"Die Kader entscheiden alles"

Ernest Mandels marxistische Theorie der Bürokratie

 

Von Nick Brauns

 

"Macht und Geld" - dies ist nicht der Titel einer neuen Vorabend-Soap über die Reichen und Schönen, sondern das letzte große Werk des 1995 verstorbenen Wirtschaftswissenschaftlers Ernest Mandel. Die englischsprachige Ausgabe dieser "marxistischen Theorie der Bürokratie" lag schon 1992 vor. Für die deutschsprachige Ausgabe hatte Mandel bis zu seinem Tod erhebliche Erweiterungen und Überarbeitungen vorgenommen. Notwendig waren diese Überarbeitungen schon durch die rasanten politischen und ökonomischen Veränderungen in den osteuropäischen Staaten wie den Augustereignissen in Moskau 1991 und dem Zerfall der Sowjetunion.

Eine systematische Theorie der Bürokratie liefert Mandel mit seiner über 300 Seiten starken Untersuchung. Im Gegensatz zum Cover des Buches, das den Frankfurter Wolkenkratzer der Deutschen Bank zeigt, liegt der Schwerpunkt des Werkes in einer Analyse der sogenannten Arbeiterbürokratien. Mit diesem Begriff sind sowohl die herrschenden Kasten der ehemals nichtkapitalistischen Staaten Osteuropas sowie in China gemeint, als auch die Funktionärskörper der sozialistischen, kommunistischen und Arbeiterparteien sowie der Gewerkschaften in den kapitalistischen Ländern.

Bürokratie ist für Mandel "nicht per se gleichzusetzen mit Organisation, Zentralisation und Ausübung von Autorität, sondern mit Usurpation dieser Funktionen durch besondere (und spezialisierte) Körperschaften, die von der Masse der Gesellschaft getrennt sind, für die Wahrnehmung ihrer Aufgaben professionell entlohnt werden, daraus bedeutende materielle Vorteile ziehen (Privilegien) und diese Usurpation mit dem Ziel ausweiten wollen, die Privilegien zu monopolisieren und zu perpetuieren." Eine Arbeiterbürokratie ist für Mandel eine neue soziale Schicht, "die sich administrative, vorher von den Massen selbst ausgeübte Funktionen aneignet. Das ergab sich aus dem Eindringen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung in die Arbeiterbewegung, auch in die herrschende Partei eines Arbeiterstaates. Von da an werden Arbeiter von Menschen verwaltet und herumkommandiert, die aus ihren eigenen Reihen stammen."

Ernest Mandel, bis zu seinem Tod Führungsmitglied des trotzkistischen Vereinigten Sekretariats der IV.Internationale, hält sich bei seinen Untersuchungen streng an die dialektisch-materialistische Methodik. Daher wendet er sich strikt gegen eine auch in Teilen der kommunistischen Bewegung vorherrschende idealistisch-moralische Methodik, die mit Begriffen wie "Fehlverhalten", "Abweichung", "Fraktionismus", "Cliquenbildung" oder "Personenkult" die Politik der Sowjetbürokratie unter und nach Stalin zu erklären sucht. "Auf die Frage, wie der Zusammenbruch im Osten möglich war, geben wir eine klare Antwort: die Macht wurde von einer Bürokratie usurpiert, deren politische Basis zerfiel. Es geht nicht darum, ob die Menschen an der Macht schlecht oder von falschen Ideen inspiriert waren, sondern um die Interaktion ökonomischer, politischer, kultureller, ideologischer und psychologischer Kräfte, die im vorliegenden Buch untersucht werden soll."

Nicht "fehlerhafte Ideen" sind für eine gegen die Interessen der Arbeiterklasse gerichtete Politik verantwortlich, sondern die materiellen Eigeninteressen der Bürokratie, die sich in Form von Privilegien und Posten äußern. Dabei wäre es falsch, sich diese Privilegien immer als materielle Dinge - den Dienstwagen oder den Zugang zu Intershops - vorzustellen. Für einen überzeugten Kommunisten aus der Arbeiterklasse ist eine Tätigkeit als Parteifunktionär nicht nur in körperlicher Hinsicht angenehmer, als acht oder zehn Stunden Fabrikarbeit, sie ist auch ideell wesentlich erfüllender, da er den ganze Arbeitstag für "die Sache" und nicht mehr für den Boss arbeiten kann. Bei einem Teil der hauptamtlichen Funktionäre der Arbeiterbewegung kommt dazu noch der zwangsläufige regelmäßige Kontakt mit der Gegenseite, den Bossen und bürgerlichen Politikern, etwa im Parlament oder bei Tarifverhandlungen. Auf Dauer beginnt der "diskrete Charme der Bourgeoisie" zu wirken.

 

Mandel zeigt den Konservativismus jeder Bürokratie auf. Zum Erhalt seines Postens muss der einzelne Bürokrat permanent seine Unersetzbarkeit beweisen - und er beginnt schnell daran zu glauben und sich selbst als Mittelpunkt der Gesellschaft zu betrachten. So, wie der einzelne Bürokrat um seinen Posten bangt, verteidigt die Arbeiterbürokratie als Schicht den Partei- oder Gewerkschaftsapparat. Nicht fürchten Bürokraten mehr, wie die spontane Massenaktion ihrer Arbeiterbasis. Jeder Kampf oder Streik um neue Errungenschaften gefährdet in den Augen des Bürokraten vor allem das schon erreichte. So versucht der Gewerkschaftsbürokrat, einen Streik zu verhindern, um die Streikkasse zu schonen. Und die SPD stimme 1914 den kaiserlichen Kriegskrediten unter anderem mit dem Argument zu, bei einer Ablehnung würde eine starke Repression gegen die Sozialdemokraten einsetzen, die den Partei- und Gewerkschaftsapparat gefährdet. Aus der "Dialektik der Teilerrungenschaften" folgt ein rigider Organisationsfetischismus, dem wiederum die Unterordnung des (sozialistischen) Ziels unter die Mittel entspringt. Eduard Bernsteins "Der Weg ist alles - das Ziel nichts" entspricht ebenso diese Denkweise, wie Stalins Ausspruch "die Kader entscheiden alles".

 

Ausführlich geht Mandel auf die Wurzeln der Bürokratisierung in den nichtkapitalistischen Übergangsgesellschaften ein. Die ökonomische Rückständigkeit der Sowjetunion nach der Revolution, die mehrheitlich bäuerliche Bevölkerung, mussten - so lange der Arbeiterstaat isoliert blieb - zwangsläufig zu einer "Verallgemeinerung des Mangels" führen. In so einer Situation - so hatte schon Marx gewarnt - würde lediglich die ganze "alte Scheiße" wieder hochkommen. Trotzki, den Mandel neben Marx, Lenin und Rosa Luxemburg ausführlich zitiert, hat in seiner "Verratenen Revolution" diese Wurzeln der Bürokratie in der Mangelwirtschaft beschrieben: "Wenn genug Waren im Laden sind, können sie Käufer kommen, wann sie wollen. Wenn die Waren knapp sind, müssen die Käufer Schlage stehen. Wird die Schlange sehr lang, muß ein Polizist für Ordnung sorgen. Das ist der Ausgangspunkt für die Macht der Sowjetbürokratie. Sie "weiß", wem sie zu geben und wer zu warten hat." Mit Trotzki und Lenin als Kronzeugen wendet sich Mandel daher entschieden gegen die unmarxistische Theorie der Möglichkeit vom Aufbaus des Sozialismus in einem Land. Kritik übt der Trotzkist Mandel allerdings auch an den Führern des Bolschewismus. Im Kapitel "die dunklen Jahre Lenins und Trotzkis" kritisiert er die Verbote der anderen Sowjetparteien und das Fraktionsverbot innerhalb der Bolschewiki in den Jahren 1920/1921. Von Lenin und Trotzki als lediglich vorübergehende Notmaßnahme in einer Situation der allgemeinen Ermattung der Arbeiterklasse nach (!) dem Bürgerkrieg gedacht, wurden diese Maßnahmen unter Stalin zum Dogma erhoben. Die Partei wurde an Stelle der Klasse gesetzt. Substitutionismus  nennt Mandel diese Politik.

 

Mandel Schlusskapitel ist ein eingehendes Plädoyer für den Sozialismus, der für ihn nur als Arbeiterdemokratie, gestützt auf Räte und ein Mehrparteiensystem denkbar ist. Um die Entstehung einer Bürokratie zu vermeiden, ist die Beteiligung der ganzen Gesellschaft an der Entscheidungsfindung und Verwaltung notwendig. Damit Lenins Wunsch "Jede Köchin muß lernen, den Staat zu regieren" in Erfüllung geht, fordert Mandel eine radikale Arbeitszeitverkürzung, die es den Menschen ermöglicht sich nach der Arbeit Verwaltungsaufgaben zu widmen. Ehemals linken Intellektuellen wie Jürgen Habermas, André Gortz und Norberto Bobbio, die heute den Kapitalismus lediglich zivilisieren wollen und revolutionären Marxisten den Vorwurf der "Utopie" machen, entgegnet Mandel: "Anscheinend ist es nicht utopisch, einen Tiger zu reiten und vertrauensvoll zu hoffen, er werde schon seine Zähne nicht gebrauchen".

 Für jeden Gewerkschaftsaktivisten, aber auch zum Verständnis der Prozesse, die sich heute in der PDS abspielen, ist "Macht und Geld" ein unverzichtbares Standartwerk.

 

Ernest Mandel: Macht und Geld - Eine marxistische Theorie der Bürokratie

Neuer ISP-Verlag, Köln, 2000

318 Seiten, gebunden, DM 42,-