junge Welt
24.02.2012 / Ausland / Seite 6
Erdogan contra Kemalisten
Türkei: Untersuchungsausschuß
zum Dersim-Massaker 1937/38 eingesetzt
Von Nick Brauns
Ein in
dieser Woche eingesetzter Untersuchungsausschuß des
türkischen Parlaments soll eines der größten Massaker in der Geschichte der
Republik aufklären. Bis zu 70000 alevitische Kurden
in der Bergregion Dersim waren 1937/38 von der Armee
durch Bomben und Giftgas getötet und weitere Zehntausende anschließend
deportiert worden. Als Dersim-Aufstand gingen die
Ereignisse in die Geschichte ein. Doch die bäuerlichen Partisanen unter Führung
des hingerichteten Geistlichen Seyid Riza
verteidigten sich vor allem selbst, als die Regierung der Region die
traditionellen Autonomierechte nahm, die kurdische Sprache verbot und Dersim in Tunceli (Bronzefaust)
umbenannte, um selbst den Namen der rebellischen Region vergessen zu machen.
Die Aufarbeitung der Massentötungen 1937/38 in Dersim
und ihre Anerkennung als Völkermord wurden in den vergangenen Jahren auf internationalen
Konferenzen kurdischer und alevitischer Verbände
gefordert. Hunderte Überlebende und Nachfahren der Opfer haben Petitionen an
das türkische Parlament gerichtet, in denen sie Entschädigungen oder Aufklärung
über das Schicksal von Angehörigen verlangen. Ein erster Abfindungsprozeß
wird demnächst vor dem Gerichtshof in Tunceli
stattfinden. Der heute 83jährige Ali Dogan hatte als Achtjähriger schwer
verletzt ein Massaker überlebt, bei dem 20 seiner Angehörigen niedergemetzelt
wurden. Nun fordert er von Staatspräsident Abdullah Gül als Repräsentant der
Republik Türkei eine symbolische Entschädigung von einer Million Lira (430000
Euro).
Der Untersuchungsausschuß soll jetzt Dokumente im
Archiv des Generalstabs sichten und noch lebende Zeitzeugen der Massaker
anhören. Allerdings geht die herrschende islamisch-konservative AKP von
Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoganheute
selbst mit Militär und Polizei gegen kurdische Rebellen vor. Die Einrichtung
des Untersuchungsausschusses ist denn auch weniger der Suche nach historischer
Wahrheit als parteipolitischem Kalkül geschuldet. Die Regierung hofft wohl
nicht zu Unrecht, so die kemalistische Republikanische Volkspartei CHP in den
Augen ihrer alevitischen Wähler vorführen zu können,
die aus Angst vor einer Islamisierung des Landes in Dersim
mehrheitlich für die Laizisten votiert hatten. Zwar ist der CHP-Vorsitzende
Kemal Kilicdaroglu auch ein Alevit
aus Dersim, dessen Familie 1937/38 am Aufstand
beteiligt war. Doch aus Rücksicht auf den starken nationalistischen Flügel
seiner Partei weigert sich Kilicdaroglu bislang, die
Verantwortung von Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk für das Dersim-Massaker anzuerkennen. Im vergangenen November hatte
es vehemente Proteste aus der Basis gegeben, als der CHP-Abgeordnete Hüseyin
Aygün es einen »Mythos« nannte, daß Mustafa Kemal
nichts von dem Massaker gewußt habe. Schließlich
hatte Atatürk Dersim als »innere Wunde« und
»abstoßendes Krebsgeschwür« bezeichnet, das die Regierung »um jeden Preis
beseitigen und auslöschen« müsse. Ministerpräsident Erdogan hatte im
vergangenen Herbst erklärt: »Wenn nötig, entschuldigen wir uns«. Er fügte aber
hinzu, daß dies eigentlich die Aufgabe der CHP sei,
die in den 30er Jahren als Staatspartei die Verantwortung getragen habe.