Junge Welt 07.01.2012
/ Geschichte / Seite 15
Brot und Rosen
Vor 100 Jahren streikten die Textilarbeiterinnen von
Lawrence/Massachusetts
Von Nick
Brauns
Nicht nur für höhere Löhne, sondern
für ein menschenwürdiges Leben traten Zehntausende junge Arbeitsmigrantinnen
1912 in Lawrence im US-Bundesstaat Massachusetts in einen wochenlangen Streik.
Ihr Lied »Gebt uns das Brot, doch gebt die Rosen auch« gehört bis heute zum
Kanon der internationalen Gewerkschafts- und Frauenbewegung.
Die Stadt Lawrence im US-Bundesstaat Massachusetts war mit zwölf Fabriken ein
Zentrum der Textilproduktion. Fast die Hälfte der rund 85000 Einwohner arbeiteten in dieser Branche. Die Einführung neuer Maschinen
hatte den Einsatz qualifizierter Arbeiter überflüssig gemacht. Statt dessen dominierten hier angelernte Arbeitsmigranten,
die kaum die englische Sprache beherrschten. Immer neue Einwanderungswellen
sorgten für einen permanenten Konkurrenzdruck, so daß
eine Solidarisierung über die jeweilige ethnische Gruppe hinweg kaum zustande
kam. In Lawrence arbeiteten unter anderem Italiener, Griechen, Portugiesen,
Polen, Russen, Litauer, Armenier und Syrer. Die Hälfte der in den
Textilfabriken Schuftenden waren Mädchen zwischen 14 und 18 Jahren. Nur wenige
der Arbeiterinnen und Arbeiter konnten länger als bis zum 40. Lebensjahr
arbeiten, die Sterblichkeit durch Unfälle, Unterernährung und Krankheit war
hoch. Der durchschnittliche Lohn für eine 60-Stunden-Woche betrug 8,76 Dollar,
doch der überwiegende Teil der Löhne lag noch unter einem Stundenschnitt von 15
Cent. Angesichts einer immer weiteren Verelendung, die die Reproduktion der
arbeitenden Klasse zu gefährden drohte, erließ der Staat Massachusetts zum 1.
Januar 1912 ein Gesetz, das die Wochenarbeitszeit auf 54 Stunden begrenzte.
Da im Gesetz kein Lohnausgleich vorgesehen war, wurden zahlreiche
Arbeiterfamilien weiter unter das Existenzminimum gedrückt. Als erste
realisierten dies polnische Arbeiterinnen, die am Morgen des 11. Januar 32 Cent
weniger Wochenlohn erhielten – das entsprach dem Gegenwert von drei Laib Brot. Mit dem Ruf »Lohnkürzung« stürzten sie auf die
Straße. Bald zogen Tausende Arbeiter unter der Parole »Lieber kämpfend als
arbeitend hungern« von Fabrik zu Fabrik, um die Produktion zu stoppen. Binnen
weniger Tage hatten sich rund 20000 Beschäftigte dem Streik angeschlossen.
Marschieren und singen
Die gewerkschaftliche Organisierung der Textilarbeiter war äußerst gering. Die
zum Gewerkschaftsdachverband AFL gehörenden Vereinigten Textilarbeiter
weigerten sich, ungelernte Arbeitsmigranten aufzunehmen und hatten nur wenige
hundert Mitglieder vor Ort. Auch die klassenkämpferischen Industrial Workers of the
World (IWW), die das Konzept einer einheitlichen branchenübergreifenden
Gewerkschaft für alle Lohnabhängigen vertraten, zählten in Lawrence nur rund
300 zahlende Mitglieder. Doch im Unterschied zur AFL hatte die IWW auch
fremdsprachige Sektionen. Auf Bitten ihrer italienischen Sektion kamen der
trotz seines Alters von erst 27 Jahren streikerfahrene IWW-Organisator Joseph Ettor und der Sekretär der »Italienischen Sozialistischen
Föderation« Arturo Giovannitti aus New York zur
Unterstützung des Ausstands nach Lawrence.
Die IWW rief 25000 Arbeiter zur Wahl eines 60köpfigen Streikkomitees auf. Die
15 unter den Arbeitern am stärksten vertretenen Nationalitäten entsandten
jeweils vier Vertreter in das Komitee, dazu kamen Delegierte der streikenden
Belegschaften. Jeden Morgen fanden öffentliche Versammlungen statt, deren
Diskussionsbeiträge in mehr als 20 Sprachen übersetzt werden mußten. Das Streikkomitee verabschiedete einen
Forderungskatalog, der 15 Prozent Lohnerhöhung, die Abschaffung des Bonus- und
Prämiensystems und doppelten Lohn für Überstunden beinhaltete.
Der Gouverneur von Massachusetts hatte inzwischen das Kriegsrecht über Lawrence
verhängt und beorderte neben Polizei auch Miliz und Nationalgarde in die Stadt.
Doch das Streikkomitee fungierte als eine Art Arbeitergegenregierung. Trotz des
Versammlungsverbots wurden Streikpostenketten mit Zehntausenden Arbeitern rund
um die Fabriken organisiert, die den Charakter einer Dauerkundgebung annahmen.
»Sie sind die ganze Zeit am Marschieren und Singen«, bemerkte die Reporterin
Mary Heaton Vorse ein Erwachen der »müden grauen
Massen«. Und Ray Stannard Baker beschrieb im American
Magazine einen »eigentümlichen, intensiven Lebensgeist, einen religiösen
Geist«, wie er ihn noch bei keinem Ausstand gespürt habe.
Streikbrecher, die von der AFL-Gewerkschaft gegen den ihrer Ansicht nach
illegalen Arbeitskampf mobilisiert wurden, wurden abgewehrt. Als
Nationalgardisten am 29. Januar das Feuer auf eine Streikversammlung
eröffneten, wurde eine Arbeiterin getötet, zahlreiche weitere verletzt. Die
beiden Streikführer Ettor und Giovannitti
wurden nun unter dem Vorwurf der Beihilfe zum Mord inhaftiert. Auch Hunderte
Arbeiter wurden festgenommen und zu Haft- oder Geldstrafen verurteilt.
Da die IWW über keine große Streikkasse verfügte, wurden landesweit
Spendensammlungen bei Migrantenvereinigungen,
sozialistischen und Arbeiterorganisationen durchgeführt. Hunderte Kinder kämpfender
Textilarbeiter wurden von Familien in New York und Philadelphia in Obhut
genommen. Als Milizeinheiten am 24. Februar solche Mädchen und Jungen und ihre
Angehörigen am Bahnhof von Lawrence angriffen und eine Schwangere durch Schläge
eine Fehlgeburt erlitt, sorgte dies landesweit für Aufsehen. Selbst Helen Taft,
die Ehefrau des US-Präsidenten, empörte sich über diese Brutalität, und der Kongreß setzte einen Untersuchungsausschuß
ein. Dadurch wuchs der Druck auf die Textilunternehmer, die Forderungen der Streikenden
zu erfüllen. Nach einem ersten, von den Arbeitern zurückgewiesenen Angebot
fünfprozentiger Lohnerhöhungen erklärte sich die American Woolen
Company schließlich am 13. März zu Lohnerhöhungen zwischen 15 und 21 Prozent je
nach Lohngruppe sowie Überstundenzuschlägen bereit. Bis Monatsende hatten sich
auch die kleineren Fabrikanten diesem Tarif angeschlossen, und der Streik
endete mit einem Sieg der Arbeiterinnen und Arbeiter.
»Gottlose Wobblies«
Die vorübergehend auf über 16000 Mitglieder angewachsene Ortsgruppe der IWW in
Lawrence führte am 30. September noch einmal einen eintägigen
Solidaritätsstreik für die inhaftierten Streikführer Ettor
und Giovannitti durch, die schließlich im November
freigesprochen wurden. Doch nun setzte eine massive Pressehetze gegen die
Industrial Workers of the World ein. Katholische Geistliche warnten Italiener,
Iren und Polen vor den »gottlosen« Wobblies – so der
Spitzname der IWW-Mitglieder –, die unter der Losung »Kein Gott, kein Herr!« demonstriert hatten. Bürgermeister Michael A. Scanlon rief eine Kampagne für »Gott und Vaterland« mit dem
Ziel aus, die klassenkämpferische Gewerkschaft aus Lawrence zu verbannen.
Tausende marschierten Mitte Oktober zum Fahnentag mit US-Fahnen durch die
Stadt. Gewerkschafter wurden gezielt entlassen und ein Spitzelsystem in den
Textilfabriken aufgebaut. Das nicht schriftlich fixierte Tarifabkommen wurde
zunehmend unterlaufen. Eine Verdoppelung der Maschinenlaufgeschwindigkeit
führte im folgenden Jahr zu Massenentlassungen. Im Herbst 1913 zählte die IWW
in Lawrence nur noch rund 700 Mitglieder. »Wie auch immer ihre Zukunft sein
wird, die IWW hat eine gewaltige Großtat vollbracht, eine Sache, die das ganze
Gerede über rote Fahnen und Gewalt und Sabotage hinwegfegt«, schrieb der Literaturkritiker
Kenneth McGowan im Forum Magazine über den
Textilarbeiterstreik. »Und das ist das individuelle Erwachen von ›Analphabeten‹
und ›Abschaum‹, die zu einer ursprünglichen, persönlichen Konzeption von
Gesellschaft und der Realisierung ihrer Würde und ihrer Rechte darin gelangt
sind. Sie haben mehr als nur Klassenbewußtsein
erlernt; sie haben Selbstbewußtsein erlernt.«
»Wenn wir zusammen geh’n
...«
Wenn wir
zusammen geh’n, geht mit uns ein schöner Tag,
durch all die dunklen Küchen, und wo grau ein Werkshof
lag,
beginnt plötzlich die Sonne uns’re arme Welt zu
kosen,
und jeder hört uns singen: Brot und Rosen!
Wenn wir zusammen geh’n, kämpfen wir auch für den
Mann,
weil unbemuttert kein Mensch auf die Erde kommen
kann.
Und wenn ein Leben mehr ist als nur Arbeit, Schweiß und Bauch,
wollen wir mehr. Gebt uns das Brot, doch gebt die Rosen auch!
Wenn wir zusammen geh’n, geh’n
uns’re Toten mit,
ihr ungehörter Schrei nach Brot schreit auch durch unser Lied.
Sie hatten für die Schönheit, Liebe, Kunst erschöpft nie Ruh,
drum kämpfen wir ums Brot und wollen die Rosen dazu.
Wenn wir zusammen geh’n, kommt mit uns ein bess’rer Tag.
Die Frauen, die sich wehren, wehren aller Menschen Plag.
Zu Ende sei, daß kleine Leute schuften für die
Großen.
Her mit dem ganzen Leben: Brot und Rosen!
deutscher Text: Peter Maiwald nach dem Original von James Oppenheim