Junge Welt 29.05.2010
/ Geschichte / Seite 15
Vereint ohne Einigung
Vor 135 Jahren vereinigten sich in Gotha Lassalleaner und Eisenacher zur Sozialistischen
Arbeiterpartei Deutschlands
Von Nick
Brauns
Nach jahrelangen gegenseitigen
erbitterten Kämpfen standen sich jetzt die bisher feindlichen Brüder zu
gemeinsamem Werke Auge in Auge gegenüber«, erinnert sich der sozialistische
Reichstagsabgeordnete und spätere Parteivorsitzende August Bebel, wie 1875 im
thüringischen Gotha durch die Vereinigung der beiden Arbeiterparteien die
Weichen für den Aufstieg der Sozialdemokratie zur Massenbewegung gestellt
wurden.
Der 1863 von Ferdinand Lassalle gegründete Allgemeine Deutsche Arbeiterverein
(ADAV) konnte für sich beanspruchen, die erste Arbeiterpartei in Deutschland zu
sein. Zur Umsetzung seiner Hauptforderungen – allgemeines, gleiches und
direktes Wahlrecht sowie die Gründung von Produktivgenossenschaften mit
Staatskrediten – versuchte Lassalle, mit dem junkerlich-preußischen Staat unter
Bismarck zu kooperieren. Zudem trat Lassalle für eine Reichseinigung des noch
in Kleinstaaten zersplitterten Deutschland unter preußischer Vorherrschaft ein.
Demgegenüber wandte sich die 1869 in Eisenach unter dem Vorsitz von August
Bebel und Wilhelm Liebknecht gebildete Sozialdemokratische Arbeiterpartei
Deutschlands (SDAP) gegen den preußischen Führungsanspruch und befürwortete
gewerkschaftliche Kämpfe zur Durchsetzung politischer Ziele. Die SDAP bekannte
sich zur von Karl Marx und Friedrich Engels aus London geleiteten
Internationalen Arbeiterassoziation.
Eisenacher knicken ein
Durch die Reichseinigung 1870/71 war ein wesentlicher Streitpunkt weggefallen,
und an der Basis der beiden Parteien kam es öfter zu gemeinsamen Aktivitäten.
So hatten sich 1874 die SDAP-Reichstagsabgeordneten gegen eine neue
Militärvorlage zur Ausbreitung des preußischen Militärsystems auf das ganze
Reich mit der Losung gewandt: »Diesem System keinen Mann und keinen Groschen«.
Auch die Führung des ADAV mußte sich unter dem Druck
ihrer Basis einer landesweiten Kampagne gegen den Militarismus anschließen, die
unter den Anhängern der beiden Arbeiterparteien wesentlich zur Festigung des
gegenseitigen Vertrauens beitrug. Die Notwendigkeit zur Bildung einer
gemeinsamen starken Partei ergab sich auch durch die brutale Verfolgung und
Inhaftierung von Lassalleanern und Eisenachern
gleichermaßen durch den Berliner Staatsanwalt Hermann Tessendorff.
Dem entgegen stand das sture Festhalten der Lassalleaner
an in der Praxis längst widerlegten Glaubenssätzen. »Zunächst ist aber die
Losung: Einigung, nicht Vereinigung«, forderte daher Wilhelm Liebknecht auf
einem Parteitag der SDAP im Juli 1874 in Coburg zuerst die programmatische
Debatte. Eine Konferenz von jeweils neun Vertretern beider Parteien einigte
sich Mitte Februar 1875 auf Vorlagen über das Programm und die Organisation.
Organisatorisch folgte die Konferenz den Eisenachern und sprach sich für die
demokratische Wahl aller Parteibehörden aus. Im Aktionsteil des Programms
konnten die Eisenacher Forderungen einbringen, die neben dem allgemeinen Wahl-
und Stimmrecht unter anderem Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit,
kostenlose Bildung, Volkswehr anstelle des stehenden Heeres, direkte
Gesetzgebung durch das Volk, die Einführung einer einzigen progressiven
Einkommenssteuer statt indirekter Steuern, Arbeitszeitverkürzungen und das
Verbot von Kinderarbeit beinhaltete. Dagegen war es im einleitenden
prinzipiellen Teil des Programmentwurfs den Lassalleanern
gelungen, alle ihre »Sturmworte« durchzusetzen. Der erst kurz vor dem Vereinigungskongreß aus der Haft entlassene und daher an
den Beratungen nicht beteiligte August Bebel zeigte sich wie aus allen Wolken
gefallen über das Einknicken seiner Genossen. »Im allgemeinen
kommt es weniger auf das offizielle Programm einer Partei an, als auf das, was
sie tut. Aber ein neues Programm ist doch immer eine öffentlich aufgepflanzte
Fahne, und die Außenwelt beurteilt danach die Partei«, schrieb Friedrich Engels
an Bebel. Das Programm »ist derart, daß (…) Marx und
ich uns nie zu der auf dieser Grundlage errichteten neuen Partei bekennen
können.«
Eine scharfe Kritik in Form der »Randglossen zum Programm der deutschen
Arbeiterpartei« kam von Karl Marx. Marx wandte sich gegen die in ihrer
Konsequenz zur Anbiederung an den preußisch-deutschen Staat führende
reformistische Losung von Produktivgenossenschaften mit Staatskrediten als
Übergangsmittel zur sozialistischen Gesellschaft. Er trat gegen die jedes
Bündnis ausschließende Formulierung von der »einen reaktionären Masse« auf, die
dem Proletariat gegenüberstände. Er protestierte gegen das
Lassallesche »eherne Lohngesetz«, wonach Arbeiter
aufgrund der Bevölkerungsentwicklung im Durchschnitt nur das Minimum des
Arbeitslohns erhalten würden, als Grundlage der Gewerkschaftsfeindlichkeit des
ADAV. Ausgehend von den Erfahrungen der Pariser Kommune widerlegte Marx die den
Klassencharakter jedes Staates verwischende Formulierung des geforderten
»freien Volksstaates«. »Zwischen der kapitalistischen und der kommunistischen
Gesellschaft liegt die Periode der revolutionären Umwandlung der einen in die
andre«, schrieb Marx. »Der entspricht auch eine politische Übergangsperiode,
deren Staat nichts andres sein kann als die revolutionäre Diktatur des
Proletariats.« Schließlich betonte Marx den
proletarischen Internationalismus als Grundprinzip einer revolutionären
Arbeiterpartei im Gegensatz zur nationalbornierten Haltung der Lassalleaner.
Von Gotha nach Erfurt
Die thüringische Stadt Gotha war als Tagungsort des Vereinigungskongresses vom
22. bis 27.Mai ausgewählt worden, weil repressive Vereinsgesetze das
Zusammentreffen von Sozialdemokraten in den industriellen Zentren und der
Hauptstadt Berlin verhinderten. 71 Delegierte vertraten 16538 ADAV-Mitglieder
und 56 Delegierte 9121 SDAP-Mitglieder. »Es bedurfte noch großer gegenseitiger
Rücksichtnahme und gegenseitig einer Behandlung, als habe man es mit rohen
Eiern zu tun, sollte es nicht zum Aufeinanderplatzen der noch vorhandenen
persönlichen und sachlichen Gegensätze kommen«, erinnerte sich Bebel.
Liebknecht bemühte sich in seinem Referat zum Programm um Korrekturen, doch der
Grundgehalt des Kompromißprogramms ließ sich nicht
mehr verbessern. Lediglich in einem wichtigen Ergänzungspunkt zur
internationalen Stellung der neuen Partei erhielt Liebknecht die Zustimmung:
»Die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands, obgleich zunächst im
nationalen Rahmen wirkend, ist sich des internationalen Charakters der
Arbeiterbewegung bewußt und entschlossen, alle
Pflichten, welcher derselbe den Arbeitern auferlegt, zu erfüllen.« Der ehemalige ADAV-Vorsitzende Wilhelm Hasenclever und
Georg Wilhelm Hartmann von der SDAP wurden zur Doppelspitze der neuen Partei
gewählt.
Während Bebel »die Tatsache der Einigung die Hauptsache« nannte und auf
geduldige Erziehung der ehemalige Lassalleaner
setzte, sahen Marx und Engels ihre schlimmsten Befürchtungen bewahrheitet, »daß die Einigung unsererseits überstürzt ist und den Keim
künftigen Zwiespalts in sich trägt«. Doch tatsächlich gelang es ihren
Anhängern, das Lassalleanische Gedankengut
zurückzudrängen, bis die zur Massenpartei angewachsene SAPD sich 1891 mit dem
Erfurter Programm ein auf dem Marxismus fußendes Programm geben konnte.
Aus einem Brief von Friedrich Engels an August Bebel
vom 12.Oktober 1875
Das Ganze
ist im höchsten Grad unordentlich, konfus, unzusammenhängend, unlogisch und
blamabel. Wenn unter der Bourgeoispresse ein einziger
kritischer Kopf wäre, er hätte dies Programm Satz für Satz durchgenommen, jeden
Satz auf seinen wirklichen Inhalt hin untersucht, den Unsinn recht
handgreiflich auseinandergelegt, die Widersprüche und ökonomischen Schnitzer
(zum Beispiel: daß die Arbeitsmittel heute »Monopol
der Kapitalistenklasse« sind, als ob es keine
Grundbesitzer gäbe, das Gerede von »Befreiung der Arbeit« statt der
Arbeiterklasse, die Arbeit selbst ist heutzutage ja gerade viel zu frei!)
entwickelt und unsere ganze Partei greulich
lächerlich gemacht. Stattdessen haben die Esel von Bourgeoisblättern
dies Programm ganz ernsthaft genommen, hineingelesen, was nicht darin steht und
es kommunistisch gedeutet. Die Arbeiter scheinen dasselbe zu tun. Es ist dieser
Umstand allein, der es Marx und mir möglich gemacht hat, uns nicht öffentlich
von einem solchen Programm loszusagen. Solange unsere Gegner und ebenso die
Arbeiter diesem Programm unsere Ansichten unterschieben, ist es uns erlaubt,
darüber zu schweigen.
(MEW 34, 159)