Junge Welt 06.08.2011
/ Geschichte / Seite 15
Proviantkolonne
Vor 90 Jahren wurde in Berlin die Internationale
Arbeiterhilfe (IAH) gegründet
Von Nick
Brauns
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Im Sommer 1921 wurde Sowjetrußland von einer Hungersnot heimgesucht. In weiten
Gebieten an der Wolga bis hinunter auf die Krim und an das Schwarze Meer
verbrannte die Ernte durch eine ungeheure Dürre. 40 Millionen Menschen drohte
der Hungertod. Vom kapitalistischen Ausland war keine Hilfe zu erwarten,
vielmehr wurden in Paris und London Vorbereitungen getroffen, den drohenden
Zusammenbruch Rußlands zu einem erneuten
militärischen Vorgehen gegen die Revolution auszunutzen. In dieser Situation,
in der Arbeiterorganisationen in aller Welt bereits spontan begonnen hatten,
Hilfsgelder für Sowjetrußland zu sammeln, erließ
Lenin am 2. August 1921 einen Appell: »Hilfe tut not. Die Sowjetrepublik der
Arbeiter und Bauern erwartet diese Hilfe von den Werktätigen, von den
Industriearbeitern und kleinen Landwirten. Die Massen der einen wie der anderen
werden selbst vom Kapitalismus und Imperialismus überall unterdrückt, aber wir
sind überzeugt, daß sie trotz ihrer eigenen schweren
Lage, die sich aus der Arbeitslosigkeit und der wachsenden Teuerung ergibt,
unserem Appell Gehör schenken werden.«
Organisierte Solidarität
Mit der Koordination dieser internationalen Solidaritätskampagne beauftragte
Lenin seinen alten Kampfgefährten aus dem Schweizer Exil, Willi Münzenberg. Der
1889 in Erfurt geborene und über Arbeiterbildungsvereine zum Marxismus gelangte
Münzenberg hatte während des Ersten Weltkrieges die sozialistische
Jugend-Internationale in Bern geleitet und war so zum Kreis der revolutionären
Antikriegsopposition um Lenin gestoßen.
Nach der Einrichtung eines Büros am Wickingerufer in
Berlin-Moabit rief Münzenberg die schon aktiven Hilfskomitees sowie
Gewerkschaften, Arbeiterparteien, Intellektuelle und Künstler dazu auf, sich
einem »Auslandskomitee zur Organisierung der Arbeiterhilfe für die Hungernden
in Rußland« anzuschließen. Der 12. August 1921, an
dem sich dieses Komitee in Berlin provisorisch konstituierte, gilt als
Geburtsstunde der Internationalen Arbeiterhilfe (IAH). Sie wuchs bis Anfang der
30er Jahre zu einer weltweiten Massenorganisation mit 18 Millionen Einzel- und
Kollektivmitgliedern.
Den Gründungsaufruf unterzeichneten neben Kommunisten wie Clara Zetkin auch
humanistisch eingestellte Wissenschaftler, Künstler und Schriftsteller wie
Käthe Kollwitz, Albert Einstein, Maximilian Harden, Heinrich Vogeler, George
Grosz, Martin Andersen Nexö, Anatole France und Henri
Barbusse. »Der erste große Leitgedanke der Arbeit in der Internationalen
Arbeiterhilfe war und ist, die in früheren Jahrzehnten nur in der Spontaneität
der Massen aufflammende proletarische Solidarität zum ersten Mal in der
Geschichte der Arbeiterbewegung organisatorisch zu erfassen, organisatorisch zu
formen und bewußt organisatorisch zu erhalten und
einzusetzen«, erklärte Münzenberg.
Hilfstransporte für Rußland wurden von Skandinavien
bis Südafrika, von Argentinien bis zu den USA und Australien organisiert. Das
erste Schiff verließ am 21. August den Stockholmer Hafen in Richtung Petrograd. Die IAH sammelte 1921 und 1922 rund fünf
Millionen Dollar und brachte 40000 Tonnen Lebensmittel, Kleider, Maschinen und
Medikamente mit rund 100 Schiffstransporten nach Rußland.
1923 konnten sich die russischen Arbeiter und Bauern mit einer von der IAH
organisierten Getreidesammlung für diese Solidarität bei den deutschen
Arbeitern bedanken, die nun selber aufgrund der Inflation hungerten.
Ab 1924 wurden die Komitees der IAH zu einer zentralisierten
Mitgliederorganisation zusammengefaßt, die neben
Kommunisten auch Sozialdemokraten, bürgerliche Demokraten und insbesondere
Parteilose umfaßte. Mit 52 Prozent wies die
Arbeiterhilfe den höchsten Frauenanteil aller proletarischen Organisationen
auf. Die IAH, die als »Proviantkolonne des Proletariats« zunehmend Streikkämpfe
unterstützte, verstand sich als Ergänzung zu den »großen Säulen der
Arbeiterbewegung« Partei, Gewerkschaft und Genossenschaft. Mehrfach mußte Münzenberg innerhalb der KPD den Vorwurf
zurückweisen, die IAH sei eine rote Heilsarmee: »Sie will nicht Almosen geben,
sondern sie will durch das Proletariat für das Proletariat wirken.« So war die praktische Hilfe mit politischer Aufklärung
verbunden. Im deutschsprachigen Raum war hierfür das wichtigste Instrument die
Arbeiter-Illustrierte-Zeitung (AIZ), die Anfang der 30er Jahre eine Auflage von
bis zu einer halben Million erreichte. Die AIZ »unterscheidet sich von allen
anderen illustrierten Zeitungen grundsätzlich«, so Münzenberg. »Sie hat ihr
Gesicht ganz dem Leben und den Kämpfen der Arbeiter und aller werktätiger
Schichten zugewandt. Sie bringt Bilder aus den Betrieben, von Streiks, von den
Stempelstellen, von Demonstrationen, Versammlungen, Hungerkatastrophen (…)« Im
Unterschied zur direkten KPD-Parteipresse, die sich der unmittelbaren
politischen Sphäre widmete, klammerte die AIZ nichts aus, was im Leben der
Arbeiter eine Rolle spielte. Alle gesellschaftlichen Phänomene sollten vom
Klassenstandpunkt aus erklärt werden, um dem Leser Einsicht in die eigene
soziale Situation zu vermitteln und ihn zum Handeln aufzufordern. Zwar mußten AIZ-Leser auf Glamourgeschichten über
Fürstenhochzeiten verzichten, aber Unterhaltung kam keineswegs zu kurz. Mit
Bildmontagen erläuterte die AIZ komplizierte wirtschaftliche Zusammenhänge,
brachte aber auch Sportreportagen, Haushaltstips,
Erzählungen bekannter Schriftsteller wie Maxim Gorki und Kurt Tucholsky sowie
eine Rätsel- und Schachecke. Zum Markenzeichen des Blatts wurden die
Titelmontagen John Heartfields.
»Roter Hugenberg«
Im Rahmen der IAH schuf Münzenberg ein Medienimperium, das ihm in Anlehnung an
den deutschnationalen Pressezaren Alfred Hugenberg
den Spitznamen »Roter Hugenberg« einbrachte. Zum
»Münzenberg-Konzern« gehörten Tageszeitungen wie die Welt am Abend und
Illustrierte wie Der Eulenspiegel, die Vereinigung der Arbeiterphotographen,
der Neue Deutsche Verlag, der Buchklub »Universum
Bücherei für alle« und die »Prometheus Filmverleih- und Vertriebs-GmbH«, die
»Russenfilme« wie Sergeij Eisensteins »Panzerkreuzer Potemkin« in die deutschen
Kinos brachte.
Nach der Machtübertragung an die Faschisten 1933 in Deutschland wurde die IAH
verboten. Die vom ZK der KPdSU verfügte Auflösung der nun in Moskau
beheimateten IAH erfolgte ausgerechnet während des VII. Weltkongresses der
Kommunistischen Internationale 1935, auf dem die von Münzenberg vorweggenommene
Volksfrontorientierung beschlossen wurde. Angesichts von Kriegs- und
Spionagefurcht bildete die hauptsächlich mit Ausländern besetzte Moskauer
Vertretung der IAH in den Augen des sowjetischen Geheimdienstes eine
Gefahrenquelle.
Münzenberg, der sich in Paris um die Schaffung einer deutschen Volksfront
bemühte, geriet angesichts der Moskauer Prozesse gegen engste Vertraute Lenins
zunehmend in Widerspruch zur Parteilinie. 1938 wurde er aus dem Zentralkomitee
der KPD ausgeschlossen und gab angesichts des drohenden Parteiausschlusses im
folgenden Jahr freiwillig die Mitgliedschaft auf. Nach dem Einmarsch der
Wehrmacht in Frankreich versuchte der aus einem französischen
Internierungslager entkommene Münzenberg, nach Marseille zu fliehen. Am 17. Oktober
1940 wurde sein stark verwester Leichnam mit einem Strick um den Hals in einem
Waldstück nahe dem Dorf Montagne im Département Isère aufgefunden.
Während einige Zeitgenossen einen politischen Mord vermuteten, scheint nach
heutiger Quellenlage ein Selbstmord aus depressiver Ausweglosigkeit des von
seinen Genossen fallengelassenen und von den Hitlerfaschisten gejagten
Münzenberg die wahrscheinlichste Todesursache zu sein.
Quelle: Sie teilten ihr letztes Stück Brot
Gerade die Ärmsten der Armen, am
mächtigsten von der Not gepackt, eilten, um zu helfen. Es ist eine
erschütternde Tatsache, wenn wir feststellen, daß
damals Hunderttausende europäischer Arbeiter, in des Wortes wahrster Bedeutung,
ihr letztes Stückchen Brot mit den hungernden russischen Arbeitern teilten. (…)
In Italien, in Deutschland und anderen Ländern kamen ärmlich gekleidete
proletarische Kinder in die Büros der Internationalen Arbeiterhilfe, um ihre
gesparten wenigen Groschen aus der Sparbüchse für die russischen Kinder zu
opfern. In vielen Festungen – u.a. in der bayerischen Festung Niederschönenfeld – haben gefangene Arbeiter ihren kargen
Zuchthaussold für die vom Hungertod bedrohten Arbeiter und Bauern geopfert. In
England, in Holland, in Bulgarien ist es oft vorgekommen, daß
Arbeiterfrauen ihren geringen Schmuck und die Trauringe bei den Sammelstellen
ablieferten. (…) Die glühende Liebe zu Sowjetrußland,
die heilige internationale Solidarität, das waren die Zauberkräfte, die der
russischen Hilfsaktion einen so mächtigen, überwältigenden Impuls gaben.«
Aus: Willi Münzenberg, Fünf Jahre Internationale
Arbeiterhilfe, Berlin 1926, S. 39f.