junge Welt 12.05.2007 / Geschichte / Seite 15


Keine »Schmutzereien«

Vor 100 Jahren erschütterte die Eulenburg-Affäre das deutsche Kaiserreich

Von Nick Brauns

Schon bald nach dem Regierungsantritt von Kaiser Wilhelm II. im Jahr 1888 machte das Wort von der Hofkamarilla die Runde. Gemeint war eine Gruppe einflußreicher Männer, die als eine Art Nebenregierung an den Ministerien vorbei Einfluß auf den Herrscher ausübten.

Diese Männerrunde spann ihre Fäden auf Schloß Liebenberg in der Uckermark, der Heimat von Philipp Fürst zu Eulenburg. Der musisch veranlagte Diplomat war ein enger Freund des Kaisers seit dessen Kronprinzenzeit. »Bei Ihnen habe ich nicht lange gebraucht, um zu sehen, daß Sie ein sympathischer, warm fühlender Charakter sind, wie man deren wenig in der Welt trifft, und deren besonders die Fürsten so sehr bedürfen«, hatte der Kaiser 1886 an Eulenburg geschrieben. Wohl durch Eulenburg, der eng mit dem antisemitischen Rasseideologen Houston Stewart Chamberlain befreundet war, kam der schwärmerische Kaiser auch zu seinem völkisch-germanischen Weltbild.

Außenpolitisch suchte Eulenburg den Kaiser zu einer gemäßigteren, englandfreundlichen Politik zu bewegen. Als sich Wilhelm II. weigerte, das Marokko-Abenteuer 1905/06 bis zum Krieg auszureizen und statt dessen in eine Verhandlungslösung einwilligte, schrieben aggressive Kreise in Militär und Wirtschaft dies dem Liebenberger Freundeskreis zu. Schließlich hatte Wilhelm II. unter dem Einfluß seines Beraters Eulenburg Generalstabschef Alfred von Schlieffen und den Diplomaten Friedrich von Holstein entlassen, die offen auf einen Krieg gegen Frankreich hingearbeitet hatten.



Homophobe Hetze


Die beiden Hardliner rächten sich, indem sie dem Starjournalisten Maximilian Harden belastendes Material über Eulenburgs angebliche Homosexualität zuspielten. Harden, der Herausgeber der Wochenzeitschrift Die Zukunft und nach Meinung Kurt Tucholskys »einer der wenigen deutschen Journalisten, die eine Macht bedeuteten«, war ein glühender Verehrer des 1890 von Wilhelm II. gestürzten Reichskanzlers Otto von Bismarck. Er pflegte zudem gute Kontakte zu führenden Vertretern des deutschen Großkapitals wie Wal­ther Rathenau, dem Großreeder Albert Ballin und dem Bankier Max Warburg, die auf eine aggressive Kolonialpolitik des Reiches drängten.

Ende 1906 und Anfang 1907 veröffentlichte Harden drei Artikel, in denen er einen geheimen »Orden« anklagte, dessen Verbindungen vom Hof, der Armee und Marine bis zu den Landratsämtern und Polizeipräsidien reichten und der Postenschacher betriebe. »Die träumten nicht von Weltbränden; haben’s schon warm genug«, spielte Harden auf homoerotische Bindungen an und suggerierte so, das Reich werde von einem Klüngel verweichlichter schwuler Franzosenfreunde regiert. Am 27. April outete Harden eine zuvor veröffentlichte Karikatur eines Harfespielers und dessen »Schätzchen« als Eulenburg und dessen Intimus, den Berliner Stadtkommandanten Kuno von Moltke.

Eine Selbstanzeige Eulenburgs –immerhin Vater von acht Kindern –wegen angeblicher Verstöße gegen das Verbot homosexueller Handlungen nach Paragraph 175 wurde aus Mangel an Beweisen eingestellt.

Nachdem Harden ein Duell mit Moltke ausgeschlagen hatte, leitete dieser im Juni 1907 vor dem Moabiter Schöffengericht einen Verleumdungsprozeß ein. Harden wurde von seinem rhetorisch gewandten Münchner Anwalt Max Bernstein vertreten. Seine Kronzeugin war die geschiedene Ehefrau Moltkes, die mit Details aus dem Eheleben versuchte, ihren Exmann als pervers erscheinen zu lassen. Der als Gutachter geladene Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld unterstellte Moltke, gestützt auf diese Aussagen, eine »ihm selbst nicht bewußte homosexuelle Veranlagung«. Harden erläuterte, wie die Atmosphäre bei Hofe vom Liebenberger Kreis durch »Süßholzraspelei«, Spiritismus und eine »ungesunde, ihren Zwecken erspießliche Romatik« vergiftet werde und so »eine verhängnisvolle Täuschung über die Realitäten ermöglichte«.

Der Prozeß endete mit dem Freispruch Hardens. Moltke und Eulenburg fielen als angebliche Homosexuelle beim Kaiser in Ungnade. »Die Justizbehörde hat total versagt und die Krone schwer geschädigt«, vermerkte Wilhelm II. In der antisemitischen Presse wurde die jüdische Herkunft Hardens und seines Verteidigers explizit hervorgehoben.

Ein von Moltke angestrengtes, wegen »Gefährdung der Sittlichkeit« nichtöffentliches Berufungsverfahren führte zum Jahresende 1907 zum gegenteiligen Ergebnis. Nachdem die Belastungszeugin der Hysterie überführt wurde, zog Hirschfeld seine frühere Aussage zurück, und Eulenburg sagte unter Eid aus, niemals »Schmutze­reien« betrieben zu haben.

Der wegen Verleumdung zu vier Monaten Gefängnis verurteilte Harden griff nun zu einer Intrige. Er animierte eine Münchner Zeitung zu der Behauptung, er habe von Eulenburg Schweigegeld erhalten. Im anschließenden Verleumdungsprozeß fern des Einflusses der Kamarilla in München führte Harden die beiden bayerischen Fischer Georg Riedel und Jacob Ernst als Zeugen an, die angaben, vor vielen Jahren »Lumpereien« mit Eulenburg während dessen Aufenthalt am Starnberger See getrieben zu haben.

Harden gewann die Verleumdungsklage gegen die Münchner Zeitung und erstattete dem verurteilten Redakteur die Strafe. Ob Eulenburg tatsächlich homosexuell veranlagt war und welcher Art sein Verhältnis zu seinem Jugendfreund Moltke war, wurde nie wirklich geklärt. »Wir leben in einer Zeit, da Presse, Judentum, Geld die öffentliche Meinung beherrschen«, klagte der ruinierte Exgünstling des Kaisers. Ein gegen Eulenburg angestrengter Prozeß wegen Meineids konnte nie beendet werden, da er im Gerichtssaal den schwerkranken Mann mimte und diese Rolle bis zu seinem Tod 1921 zurückgezogen in seinem Schloß weiterspielte.

»Das ist Politik?«


Die Eulenburg-Affäre gilt heute als der größte Skandal im deutschen Kaiserreich. Der Einfluß der Hofkamarilla war gebrochen und die Monarchie angeschlagen »Dieser komplette Affentanz umeinander, gegeneinander, ohne einander – das soll Weltpolitik sein?«, staunte dagegen der Publizist Kurt Tucholsky. »Krisen... wenn Eulenburg von Kanzlerkrisen spricht, denkt man an Nervenkrisen einer Romanfrau aus dem Jahr 1900, mit zerknautschten Taschentüchern und unbeherrschtem Geweine ... Das ist Politik? Das ist ein frecher Mißbrauch von Staatsgeldern und Menschenkräften.«

Um seine politischen Ziele zu erreichen hatte Harden, der persönlich eine liberale Auffassung zur Frage der Homosexualität vertrat, nicht davor zurückgescheut, niedere Instinkte der Öffentlichkeit anzustacheln und so die Homophobie im kaiserlichen Deutschland weiter anzuheizen.

Harden, der unter dem Einfluß des Weltkrieges zum radikalen Pazifisten geworden war, nannte kurz vor seinem Tod im Jahr 1927 sein früheres Vorgehen einen schweren Fehler. Mit Eulenburg sei einer der wenigen Männer gestürzt worden, die noch einen mäßigenden Einfluß auf den Kaiser gehabt hatten.



Der Paragraph 175 im Kaiserreich

Von Nick Brauns

Die widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen männlichen Geschlechts oder von Menschen mit Thieren begangen wird, ist mit Gefängniß zu bestrafen; auch kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden.« So lautete der Paragraph 175 im Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich. Die Mindeststrafe für sexuelle Handlungen zwischen Männern betrug einen Tag Haft.

Eine Petition des Wissenschaftlich-humanitäre Komitees (WhK) unter Leitung des Sexualwissenschaftlers Magnus Hirschfeld zur Abschaffung des Paragraphen 175 wurde im Jahr 1897 von 6 000 Menschen unterzeichnet und im folgenden Jahr vom Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei August Bebel in den Reichstag eingebracht.

Immer wieder wurden im Kaiserreich homosexuelle Offiziere nach Erpressungen in den Selbstmord getrieben. Im November 1902 berichtete der sozialdemokratische Vorwärts über Orgien des Rüstungsindustriellen Friedrich Alfred Krupp mit jungen Männern auf der Insel Capri. »Herr Krupp hatte sich nicht Capri gewählt, um die Insel mit Straßen zu beglücken, sondern weil das italienische Strafgesetzbuch keinen besonderen Paragrafen 175 kennt.« Eine Woche nach der Veröffentlichung des Artikels am 22. November wurde der Tod Krupps bekannt. Offiziell starb der Kanonenkönig an einem Gehirnschlag, Zeitgenossen vermuteten dagegen Selbstmord des Geouteten. Während Kaiser Wilhelm II. auf dem Staatsbegräbnis in Essen die Sozialdemokraten beschuldigte, einen »kerndeutschen Mann« in den Tod getrieben zu haben, nannten diese den Tod Krupps eine Folge des unmenschlichen Paragraphen 175. Magnus Hirschfeld und andere Aktivisten des WhK lehnten einen solchen »Weg über Leichen« allerdings ab und sprachen sich für eine Befreiung der Homosexuellen durch Agitation statt Outing aus.

Der Paragraph 175 existierte im deutschen Strafgesetzbuch in verschiedenen Fassungen vom 15. Mai 1871 bis zum 10. März 1994. Insgesamt wurden etwa 140 000 Männer auf dieser Grundlage verurteilt.