerikanische PKK-Expertin Aliza Marcus. »Die
gleiche einseitige Fokussierung und der absolute Glaube in ihn selbst, der es
Öcalan ermöglichte, die PKK in eine mächtige Volksbewegung zu verwandeln, trug
auch dazu bei, ihn selbst zu zerstören. Er war nicht in der Lage zu erkennen, daß er nicht allmächtig war, nicht immer richtig lag und daß ihn am Ende nicht jeder so sah, wie er sich selber sah.
Dies ließ Öcalan einen fatalen Fehler begehen. Er floh aus Italien. Zu diesem
Zeitpunkt hätte es allerdings keine andere Möglichkeit mehr gegeben, als
abzuwarten.«7
Unter großer medialer Aufmerksamkeit und aufgeheizt durch lautstarke
Demonstrationen von Angehörigen gefallener Soldaten fand vom 31. Mai bis zum
29. Juni 1999 der von der PKK als »Prozeß des
Jahrhunderts« bezeichnete Hochverratsprozeß gegen
Abdullah Öcalan auf der Insel Imrali statt. In seiner
Verteidigungsrede entschuldigte sich Öcalan bei den Angehörigen der im Kampf
gegen die Guerilla gefallenen Soldaten. Gleichwohl
nannte er die Entstehung der PKK eine legitime Reaktion auf Unterdrückung und
Verleugnung der Kurden in der damaligen Periode. Mit ihrem Aufstand habe die
PKK die kurdische Frage erst auf die Tagesordnung gebracht. Öcalan erteilte
jeder militärischen Lösung der kurdischen Frage sowohl seitens des türkischen
Staates als auch durch die Guerilla eine Absage, denn
dies habe zur momentanen ausweglosen Situation geführt. Die Geschichte habe
gezeigt, daß die Forderung nach einem eigenen Staat
überholt sei und »Unabhängigkeit als auch die Freiheit sinnvollerweise in der
Einheit der Türkei als der fortschrittlichste und praktischste Weg zu
verwirklichen« seien. Öcalan ging noch weiter und erklärte: »Nicht nur für die
Kurden in der Türkei, sondern auch für alle Kurden im Nahen Osten und in der
Welt gilt, daß demokratische Errungenschaften am
ehesten im Rahmen der Republik der Türkei zu verwirklichen sind.« Öcalans Schlußplädoyer endete
mit den Worten: »Auch wenn ich nach Paragraph 125 des Strafgesetzbuches
verurteilt werde, betone ich meine Überzeugung, daß
ich in ethischer und politischer Hinsicht von der Geschichte freigesprochen
werde. Ich begrüße und halte es für eine ehrenhafte und tugendhafte Aufgabe,
mich für einen stolzen und gerechten Frieden in den Dienst der Demokratischen
Republik zu stellen.«8 Erwartungsgemäß endete der Prozeß am 29. Juni 1999 mit der Verkündung des Todesurteils
gegen Abdullah Öcalan wegen Hochverrats und Bildung einer terroristischen
Vereinigung.
EU kritisiert Prozeß
Das Urteil
wurde unter anderem auf Druck der EU nicht vollstreckt und 2002 mit einer im
Rahmen des EU-Beitrittsprozesses vollzogenen Gesetzesänderung zur Aufhebung der
Todesstrafe in Friedenszeiten in lebenslange Haft umgewandelt. Der Europäische
Gerichtshof für Menschenrechte hat in letzter Instanz am 12. Mai 2005 das
Verfahren gegen Öcalan wegen Verletzung seiner Verteidigungsrechte als unfair
bezeichnet und die Türkei zur Übernahme der Verteidigerkosten
verpflichtet. Die Anordnung einer Wiederaufnahme des innerstaatlichen
Strafverfahrens wurde dagegen abgelehnt. Der Gerichtshof entschied, daß die Feststellung einer Verletzung der Artikel 3, 5 und
6 der Europäischen Menschenrechtskonvention eine hinreichende gerechte
Entschädigung für sämtlichen erlittenen Schaden darstellt.
Zur künftigen Rolle Abdullah Öcalans erklärte die PKK auf ihrem 7. Parteikongreß im Februar 2000: »Unser Kongreß
betrachtet den Prozeß auf Imrali
gegen unseren Vorsitzenden, Abdullah Öcalan, als Ursache und Folge der
politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in Anatolien und Mesopotamien.
In dieser Hinsicht sind die Bedingungen unseres Vorsitzenden ein Ausdruck der
Bedingungen, unter denen auch das kurdische Volk leben muß.
Sein Lebensrecht ist auch das Lebensrecht des kurdischen Volkes, und seine
Freiheit ist auch die Freiheit des kurdischen Volkes. Auf dieser Grundlage
kämpft unser Vorsitzender trotz schwieriger Bedingungen für den Frieden. Das
Leben und die Freiheit Abdullah Öcalans sind die Voraussetzungen für die
Umsetzung und Verwirklichung des vorgelegten Friedensprojektes.« Aus dieser Perspektive wird die Zentralität Öcalans in
allen öffentlichen Aktivitäten der kurdischen Bewegung bis heute verständlich.
Auch die Vertreter des türkischen Staates wissen dies. Willkürakte gegenüber
dem politischen Gefangenen, wie verschärfter Arrest oder Demütigungen wie
Haareschneiden wider Willen, können einerseits so zur gezielten Provokation von
Teilen der kurdischen Bevölkerung genutzt werden. Andererseits besuchten immer
wieder hochrangige Vertreter von Militär und Geheimdienst den Gefangenen auf Imrali zum Meinungsaustausch.
Türkisches Guantánamo
Für zum Teil militante Proteste
unter Kurden in aller Welt sorgt seit langem der durch die Folgen der
Isolationshaft angeschlagene Gesundheitszustand Öcalans. Im März 2007
behaupteten Öcalans Rechtsanwälte, ihr Mandant werde systematisch vergiftet.
Laboruntersuchungen der Haarproben Öcalans zeigten eine Konzentration der
Elemente Strontium und Chrom, die deutlich über den Normalwerten liegt. Nachdem
Ende März 2007 eine unabhängige Ärztedelegation des Antifolterkomitees des
Europarates (CPT) Öcalans Gesundheitssituation untersucht hatte, gab das
Komitee am 6. März 2008 bekannt, daß keine Anzeichen
einer Vergiftung gefunden werden konnten. Das Antifolterkomitee forderte
allerdings ein Ende der Isolationshaft, die zur Verschlechterung von Öcalans
Geistes- und Gesundheitszustand geführt habe. Im November 2009 wurden
schließlich nach fast elfjähriger Isolationshaft Öcalans auf der von 1500
Soldaten und Zivilangestellten bewachten Insel fünf weitere zu lebenslänglicher
Haft verurteilte politische Gefangene nach Imrali
verlegt. »Sie verkaufen meine Verlegung hierher als eine positive Initiative,
aber die Realität sieht anders aus«, beklagt Öcalan gegenüber seinen Anwälten
Verschlechterungen seiner Haftsituation in einem Gefängnisneubau. »Der einzige
Zweck der Verlegung ist, den Druck der ausländischen Öffentlichkeit zu
reduzieren.« So sei seine Zelle mit sechs
Quadratmetern nur noch halb so groß wie zuvor. »Die Luft in der Zelle stellt
meine Atemwege vor große Probleme. Um atmen zu können, muß
ich mich ans Fenster lehnen, aber dort brennt die Sonne.«
Manche kurdische Kritiker sehen Öcalan weniger als Opfer denn als »Busenfreund
der Militärs«. Im Gegenzug für angeblich privilegierte Haftbedingungen agiere
die von Öcalan geführte PKK im Interesse der Generäle, so die Kritiker.
Tatsache ist, daß Öcalan in Haft nur über
eingeschränkte und gefilterte Informationen über die politische Lage verfügt.
Sicherlich wird von türkischer Seite versucht, Öcalan im Sinn der Militärs zu
beeinflussen und ihm falsche Versprechen zu machen. So besuchten auch
hochrangige Militärs, die nun im Verdacht stehen, Mitglieder der
nationalistischen Putschisten-Organisation Ergenekon
zu sein, Öcalan auf Imrali. Laut Öcalans Angaben
gegenüber seinen Anwälten bot ihm ein Major, der im Auftrag des damaligen
Ministerpräsidenten Bülent Ecevit zu sprechen vorgab, eine Lösung der
kurdischen Frage mit der PKK statt mit Barzani und
den USA an.9 Es wäre naiv zu glauben, daß Öcalan als
Gefangener, dessen Gespräche mit Anwälten und Verwandten strenger Überwachung
unterliegen, seine Meinung völlig frei und unzensiert äußern kann. Dies weiß
auch die PKK-Führung, die sich zwar an den strategischen und philosophischen
Konzepten Öcalans orientiert, taktische Entscheidungen aber weiterhin
selbständig faßt. Wenn Öcalan tatsächlich ein so
williges Werkzeug in den Händen seiner Gefängniswärter wäre, wie seine Kritiker
behaupten, dann ist unverständlich, warum er weiterhin Schikanen ausgesetzt ist
und oft wochenlang von der Außenwelt abgeschnitten wird. Immer wieder werden
die Besuche von Öcalans Anwälten und Verwandten auf der Gefängnisinsel von den
türkischen Behörden mit der Begründung verhindert, schlechtes Wetter oder ein
Motorschaden des Bootes ließen die Überfahrt nicht zu. Zum Teil wochen- oder sogar monatelang brach deshalb der Kontakt der
Anwälte zu ihrem Mandanten ab. Neben seinen in der Haft verfaßten
Büchern sind die jeweils in der kurdischen Presse veröffentlichten
Gesprächsprotokolle (görüs¸me notlar)
der Anwälte mit Öcalan der einzige Weg einer Kontaktaufnahme mit der Außenwelt.
Der türkische Staat sieht darin eine Steuerung der PKK aus dem Gefängnis heraus
und bestrafte Öcalan mehrfach mit verschärftem Arrest.
»Imrali ist jedoch nicht nur ein rechtsfreier Raum,
sondern gleichzeitig ein Synonym für den Umgang der Türkei mit der kurdischen
Frage oder mit anderen gesellschaftlichen Konflikten«, beklagt die nach Öcalans
Inhaftierung gebildete »Internationale Initiative Freiheit für Abdullah Öcalan
– Frieden in Kurdistan«. »Weiterhin gilt Ankaras staatliche Repression als
geeignetes Mittel, um oppositionellen Bewegungen Herr zu werden. Dies wird
durch die immer noch katastrophale Menschenrechtslage bestätigt. Mit dem EU-Beitrittsprozeß der Türkei ist jedoch die kurdische Frage
im gewissen Sinne zu einer europäischen Frage geworden. Das ›türkische
Guantánamo‹ wird so zu einem ›europäischen Guantánamo‹. Doch Europa schaut weg.«10
1 gemeint
ist der kurdische Nordirak
2 Selahattin Çelik: Den Berg Ararat versetzen,
Frankfurt/Main 2002, 217 f.; das ehemalige ZK-Mitglied Çelik
hatte sich 1999 von der PKK getrennt
3 Abdullah Öcalan (geb. 1949 in Urfa/Türkei), Vorsitzender der von ihm 1979
mitbegründeten Arbeiterpartei Kurdistans PKK
4 feudal strukturierte Demokratische Partei Kurdistans von Massoud Barsani im
Nordirak
5 seit 1979 lebte Öcalan in Damaskus, und die PKK unterhielt in der syrisch
kontrollierten libanesischen Bekaa-Ebene ihre
Parteischule
6 linksgerichtete »Partei der Demokratie des Volkes«, setzte sich für
politische Lösung der kurdischen Frage ein
7 Aliza Marcus: Blood and
Belief – The PKK and the Kurdish fight for
independence, New York 2009, S. 279
8 Abdullah Öcalan: Zur Lösung der kurdischen Frage – Visionen einer
demokratischen Republik (Verteidigungsschriften), Köln 2000
9 Der KDP-Vorsitzende Masud Barsani ist seit 2005 US-gestützter Präsident der
kurdischen Autonomieregion im Nordirak
10 International Initiative Briefings: Der »europäische« Gefangene Öcalan,
Februar 2006
Nikolaus Brauns/Brigitte Kiechle: PKK – Perspektiven
des kurdischen Freiheitskampfes. Zwischen Selbstbestimmung, EU und Islam,
Schmetterling Verlag, Stuttgart 2010, 510 S., kartoniert, 26,80 Euro; ISBN
978-3-89657-564-7, auch im jW-Shop erhältlich