Zurück zu Lenin?
Eine internationale
Konferenz in Essen beschäftigte sich mit Lenins Erbe
"Gibt es eine Politik der Wahrheit - nach
Lenin?" - unter diesem ebenso rätselhaften, wie vielversprechenden Titel
fand vom 2. bis 4. Februar 2001 am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen eine
internationale Konferenz statt.
Eine Auflösung des Titel gab der wissenschaftliche
Leiter der Konferenz, der slowenische Philosoph und Psychoanalytiker Slavoj
Zizek in seiner Eröffnungsrede. Gegen den postmodernen Diskurs mit seiner
gewollten Vielfalt von Standpunkten, Lebensentwürfen und Perspektiven setzte er
Lenins Ausspruch: "Der Marxismus ist richtig, weil er wahr ist." Die
postmoderne Beliebigkeit habe es ermöglicht, dass Marx als Prophet der
Globalisierung sogar an der Wall Street Anerkennung gefunden hat. Lenins Name
diene dagegen immer noch als Provokation gegen den antitotalitären Konsens.
Ziel der Konferenz sei "die Wiederbelebung von Lenins Erbe gegen seine
liberalen Verleumder" und "die Suche nach Möglichkeiten, wie Lenins
Geste unter den Bedingungen des globalen Kapitalismus zu wiederholen
wäre".
Diese Geste, da waren sich die meisten Referenten
einig, war Lenins Bruch mit dem durch Karl Kautskys Marxismusinterpretation
verkörperten Fatalismus in der II.Internationale. Im Willen Lenins, sich nicht
mit opportunistischen Kompromissen an das System anzupassen, sondern mit aller
Radikalität die Koordinaten der Situation selber zu verändern, sieht Zizek den
deutlichsten Kontrast leninistischer Politik gegenüber der heutigen
"Postpolitik des Dritten Weges".
Lenins in seinen "Aprilthesen"
verkörperter Bruch mit dem starren Marxismus Kautskys und Pleachnows, so Kevin
Anderson (Chicago) von der marxistisch-humanistischen "News and
Letters" Gruppe wurde erst durch eine Rückkehr zur Hegelschen Dialektik
möglich.
Eustache Kouvelakis (Wolverhampton) rief das Bild
des einsamen Lenin in der Züricher Stadtbibliothek in Erinnerung, der auf die
Doppelkatastrophe des Weltkrieges und des Zusammenbruchs der Internationale
1914/1915 mit einer intensiven Hegellektüre reagiert hatte.
Marx habe die Frage offen gelassen, wie die
Arbeiterklasse die Macht ergreifen könne, erklärte Daniel Bensaid (Paris),
Mitglied des Vereinigten Sekretariats der trotzkistischen IV.Internationale. So
sei der Leninismus als Theorie der Machtergreifung ein Machiavellismus der
Moderne. Bensaid führt aus, wie die Leninsche Parteikonzeption von der
Erkenntnis ausgeht, dass eine revolutionäre Krise sich nicht als Krise zwischen
Kapital und Arbeit äußert, sondern als gesamtgesellschaftliche politische
Krise. Nur in diesem Zusammenhang sei die ursprünglich von Kautsky entwickelte
Theorie zu verstehen, dass die Arbeiterpartei von außen revolutionäres
Bewusstsein die Arbeiterklasse zu tragen habe.
Auf die Eingangs gestellte Frage, was heute gegen
das "Global Empire" zu tun sei, verweist Alex Callinicos (London),
Vordenker der Socialist Workers Party, auf die Antiglobalisierungsbewegung von
Seattle bis Nizza und Davos als wichtigsten Ansatzpunkt antikapitalistischen
Engagements. Dieser Bewegung ermangele es gerade an Leninismus, also an dem
Willen, die Machtfrage zu stellen, warnt dagegen Zizek und sieht die Gefahr
eines Abgleitens in den Nationalismus.
Mit Lenin als Kritiker der kolonialen Tradition
befasst sich Domenico Losurdo (Urbino/Italien). So waren gerade die
"demokratischen" Revisionisten in der Sozialdemokratie wie Eduard
Bernstein Verfechter des Kolonialismus im Namen der Zivilisation und Rasse.
Heute würden unbotmäßige Völker nicht mehr interniert, sondern von der
internationalen Gemeinschaft ausgeschlossen. "Die heutigen KZs heißen
Embargo", betont Losurdo die Aktualität von Lenins Kritik der
"Herrenvolkdemokratie".
Zu einem Höhepunkt der Konferenz wurde eine
Diskussion mit dem italienischen Soziologen Toni Negri (Rom). Diese Diskussion
musste telephonisch geführt werden, weil Negri sich immer noch als angeblicher
geistiger Kopf der Roten Brigaden in Italien in Haft befindet. Negri geht von
einem Ultraimperialismus, dem "Empire" aus. Da darin eine Vielfalt
von Mächten sich ergänzten, sei auch die Machtfrage der Revolutionäre nicht
mehr in der althergebrachten Weise zu stellen. Negri setzte dem
"Empire" sein auf Spinoza aufbauendes Konzept der "absoluten
Demokratie" entgegen. Callinicos verwies dagegen auf die Notwendigkeit,
weiterhin "schwächste Kettenglieder" im imperialistischen System
auszumachen und betonte: "Ein Leninismus ohne Partei oder Organisation ist
inhaltsleer."
Die Betonung der Eigentumsfrage sei nach wie vor das
entscheidende Element um heute noch Marxist und Leninist zu sein, erklärte Alan
Schandro (Ramsey).
Weitere
Beiträge kamen von Sebastian Budgen (London), Doug Henwood (New York), Fredric
Jameson (Durham, N.C.), Sylvain Lazarus (Paris), Jean-Jacques Leclercle
(Paris), Lars T. Lih (Montreal), Robert Pfaller (Linz) und Charity Scribner
(Essen).
Wer von den etwa 150 Konferenzteilnehmern, die unter
anderem aus Deutschland, England, Frankreich, Kanada und Südkorea kamen, eine
konkrete Antwort auf die alte Frage "Was tun?" erwartete, wurde enttäuscht.
Wie von vielen betont, liegt die Bedeutung der Konferenz darin, dass an einer
akademischen Institution in Deutschland begonnen wurde, wieder über
Alternativen zur liberaldemokratisch-kapitalistischen Ordnung als äußersten
Horizont soziopolitischer Vorstellungskraft zu diskutieren.
Nikolaus Brauns