Diyarbakir
und München – Schulter an Schulter
Von
Newroz zum Volksaufstand
Von Nick Brauns
Der Autor ist Vorstandsmitglied der Deutsch-Kurdischen
Gesellschaft und nahm im März an einer Newroz-Delegation in die kurdischen
Gebiete der Türkei teil.
Millionen Kurdinnen und Kurden hatten um den 21. März auf ihren
Newroz-Festen friedlich und eindrucksvoll für Frieden, demokratische Rechte und
die Freilassung des kurdischen Volksführers Abdullah Öcalan demonstriert. Da
die Newroz-Feste von Menschenrechtsaktivisten und mittlerweile auch der EU
beobachtet werden, hielt sich die überall massiv aufmarschierte Polizei zurück.
Doch die Provokation folgte eine knappe Woche später.
In den Bergen von Mus griff die Armee ein Winterlager der PKK-Guerilla an und
ermordete 14 Freiheitskämpfer mit chemischen Waffen. Wie inzwischen bekannt
wurde, bekam die türkische Armee den Tip über den Aufenthalt der
Guerillakämpfer von den USA, die die Region mit Satteliten überwachen. Zuvor
hatte die Guerilla für die Newroz-Woche einen einwöchigen Waffenstillstand
verkündet, um den Charakter des Festes als Friedensfest zu betonen. Das
Massaker von Mus sollte zum Auslöser der kurdischen Intifada werden.
In der Millionenstadt Diyarbakir, aber auch in Siirt und Mersin schlossen sich
Zehntausende den Trauerzügen für die Gefallenen an. Kleine Ladenbesitzer hatten
ihre Geschäfte aus Protest gegen das Massaker geschlossen. Als Polizei die
Trauernden bedrängte, riss den Menschen die Geduld. Vor allem Jugendliche
warfen die Scheiben von Banken und Läden ein, die trotz des Trauertages
geöffnet hatten. Polizeipanzer wurden mit Molotowcocktails in Brand gesetzt,
staatliche Gebäude und die Zentrale der faschistischen Grauen Wölfe attackiert.
Die Fahnen der PKK und Bilder des auf der Gefängnisinsel Imrali inhaftierten
Abdullah Öcalan waren allgegenwärtig.
Die Polizei schlug mit voller Härte zurück. Gegen Steine schmeißende
Jugendliche wurde scharf geschossen. Erstmals seit Ende des Ausnahmezustands
rückten Armeeeinheiten mit Panzern in die Innenstädte ein. In rund einer Woche
wurden in Nordkurdistan sowie Istanbul über ein Dutzend Zivilisten durch
Polizeischüsse getötet und Hunderte verletzt. Mehrere Hundert Menschen wurden
noch Tage nach der Revolte von Spezialeinheiten auf der Straße oder in Kaffeehäusern
verhaftet. Unter den Gefangenen sind Dutzende Jugendliche und sogar Kinder, die
nach Informationen von Menschenrechtsorganisationen schweren Misshandlungen und
Folter ausgesetzt sind. Ebenfalls verhaftet wurden zahlreiche Funktionäre der
legalen kurdischen Partei für eine Demokratische Gesellschaft DTP, obwohl deren
Führung und die von ihr gestellten Bürgermeister die Massen zur Mäßigung
aufriefen.
Mordbefehl gegen Kinder
Unter den Toten waren mehrere Kinder. Ein Sechsjähriger wurde in Diyarbakir von
Spezialeinheiten der Polizei auf einem Hausdach erschossen, als er die
Demonstrationen beobachtete. In Batman töteten Polizisten bei einer Razzia
einen Dreijährigen. Der türkische Ministerpräsident Tayyip Erdogan von der
islamisch-konservativen AK-Partei rechtfertigte die Ermordung von Kindern
ausdrücklich. „Unsere Sicherheitskräfte werden die notwendigen Interventionen
gegen all diejenigen machen, auch wenn es Kinder oder Frauen sind. Ich möchte,
dass dies klar verstanden wird.“ Damit gab Erdogan grünes Licht für weitere
Massaker an der Zivilbevölkerung. Und in einem neuen Antiterrorgesetz, das vom
Kabinett bereits gebilligt wurde, sollen Eltern mit fünf Jahren Haft bestraft
werden, wenn sie ihren Kindern die Teilnahme an illegalen Demonstrationen
erlauben. Bereits Vermummung oder das Rufen von PKK-Parolen soll dann als
Terrordelikt gelten und mit drei bis sechs Jahren Haft bestraft werden.
Dutzenden Kindern und Jugendlichen zwischen 13 und 18 Jahren drohen wegen der
Teilnahme an den Protesten langjährige Haftstrafen.
Die PKK habe die Unterstützung der Bevölkerung eingebüßt und bezahle nun Kinder
und Jugendliche für Angriffe auf die Polizei, hieß es in der türkischen und
deutschen Presse. Tatsächlich zeigte die massenhafte Beteiligung aller
Bevölkerungsschichten an den diesjährigen Newrozfesten, auf denen überall
PKK-Parolen gerufen wurden, dass die Mehrheit der Menschen in Nordkurdistan
nach wie vor hinter der Befreiungsbewegung steht und Abdullah Öcalan als Symbol
nationaler Würde betrachtet. Das arrogante Auftreten der türkischen
Kolonialherren in den kurdischen Städten und Dörfern, alltägliche Demütigungen
durch die Jandarma an den Checkpoints, das Verbot von muttersprachlichem
kurdischen Unterricht, Schikanen gegen kurdische Liedermacher und Künstler und immer
wieder tödliche Schüsse auf Zivilisten – all dies hat unter der Bevölkerung und
insbesondere der Jugend große Frustration und Wut geschürt.
Vom Volksaufstand zum Bürgerkrieg
Auf alle Waffenstillstands- und Verhandlungsangebote der PKK hat der türkische
Staat mit neuen Provokationen und Massakern reagiert. Letzten Herbst
erschütterte eine Bombenserie die entlegene kurdische Provinz Hakkari. Am 9.
November 2005 gelang es Passanten, drei Bombenleger bei einem Anschlag auf eine
linke Buchhandlung in der Kleinstadt Semdinli auf frischer Tat zu stellen: ihre
Ausweise wiesen sie als Mitglieder des Militärgeheimdienstes sowie einen
PKK-Überläufer aus. Als es daraufhin zu Massenprotesten in der ganzen Region
kam, eröffnete die Armee das Feuer und tötete mehrere Demonstranten. Wieder
einmal wurde deutlich, dass es der sogenannte „tiefe Staat“ ist, also das
Geflecht aus türkischen Nationalisten, Militärs und Mafia, der keinen Frieden
und keine politische Lösung der kurdischen Frage will. Die Militärs sehen ihre starke
Stellung und ihre Beteiligung am Schmuggel und Drogenhandel bedroht, wenn der
von ihnen angestachelte Krieg enden sollte. Als ein Staatsanwalt den Heereschef
der Türkei persönlich als Hintermann der Konterguerilla nannte, verhinderte der
Generalstab weitere Ermittlungen und ließ den Staatsanwalt absetzen.
Zunehmend droht nun die Gefahr eines ethnischen Bürgerkrieges in der Türkei.
Während sich der Nationalismus der faschistischen Grauen Wölfe in Pogromen
gegen Kurden oder türkische Linke entlädt, haben die von der PKK abgespaltenen
„Freiheitsfalken Kurdistans“ eine Bombenkampagne in der Westtürkei gestartet.
Ziel dieser Anschläge, bei der bereits eine Reihe von Zivilisten starben oder
verletzt wurden, sind vor allem touristische Einrichtungen. Mit ihrer Politik
der unnachgiebigen Härte gegenüber den kurdischen Forderungen nach
Gleichberechtigung hofft die türkische Regierung, die Anhänger der
nationalistischen Rechten für sich zu gewinnen. Doch damit arbeitet sie den
Grauen Wölfen direkt in die Hände.
Mit einem Truppenaufmarsch von bis zu 250.000 Soldaten hat in der Osttürkei die
größte Militäroffensive seit vielen Jahren begonnen. Im Einsatz sind zahlreiche
Panzer und LKW aus deutscher Lieferung. Erst letzten Herbst gab die damalige
rot-grüne Bundesregierung grünes Licht für die Lieferung weiterer 200
Leopard-Panzer an die Türkei. Artillerieeinheiten haben Ende April bereits
mehrere PKK-Lager im grenznahen Nordirak bombardiert. Die türkischen
Kriegsherren sehen den Kampf gegen die PKK als willkommenen Vorwand, in den
Nordirak einzudringen und die südkurdische Autonomiezone zu schwächen. Damit
die Türkei sich nicht an einem möglichen Krieg der USA gegen Iran beteiligt,
bietet Teheran Ankara ein gemeinsames Vorgehen gegen die PKK an. Offensichtlich
in Absprache mit der türkischen Armee hat die iranische Armee Angriffe auf
kurdische Stützpunkte im Nordirak gestartet. Die USA wiederum versprechen der
Türkei im Gegenzug für die Nutzung von Flugplätzen bei einen Angriff auf den
Iran grünes Licht bei der grenzüberschreitenden Bekämpfung der PKK. Bauernopfer
dieser zynischen Politik sind in jedem Fall die Kurden.
Von Diyarbakir nach München
„Diyarbakir und München – Schulter an Schulter“ hieß es auf einer Münchner
Kundgebung gegen die jüngsten Massaker. Die BRD unterstützt die türkische
Militärdiktatur mit dem 1993 erlassenen PKK-Verbot und massiven
Waffenlieferungen. Dahinter stehen innenpolitische und geostrategische
Interessen. Die Bundesregierungen suchen die Unterstützung der zahlreichen
türkischen Nationalisten in Deutschland. Und die Türkei wird seit 150 Jahren
als wichtigster Bündnispartner im Nahen Osten gesehen, mit dessen Hilfe die Öl-
und Gasvorkommnisse auf dem Landweg erreichbar sind. Für die deutsche
Wirtschaft ist die Türkei zudem ein wichtiger Markt. Seit 1993 wurden aufgrund
des PKK-Verbots zahlreiche kurdische Vereine, Zeitungen, Demonstrationen und
Veranstaltungen in Deutschland verboten und viele politisch aktive Migranten
festgenommen.
Am 1. April 2006 zerschlugen Sondereinheiten der Polizei eine friedliche
Kundgebung von rund 100 Kurdinnen und Kurden und Aktivisten der
Antikriegsbewegung auf dem Münchner Stachus. „Jetzt lösen wir die Sache auf“,
erklärte ein USK-Einsatzleiter nach Zeugenaussagen, bevor das Rollkommando ohne
Vorwarnung auf die Kundgebungsteilnehmer losstürmte und dabei mehrere Menschen
verletzte. Offizieller Anlass des Polizeieinsatzes waren Plakate mit den
Bildern gefallener Guerillakämpfer. Ein roter Stern im Hintergrund wurde von
den Staatsschutzbeamten als Symbol der PKK identifiziert. Doch die Plakate
waren nur ein Vorwand zur Zerschlagung der angemeldeten Versammlung. So wurde
kein einziges der Plakate beschlagnahmt und lediglich einem der neun
Festgenommenen ein Verstoß gegen das PKK-Verbot vorgeworfen. Dagegen hatte die
Polizei gezielt die Versammlungsleiter, Kundgebungsredner und einen kurdischen
Journalisten inhaftiert.
Eine Woche später zogen mehrere Hundert Menschen vor das bayerische
Innenministerium, um gegen die Massaker in der Türkei und das PKK-Verbot in
Deutschland zu protestieren. Das Kreisverwaltungsreferat hatte ausdrücklich
untersagt, den türkischen Ministerpräsidenten Erdogan, der einen Schießbefehl
gegen Minderjährige erlassen hatte, als „Kindermörder“ zu titulieren. Erneut
wurden zwei Menschen festgenommen, weil sie in der Woche zuvor die verbotenen
Plakate hochgehalten hätten.
Als Kurdinnen und Kurden aus dem Raum München am 22. April ein Musikfestival
veranstalten, ist die Polizei mit einer Einsatzhundertschaft vor der Halle in
Fürstenried präsent. Staatsschützer patroullieren durch den Konzertsaal. Wieder
kommt es zu einer Festnahme. Ziel des massiven Polizeiaufgebots ist
offensichtlich die Einschüchterung von Festivalteilnehmern. Die Botschaft ist
deutlich: Wer in Bayern zu seiner kurdischen Identität steht, sich mit dem
Freiheitskampf in seinem Herkunftsland identifiziert oder auch nur kurdischen
Künstler zuhören möchte, gilt in den Augen des Staatsschutzes als potentieller
Straftäter oder Terrorist. Und wer auf den Erhalt der deutschen
Staatsbürgerschaft hofft, sollte sich lieber nicht bei derartigen Festivals von
der Polizei filmen lassen.
Seit Jahren verhindern Polizei und Verfassungsschutz zudem, dass Kurdinnen und
Kurden in München Vereinsräume anmieten können. Kaum werden aussichtsreiche
Objekte gefunden, folgt nach wenigen Tagen die Absage, nachdem staatliche
Dienste bei den Vermietern interveniert haben. Und immer noch laufen Verfahren
gegen ehemalige Vorstandsmitglieder eines kurdischen Vereins, weil dort vor
mehreren Jahren Bilder des PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan gezeigt wurden.
Damoklesschwert der Ausweisung
Zunehmend werden Widerrufsverfahren gegen türkische Staatsangehörige
eingeleitet, deren Asylantrag seit langem anerkannt wurde. Die seinerzeit
vorgetragenen Fluchtgründe seien aufgrund der Annäherung der Türkei an die EU
entfallen, heißt es. Betroffen von den Widerrufsanträgen sind auch Menschen,
die seit zehn oder zwanzig Jahren hier leben.
Ganze 26 Jahre nach seiner Flucht soll dem kurdischen Aktivisten Kemal Göktepe
der Asylstatus aberkannt werden. Göktepe war nach dem Militärputsch 1980 nach
Deutschland gekommen und wurde vier Jahre später als Flüchtling anerkannt.
Ungeachtet der jüngsten Repressionswelle in der Türkei hat das Nürnberger
Bundesamt für Immi-granten und Flüchtlinge im April angekündigt, Göktepes
„asylrechtliche Begünstigung“ zu widerrufen. „In den letzten Jahren wurden in
der Türkei insbesondere unter der AKP-Regierung durch Gesetzes- und
Verfassungsänderungen sowie andere Reformmaßnahmen markante Fortschritte
besonders im Bereich der Wahrung der Menschenrechte erzielt. Übereinstimmend
wird von Beobachtern der sich durch große Teile der Gesellschaft ziehende
Mentalitätswandel gewürdigt“, heißt es in dem Schreiben unter Bezugnahme auf
einen Lagebericht des Auswärtigen Amtes. Gegnern des türkischen Staates, die in
Deutschland innerhalb des „linksradikalen Spektrums“ eine herausragende
Position eingenommen haben, drohe bei ihrer Abschiebung nur „in besonders
gelagerten Einzelfällen staatliche Verfolgung“. Abschiebehindernisse lägen daher
nicht vor.
Der 44jährige Göktepe gilt als staatenlos, nachdem ihm die Militärjunta die
türkische Staatsbürgerschaft entzogen hatte. Eine Reihe damals Ausgebürgerter
hatte später unter Ministerpräsident Turgut Özal die türkische
Staatsbürgerschaft zurückbekommen. Doch türkische und deutsche Behörden konnten
Göktepe bis heute keine Auskunft geben, ob er von der Türkischen Republik
mittlerweile wieder als Staatsbürger geführt wird. Die deutsche
Staatsbürgerschaft war Göktepe, der dem Vorstand der Föderation kurdischer
Vereine Yek- Kom angehört, wegen angeblicher PKK-Mitgliedschaft verweigert
worden.
Die Aberkennung des Asylstatus heißt noch nicht, dass Betroffene damit
automatisch ihr Aufenthaltsrecht verlieren. Allerdings wächst das Risiko. Zum
Beispiel kann für diese Menschen künftig Arbeitslosigkeit zum Verlust des
Aufenthaltsrechts führen. Die Sicherheit, die der Flüchtlingsstatus bot, ist
weg, und daher ist die Verunsicherung groß.
Unmittelbar von einer Abschiebung bedroht sind dagegen 14.000 lediglich
geduldete Flüchtlinge aus der Türkei. Sie gelten als ausreisepflichtig, da es
nach Einschätzung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge in der Türkei
keine asylrelevanten Abschiebehindernisse mehr in gäbe.
„Wenn hinten, weit, in der Türkei, die Völker auf einander schlagen“ – wie es
bei Goethe heißt – sollten wir in München nicht schweigen. Deutsche und
bayerische Behörden tragen eine Mitverantwortung am Krieg in Kurdistan. Zeigen
wir internationale Solidarität gegen die 150-jährige blutige Tradition der
deutsch-türkischen Waffenbrüderschaft!
MitLinks Nr. 15, Mai 2006
Zeitung der Offenen Liste der Linkspartei.PDS München im Stadtrat
http://www.pds-muenchen-stadtrat.de/!1Journal/!j-frames.htm