junge Welt 05.07.2007 / Thema / Seite 10

Emanzipation durch Klassenkampf

Zum 150. Geburtstag der Kommunistin, Frauenrechtlerin und Antifaschistin Clara Zetkin

Von Nick Brauns

Als eine der Totengräberinnen der Weimarer Demokratie sei Clara Zetkin eines Straßennamens nicht würdig, hatte der sozialdemokratische Historiker Heinrich August Winkler im Abschlußbericht der Unabhängigen Kommission zur Umbenennung von Straßen in Berlin 1994 befunden. Die Straße, an der der Zentralvorstand der von Clara Zetkin mitbegründeten Roten Hilfe Deutschlands sich um die Zehntausenden Opfer der Klassenjustiz in der »ersten deutschen Demokratie« kümmerte, wurde wieder in Dorotheenstraße zurückbenannt. Die Linksfraktion im Reichstag ehrte dagegen die ehemalige Alterspräsidentin des deutschen Parlaments, die dort 1932 angesichts der faschistischen Bedrohung zur Einheitsfront aller Hitlergegner aufgerufen hatte, mit der Benennung ihres Fraktionsraums in Clara-Zetkin-Saal. Als Vorkämpferin der Frauenbewegung genießt Clara Zetkin bis heute weltweites Ansehen und ist die neben ihrer Freundin und Genossin Rosa Luxemburg wohl bekannteste Aktivistin der sozialistischen Arbeiterbewegung.

Clara wurde am 5. Juli 1857 im sächsischen Dorf Wiederau am Fuße des Erzgebirges als Tochter des Dorflehrers Gottfried Eißner und seiner Ehefrau Josephine Vitale geboren. Der Vater war, so Clara, ein »Christ tolstoianischer Prägung«. Von ihrer Mutter, der Tochter eines napoleonischen Offiziers, wurde sie mit den Idealen der französischen Revolution vertraut gemacht. Nicht ohne Einfluß blieb auf Clara das Elend der örtlichen in Heimarbeit schuftenden Weber.

In Leipzig besuchte sie ab 1876 das Auguste-Schmidt-Lehrerseminar und absolvierte 1878 die Abschlußprüfung als Fachlehrerin für moderne Sprachen. Während ihres Studiums hörte sie auf Anregung ihres späteren Lebensgefährten, des russischen Revolutionärs Ossip Zetkin, Vorträge im Leipziger Arbeiterbildungsverein. Ihre Lehrerinnen drängten sie, sich »von den schrecklichen Menschen und Volksverderbern« zu trennen. Doch Clara brach lieber den Kontakt zu den bürgerlichen Frauen ab und schloß sich der Sozialistischen Arbeiterpartei an, die kurz darauf durch das Bismarcksche Sozialistengesetz verboten wurde. Clara mußte 1882 angesichts der politischen Verfolgung Deutschland verlassen. In der Schweiz arbeitete sie mit dem »roten Feldpostmeister« Julius Motteler zusammen, der die sozialistische Presse illegal nach Deutschland schmuggelte. Motteler gab ihr auch das Buch »Die Frau und der Sozialismus« von August Bebel zu lesen. Dieses direkt nach seinem Erscheinen 1879 in Deutschland verbotene Werk sollte bleibenden Einfluß auf die junge Sozialistin ausüben.

1882 folgte Clara ihrem Lebensgefährten nach Paris. Dort bekam das Paar 1883 und 1885 zwei Kinder, Maxim und Kostja. Häufig mußte Clara beim Krämer anschreiben lassen. »Geld ist zwar Dreck«, klagte sie in einem Brief an den sozialdemokratischen Theoretiker Karl Kautsky, »aber Dreck ist leider kein Geld«. Die deutschen Genossen konnten helfen und vermittelten ihr eine Korrespondententätigkeit für die sozialistische Presse. Die Wohnung der Zetkins wurde zum beliebten Treffpunkt russischer revolutionärer Migranten. »Unter den Russen habe ich jung meine Heimat gefunden«, gestand Clara Jahre später. Am 29. Januar 1889 starb Ossip Zetkin mit 39 Jahren an einer unheilbaren Krankheit.

Obwohl nun alleinerziehende Mutter, stürzte sich Clara nach diesem Schicksalsschlag um so mehr in die politische Arbeit. Mitte Juli 1889 tagte in Paris der Gründungskongreß der zweiten Internationale. An der Vorbereitung hatte sie herausragenden Anteil. Auf dem Kongreß war sie nicht nur als Sekretärin und Übersetzerin tätig, sondern hielt auch am 19. Juli ihre erste große Rede. Bislang hatte sie nur vor wenigen Zuhörern gesprochen. Nun trat die junge Frau mit den roten Haaren im schwarzen Kleid vor vierhundert führenden Sozialisten aus ganz Europa als eine der wenige weiblichen Delegierten auf, um über die Frauenbefreiung zu referieren.

Proletarische Frauenpolitik

Die Frauenfrage war für Clara im wesentlichen eine ökonomische Frage. »Emanzipation der Frau heißt die vollständige Veränderung ihrer sozialen Stellung von Grund aus, eine Revolution ihrer Rolle im Wirtschaftsleben.« Clara wandte sich gegen die auch unter Sozialisten zahlreichen Gegner der Frauenarbeit: »Wie der Arbeiter vom Kapitalisten unterjocht wird, so die Frau vom Manne; und sie wird unterjocht bleiben, solange sie nicht wirtschaftlich unabhängig dasteht.« Doch letztlich müsse die Emanzipation der Frau wie die des ganzen Menschengeschlechts das Werk der Emanzipation der Arbeit vom Kapital sein. Denn nur in der sozialistischen Gesellschaft würden die Frauen wie die Arbeiterinnen und Arbeiter insgesamt in den Vollbesitz ihrer Rechte gelangen. Trotz des Beifalls für ihre Rede sprach sich der Kongreß für ein teilweises Verbot der Frauenarbeit aus. Vielen Sozialisten galten die schlechter bezahlten Frauen als »Schmutzkonkurrenz« für die männlichen Arbeiter. »In der Theorie sind die Genossinnen schon gleichberechtigt, in der Praxis aber hängt der Philisterzopf den männlichen Genossen noch ebenso im Nacken wie dem ersten besten Spießbürger«, klagte Clara in den folgenden Jahren mehrfach.

Nach dem Fall des Sozialistengesetzes ging Clara zurück nach Deutschland und ließ sich in Stuttgart nieder. Dort lebte der sozialdemokratische Verleger Johann Heinrich Dietz, für den sie Edward Bellamys Science-fiction-Roman »Ein Rückblick aus dem Jahr 2000« übersetzt hatte. Dietz vertraute Clara 1892 die Redaktion des Organs der sozialistischen Frauenbewegung Die Gleichheit an. Unter ihrer Leitung wurde aus dem zweimonatlichen Rundbrief mit einer Auflage von 2000 Exemplaren eine populäre sozialistische Frauenzeitung, die 1914 über 125000 Abonentinnen verfügte. Neben sozialistischer Agitation beschäftigten sich Artikel auch mit Themen wie »Die Rolle der Mutter als Erzieherin« oder »Abende für Kinder, was schlägt man den Proletarierkindern vor?« Gerade für Hausfrauen sollte die Gleichheit auch eine Möglichkeit der Selbstbildung sein.

Im August 1907 trafen sich in Stuttgart 884 Delegierte von Arbeiterorganisationen aus Eu­ropa, Asien, Amerika, Australien und Afrika zum internationalen Sozialistenkongreß. Einen Tag zuvor hatten sich 58 Frauen aus 15 Ländern in der Liederhalle zur ersten Internationalen Sozialistischen Frauenkonferenz versammelt, um unter anderem über das Frauenwahlrecht zu beraten. Das Frauenwahlrecht diene zur Erweckung des weiblichen Proletariats zum klassenbewußten politischen Leben und sei somit keine frauenrechtlerische, sondern eine Klassenforderung des Proletariats, machte Clara deutlich, die auf dem Kongreß zur Vorsitzenden des internationalen Frauensekretariats gewählt wurde. Zwar erkannte auch Clara die zum Teil fortschrittliche Rolle der bürgerlichen Frauenbewegung an, soweit diese Rechtsgleichheit für Männer und Frauen forderte. Doch den Traum einer allgemeinen Schwesternschaft von armen und reichen Frauen lehnte sie ebenso ab wie einen Krieg der Geschlechter. »Die Proletarierinnen müssen sich klar darüber sein, daß sie das Wahlrecht nicht erobern können in einem Kampfe des weiblichen Geschlechts, sondern nur im Klassenkampf aller Ausgebeuteten ohne Unterschied des Geschlechts«, so Clara. Mit der Novemberrevolution 1918 erlangten die Frauen in Deutschland schließlich ihr Bürgerinnenrecht.

Zusammen mit Käte Duncker brachte Clara auf der zweiten Internationalen Sozialistischen Frauenkonferenz am 27. August 1910 im Kopenhagen den Antrag ein, jedes Jahr einen Frauentag auf sozialistischer und internationalistischer Grundlage zu veranstalten. Am 19. März 1911 wurde in Deutschland, Dänemark, Österreich und der Schweiz erstmals der Frauentag gefeiert. Der heute noch gültige Termin am 8. März wurde 1921 von der internationalen Konferenz kommunistischer Frauen zum Gedenken an den Ausbruch der russischen Revolution durch einen Streik der Petrograder Arbeiterinnen am 8. März 1917 festgelegt.

Auch in den Reihen der Kommunistischen Internationale blieb Clara eine Vorkämpferin der Frauenbefreiung. Sie wurde Chefedakteurin der KPD-Zeitung Kommunistin und entwarf 1920 auf Lenins Anregung hin die Richtlinien zur kommunistischen Frauenarbeit. Ihr besonderes Interesse galt dem Erwachen der Frauen in den muslimischen Sowjetrepubliken, die sich von Scharia, Zwangsehen und Kopftuch befreiten. Ein Foto zeigt die weißhaarige Greisin umgeben von jungen, meist noch verschleierten Frauen im aserbaidschanischen Baku.

Gegenüber Lenin, mit dem sie eine Freundschaft verband, verteidigte Clara die deutschen Sozialistinnen, die die sexuelle Frage und Freuds Theorien studierten, anstatt sich ausschließlich für den Sieg der Revolution einzusetzen. Die sexuelle Frage und die Ehefrage zeigten unter der Herrschaft des Eigentums und der bürgerlichen Ordnung vielgestaltige Probleme, Konflikte und Leiden für die Frauen aller sozialen Klassen. In ihrem Privatleben war Clara alles andere als prüde. Ossip Zetkin hatte sie nie offiziell geheiratet. Und als 39Jährige lebte sie zuerst »in freier Verbindung« mit dem 18 Jahre jüngeren Künstler Friedrich Zundel, den sie dann nur ehelichte, um zimperliche Genossen in der Partei nicht zu sehr vor den Kopf zu stoßen.

SPD – USPD – KPD

Als die Reichstagsfraktion der SPD im August 1914 den kaiserlichen Kriegskrediten zustimmte, gehörte Clara zur revolutionären Minderheit um Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht und Franz Mehring, die dem Programm des internationalen Sozialismus treu blieben.

Auf Claras Initiative versammelten sich im März 1915 in Bern internationale Sozialistinnen zu einer Antikriegskonferenz. Einstimmig wurde ein von ihr verfaßter Appell an die Frauen der ganzen Welt verabschiedet, der mit den Worten endete: »Bisher habt ihr für eure Lieben geduldet, nun gilt es, für eure Männer, für eure Söhne zu handeln. (...) Nieder mit dem Kapitalismus, der dem Reichtum und der Macht der Besitzenden Hektakomben von Menschen opfert! Nieder mit dem Krieg! Durch den Sozialismus!« Der Berner Appell wurde hunderttausendfach illegal in den kriegführenden Ländern verbreitet. Nach einer Razzia wurde die 58jährige Clara aufgrund des Appells im Juli 1915 unter der Anklage des »versuchten Hochverrats« für vier Monate ins Gefängnis gebracht. Wegen ihrer offenen Gegnerschaft zur Burgfriedenspolitik des Parteivorstandes wurde ihr 1917 die Redaktion der Gleichheit entzogen. Clara trat zusammen mit den anderen Kriegsgegnern der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei (USPD) bei.

Vorbehaltlos begrüßte sie die russische ­Februar- und Oktoberrevolution. »Im Osten Europas ist der Tag angebrochen. Dort kündet in schöpferischer Tat jener seine Macht, der, gewaltiger als der waffenklirrende Imperialismus, nicht den Tod bringt, sondern neues höheres Leben: der Sozialismus.«

Krankheitsbedingt fehlte Clara auf dem Gründungsparteitag der KPD zur Jahreswende 1918/19. Doch auf einem USPD-Parteitag im März 1919 erklärte sie ihre endgültige Trennung von der Sozialdemokratie: »Fast 40 Jahre kämpfe ich für das sozialistische Ideal – so alt bin ich, (...) will ich doch die Zeit, in der ich noch wirken kann, dort stehen, dort kämpfen, wo das Leben ist, und nicht dort, wo mir Zersetzung und Schwäche entgegenstarrt. Ich will mich nicht lebendigen Geistes vom politischen Tod anhauchen lassen. (...) Ein Hüben und Drüben nur gibt es: Kapitalismus oder Sozialismus.« Sie schloß sich der KPD an, für die sie zusammen mit Paul Levi 1920 als erste kommunistische Abgeordnete in den Reichstag gewählt wurde. Im Reichstag rief sie zur Solidarität mit der Sowjetunion auf, um das Land dann im September 1920 erstmals selber zu bereisen. Clara war beeindruckt vom Selbstbewußtsein der Menschen, die trotz Jahren des Krieges und Bürgerkrieges, ausländischer Interventionen, Blockaden und Hungersnöte bereit waren, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen und eine neue Gesellschaft aufzubauen. Mit Lenin und seiner Frau Nadeschda Krupskaja schloß Clara eine bleibende Freundschaft.

Als nach der Niederschlagung des kommunistischen Märzaufstandes im mitteldeutschen Industrierevier 1921 Rote-Hilfe-Komitees zur Unterstützung der Opfer der Klassenjustiz gegründet wurden, gehörte Clara dem Zentralkomitee der Hilfsorganisation an. 1925 wurde sie zur Präsidentin der Internationalen Roten Hilfe mit ihren weltweiten Sektionen ernannt. Dazu kamen weitere Ämter in der Internationalen Arbeiterhilfe, dem Roten Frauen- und Mädchenbund oder dem ZK der KPD, die sie meist nur repräsentativ ausführen konnte. Aufgrund ihrer schlechten Gesundheit hielt sie sich die meiste Zeit in Rußland zur Kur auf.

Neben ihrer Rolle als sozialistische Frauenrechtlerin gerät leicht in Vergessenheit, daß sie sich zeitlebens mit sozialistischer Strategie und Taktik auseinandersetzte und in den Debatten sowohl der Vorkriegssozialdemokratie als auch der kommunistischen Internationale intervenierte. Innerhalb der KPD galt sie als »rechte Kommunistin«. Clara lehnte jeden von den Massen isolierten Putschismus – wie beim gescheiterten Aufstand der Kommunisten in Mitteldeutschland 1921 oder beim Hamburger Aufstand 1923 – ab und trat im Leninschen Sinn für Einheitsfrontpolitik mit der Sozialdemokratie ein, um deren Anhänger in geduldiger Praxis für das kommunistische Programm zu gewinnen. Insbesondere die Politik des Thälmannschen Zentralkomitees ab 1928 mit der scharfen Frontstellung gegen den angeblichen »Sozialfaschismus« der SPD lehnte Clara ab. Sie hielt Kontakt zu vielen aus der KPD und der Roten Hilfe ausgeschlossenen »Rechtsopportunisten« wie August Thalheimer und Jacob Schlör, die sich in der Kommunistischen Partei (Opposition) gesammelt hatten. Doch ihre Kritik am Thälmann- und Stalin-Kurs blieb auf geheime Kabinettspolitik beschränkt, wie Briefe beweisen, in denen sie gegen Parteiausschlüsse und die Spaltung der Roten Hilfe protestierte. Zwar war Clara der Überzeugung, daß die KPD (O), der viele ihrer alten Mitkämpfer aus der Spartakuszeit angehörten, politisch im Recht war. Doch sie wagte es nicht, sich einer Splittergruppe anzuschließen und sich so von der Kommunistischen Internationale zu isolieren. Politisch faktisch kaltgestellt diente Clara, deren 70. Geburtstag 1927 international gefeiert wurde, nach außen als ehrwürdige Ikone der kommunistischen Bewegung.

Mit aller Kraft gegen Faschismus

Schon früh warnte Clara vor dem Faschismus. Ihre Analyse war wesentlich tiefgründiger, als etwa die seit 1935 gebräuchliche Dimitroffsche Formel von der »offenen, terroristischen Diktatur der reaktionärsten, chauvinistischsten, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals«. »Das Proletariat hat im Faschismus einen außerordentlich gefährlichen und furchtbaren Feind vor sich. Der Faschismus ist der stärkste, der konzentrierteste, er ist der klassische Ausdruck der Generaloffensive der Weltbourgeoisie in diesem Augenblick«, leitete Clara am 20. Juni 1923 ihren Bericht auf dem Erweiterten Plenum des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale ein. Da die Bourgeoisie die Sicherheit ihrer Klassenherrschaft nicht mehr mit den regulären Machtmitteln des Staates sichern kann, griff sie auf die außerstaatlichen Gewalthaufen des Faschismus zurück, dessen Entwicklung sie politisch und finanziell förderte. Zerrüttung und der Zerfall der kapitalistischen Wirtschaft und des bürgerlichen Staates seien eine Wurzel des Faschismus. Die andere sei »das Stocken, der schleppende Gang der Weltrevolution« in Folge des Verrats der reformistischen Führer der Arbeiterklasse, aber auch der politischen Fehler der Kommunisten. Träger des Faschismus seien breite soziale Schichten bis hinein ins Proletariat. »Nur wenn wir verstehen, daß der Faschismus eine zündende, mitreißende Wirkung auf breite soziale Massen ausübt, die die frühere Existenzsicherheit und damit häufig den Glauben an die Ordnung von heute schon verloren haben, werden wir ihn bekämpfen können«, forderte Clara dazu auf, den Faschismus nicht allein »militärisch« niederzuringen. Es gelte den suchenden Massen nicht nur die Verteidigung des Brotes zu bieten, sondern zugleich den Kommunismus als Weltanschauung.

Wie dies aussehen konnte, zeigte sich während des Ruhrkampfes. Im Januar 1923 hatten französische und belgische Truppen das Ruhrgebiet besetzt, weil Deutschland seinen Reparationsverpflichtungen nicht nachkam. Faschistische Verbände wuchsen rasant an und nahmen den bewaffneten Partisanenkampf gegen die Besatzungsmacht auf. In dieser Situa­tion griff auch die KPD zur nationalen Rhetorik. »Die deutschen Proletarier haben wider den französischen Imperialismus ihr revolutionäres Zukunftserbe zu verteidigen, vaterländische nationale Werte, die für den Judasschilling zu verschachern die deutsche Bourgeoisie sich anschickt«, schrieb Clara. Die KPD müsse in dieser Situation als Verteidigerin von Deutschlands nationalem Lebensrecht auftreten und das Proletariat zum doppelten Kampf gegen den französischen Imperialismus und die deutsche Bourgeoisie anführen. Denn »nicht in ›nationaler‹ Einheitsfront mit den ausbeutenden Landeskapitalisten vermögen die deutschen Arbeiter den französischen Kapitalismus schlagen – das kann einzig und allein in internationaler Einheitsfront geschehen im Bunde mit den Proletariern Frankreichs, mit den Ausgebeuteten der ganzen Welt, mit dem Arbeiter-Bauern-Staat Sowjetrußland.«

Am 30. August 1932 eröffnete die schwer kranke, fast blinde Clara als Alterspräsidentin den Reichstag. Das Plenum wurde von uniformierten Faschisten dominiert, die mit 37,4 Prozent die stärkste Fraktion stellten. Sie klagte erst mit kaum hörbarer Stimme, dann zunehmend leidenschaftlicher Kapitalismus, Krieg und den Terror der Faschisten an. Höhepunkt ihrer Rede war der Aufruf zur Einheitsfront aller Werktätigen, »um den Faschismus zurückzuwerfen, und damit den Versklavten und Ausgebeuteten die Kraft und die Macht ihrer Organisation zu erhalten, ja sogar ihr physisches Leben. Vor dieser zwingenden geschichtlichen Notwendigkeit müssen alle fesselnden und trennenden politischen, gewerkschaftlichen, religiösen und weltanschaulichen Einstellungen zurücktreten.« Die Rede endete in dem unerschütterlichen Optimismus, einmal »trotz meiner jetzigen Invalidität das Glück zu erleben, als Alterspräsidentin den ersten Rätekongreß Sowjetdeutschlands« eröffnen zu dürfen.

Die Machtübernahme der Nazis erlebte Clara in Moskau. Im Namen von 14 Millionen roten Helferinnen und Helfern rief sie in ihrem letzten Artikel zu einer internationalen Hilfswoche für die Opfer des faschistischen Terrors in Deutschland auf. Am 20. Juni 1933 starb sie in Archangelskoje bei Moskau. 400 000 Menschen nahmen im Moskauer Haus der Gewerkschaften Abschied. Stalin, »das gehirnkranke Weib in Männerhosen« (Clara in einem Brief vom 21.5.1930), trug ihre Urne zur Beisetzung an der Kremlmauer.