Europäischer Blick
Der Begriff »arabischer Frühling« ist
eine westliche Schöpfung. In der betroffenen Region stößt er auf Ablehnung
Von Nick Brauns
In westlichen Medien hat sich die
Bezeichnung »arabischer Frühlings« für die Protest- und Aufstandsbewegung
in einer Reihe von Ländern Westasiens und Nordafrikas zwischen 2011 und 2013
eingebürgert. Dabei handelt es sich um einen Propagandabegriff, der die
Ereignisse und ihre Protagonisten einer westlichen Deutungshoheit zu
unterwerfen sucht. Es waren westliche Medien und Politiker, die den Begriff
popularisierten, während dieser in der arabischsprachigen
Welt bis heute unüblich ist. So verwendete in Deutschland erstmals das Handelsblatt am
28. Januar 2011 diesen Ausdruck, den sich in den folgenden Wochen alle großen
Zeitungen und Sender zu eigen machten. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung prägte
zusätzlich das Kunstwort »Arabellion«.
Die Frühlingsmetapher ist dabei eine
gewollte Analogie zum sogenannten Völkerfrühling – dem Streben nach
demokratischen Freiheiten und nationaler Einheit in Europa in der ersten Hälfte
des 19. Jahrhunderts. Assoziationen mit dem »Prager Frühling« sind ebenfalls
beabsichtigt. Auch diese Bezeichnung für das politische Geschehen in der
tschechoslowakischen Hauptstadt im Jahr 1968 wurde von westlichen Medien
geprägt.
Subtiler
Orientalismus
Bei vielen Kommentatoren aus dem arabischsprachigen Raum stößt die Bezeichnung »arabischer
Frühling« auf Ablehnung, weil damit eine Rückständigkeit der Nah- und
Mittelostregion hinter einer als Modell verstandenen europäischen Entwicklung
suggeriert wird. »Mit der Bezeichnung arabischer Frühling
geht daher eine Assoziation der Ereignisse in der europäischen Geschichte
einher. Damit werden die Revolutionen in der arabischen Welt mit einem
europäischen Deutungsmuster kodiert«, kritisierte der Linguist Mohammed Saif 2016 im Sprachreport des Leibniz-Instituts für
Deutsche Sprache in Mannheim. Saif verweist dabei
darauf, dass der im europäisch-politisch-literarischen Diskurs anzutreffende methaphorische Gehalt des Begriffs Frühling als positives
Konzept – das die Hoffnung auf Verbesserung eines als Missstand wahrgenommenen
Zustands und den Beginn von Veränderung bezeichnet – im politischen Kontext im
Arabischen so gut wie unbekannt sei.
Tatsächlich zeigt sich in der in
Bezeichnung »arabischer Frühling« ein subtiler Orientalismus, wie er in vielen
Redaktionsstuben in Berlin, Paris, Rom und Brüssel bis heute anzutreffen ist.
Als Orientalismus bezeichnete der palästinensisch-US-amerikanische
Literaturtheoretiker Edward Said in seinem gleichnamigen 1978 erschienenen Buch
einen eurozentrischen Blick auf die Gesellschaften des Nahen und Mittleren
Ostens. Die westliche Imagination vom Orient identifizierte Said dabei als eine
mit der Kolonialherrschaft verbundene Deutungshoheit über die unterworfenen
Gesellschaften, als einen »Stil der Herrschaft, Umstrukturierung und des
Autoritätsbesitzes über den Orient«.
Bevölkerungsmosaik
ignoriert
Der Begriff lässt so das Bild einer
gleichförmig denkenden und handelnden arabischen Gesellschaft von den Grenzen
der Türkei und des Iran über die Arabische Halbinsel bis zur Atlantikküste
Nordafrikas entstehen. Unterschlagen wird dabei die politische Diversität dieses Raumes – von Golfmonarchien bis zu
nationalistischen Regimen, die aus antikolonialen Befreiungskämpfen
hervorgegangenen sind. Die Betonung des Arabischen ignoriert zudem das
ethnisch-religiös-linguistische Bevölkerungsmosaik dieser aus der Erbmasse des
Osmanischen Reiches vor 100 Jahren entstandenen Gesellschaften, die keineswegs
nur aus Arabern bestehen, sondern etwa im Irak und Syrien kurdische,
turkmenische und christliche Minderheiten und in den Maghrebstaaten
die Amazigh (»Berber«) einschließen. Wer dies
unterschlägt, wird weder die Protestbewegungen von 2011 noch ihr Scheitern und
das Abgleiten in den Bürgerkrieg in einigen dieser Länder richtig analysieren
können.
Der renommierte palästinensische
Journalist Rami Khouri hatte bereits im August 2011
von Journalisten in aller Welt gefordert, auf die Verwendung der »völlig
unangemessenen« Bezeichnung »arabischer Frühling« zu verzichten.
Als Hauptgrund dafür gab Khouri an, dass »die
tapferen Männer und Frauen«, die auf den Straßen demonstrieren, diesen Begriff
selbst nicht benutzen würden. Anstelle des Frühlingsbegriffs, der ein passives
Phänomen ohne Zutun der Menschen bezeichne, würden die Teilnehmer der
Protestbewegung aktivistische Ausdrücke wie »Intifada« (Aufstand) und »Thawra« (Revolution) bevorzugen. Eineinhalb Jahrhunderte
lang seien die westlichen Mächte der Überzeugung gewesen, dass sie die
arabische Welt nach ihren imperialen ökonomischen und energiepolitischen
Interessen gestalten und kontrollieren können. Dafür hätten diese Mächte einschließlich
Russland die dortigen autoritären Regimes unterstützt, klagte Khouri. Nun herrsche in Teilen des Westens Furcht vor den
»revolutionären, selbstbestimmten und selbstbewussten Arabern«, die ihre
Duldsamkeit abgeschüttelt hätten und sich anschickten, die Kontrolle über ihre
eigenen Gesellschaften zu übernehmen.
Lange
Widerstandstradition
Die Einengung auf den »arabischen
Frühling« als einer Bewegung von letztlich jahreszeitlich begrenzter Dauer
unterschlägt schlussendlich die lange Widerstandstradition in der Region – von
den Kämpfen um nationale Unabhängigkeit bis zu den Klassenkämpfen der letzten
Jahrzehnte, ohne die die Ereignisse von 2011 nicht denkbar gewesen wären. Weder
der lange vor 2011 begonnene und heute fortgeführte antikoloniale Kampf der
Palästinenser noch derjenige in der Westsahara fallen unter den Begriff des
»arabischen Frühlings«. Und schließlich wird auch die Revolution
von Rojava nicht als ein Kind des »Frühlings«
begriffen. Dabei haben gerade in der multiethnischen Selbstverwaltungsregion in
Nordsyrien die ursprünglichen Ideale der Protestbewegung von 2011 von direkter
Demokratie, Gleichstellung der Geschlechter und Säkularismus dauerhafte Gestalt
angenommen.
1925 attackierte der türkische
kommunistische Dichter Nazim Hikmet die romantisierenden und exotisierenden Darstellungen der Region durch den bekannten
französischen Schriftsteller Pierre Loti. »Das ist der Orient, wie ihn der
französische Dichter sah! Das ist der Orient der Bücher, von denen pro Minute
eine Million gedruckt werden! Doch es gab weder gestern, noch gibt es heute so
einen Orient, und es wird ihn auch morgen nicht geben!«
Das sollten sich all diejenigen westlichen Liberalen hinter die Ohren
schreiben, die ihnen genehmen Protestbewegungen in Westasien und Nordafrika
zuerst euphorisch das vermeintliche Gütesiegel des »arabischen Frühling«
verliehen hatten, um sich dann angeekelt abzuwenden, als sie in ihrer
Revolutionsromantik durch die Realität enttäuscht wurden.
Dass bereits lange im Untergrund
organisierte reaktionär-religiöse Bewegungen wie die Muslimbrüder
schnell die Oberhand gegenüber säkularen liberalen und linken Kräften bekamen,
ist dabei nur eine Ursache des weitgehenden Scheiterns der Massenbewegungen von
2011. Wenn heute weite Teile der Region wie Syrien, Libyen oder der Jemen in
Trümmern liegen oder noch in Flammen stehen oder erneut von Militärregimen
beherrscht werden, ist dies nicht zuletzt die Folge direkter oder indirekter
militärischer Interventionen der Großmächte und ihrer regionalen Vasallen wie
Saudi-Arabien, Israel und der Türkei.
AUS: ARABISCHER
FRÜHLING, BEILAGE DER JW VOM 10.02.2021