Der Briefmarkenprozess

Nick Brauns

Die Nummer 31 der als eine Art Zentralorgan der außerparlamentarischen Opposition firmierenden Zeitschrift „Kursbuch“ vom Mai 1973 hatte den Titel „Staatsgewalt und Reformismus“.  Nicos Poulantzas befasste sich darin mit „Klassenkampf und Repression“, Manfred Clemenz fragte „Ist der spätkapitalistische Staat faschistisch?“, Heinz Rudolf Sonntag schrieb über „Der Staat des unterentwickelten Kapitalismus“ und Brigitte Heinrich über „Staat und Ökonomie“. Der Hauptbeitrag kam von der „Roten Hilfe West-Berlin“ zum Thema „Staatsgewalt, Reformismus und die Politik der Linken“. Kursbuch-Herausgeber Hans Magnus Enzensberger hatte den bekannten Grafiker und Karikaturisten Ernst Volland dafür gewonnen, als Beilage einen Kursbogen zum Thema „Rote Hilfe“ zu gestalten. „Ich entwickelte einen Briefmarkenbogen mit je 42 Briefmarken, die jeder abtrennen und verteilen konnte, die Zwischenräume waren perforiert, die Rückseite gummiert. Auflage der Briefmarken 2 100 000“, erinnert sich Volland. Die Marken waren 50-Pfennig Briefmarken nachempfunden und zeigten ein Gefängnisgitter, das in Form eines roten Sterns aufgebogen wurde. Dazu kam der Schriftzug „Unterstützt die Rote Hilfe“. Wie viele Marken damals nicht nur zu agitatorischen Zwecken verklebt wurden, sondern tatsächlich anstelle einer echten Briefmarke verwendet wurden, ist nicht bekannt. Doch sechs Jahre nach Erscheinen des Kursbuchs 31 wurde die Redakteurin der feministischen Berliner Zeitschrift Courage, Traude Bührmann, vom Amtsgericht Tiergarten zu einer Geldstrafe von zu 100 Mark wegen Betruges verurteilt. Traude B. hatte einen Brief an die wegen Unterstützung einer kriminellen Vereinigung – der Stadtguerilla Bewegung 2.Juni – seit ihrer Verhaftung 1975 in Untersuchungshaft sitzende Waltraud Siepert geschickt. Den Brief hatte die Redakteurin – nach eigenen Worten versehentlich – mit einer der Rote-Hilfe-Schmuckmarken statt einer echten Briefmarke frankiert. Der Post war das nicht aufgefallen, wohl aber einem Richter in der JVA Moabit bei der Kontrolle der Gefangenenpost. Der Brief wurde umgehend an den Staatsschutz weitergeleitet, weil „die Sache im Umfeld der politischen Gefangenen liegt“. Die Bundespost hatte wegen der fehlenden 30-Pfennig keinen Strafantrag gestellt. Doch die Staatsanwaltschaft behauptete ein „öffentliches Interesse“ und leitete ein Verfahren wegen Betruges ein. Die falsche Marke war ein willkommener Anlass, um mit acht Polizeibeamten die Wohnung von Bührmann zu durchsuchen. Weitere Rote-Hilfe-Marken wurden dort nicht gefunden. Weil Rechtsanwältin Alexandra Goy in einer Dienstaufsichtsbeschwerde gegen die Hausdurchsuchung behauptet hatte, die Verhältnismäßigkeit sei hier „bewusst“ verletzt worden, wurde ein Ehrengerichtsverfahren gegen sie eingeleitet.

Nach über einen Jahr Verfahrensdauer erfolgte im März 1979 die Verurteilung von Bührmann zu fünf Tagessätzen à 20 Mark (Arbeitslosentarif) wegen Betruges. In der fast fünf Seiten langen Urteilsbegründung hieß es: „… sie beschloss, sich die kostenlose Beförderung des Briefes durch Verwendung eines briefmarkenähnlichen Wertzeichens zu erschleichen. In Ausführung dieses Tatplanes klebte sie rechts oben auf den Umschlag ein briefmarkenähnliches Wertzeichen mit gezackten Rändern. … Dieses Täuschungsmanöver war so gelungen, dass keiner der mit dem Brief befassten Postbeamten die Täuschung erkannt hat und den Brief von der weiteren Beförderung ausgeschlossen bzw. die Erhebung eines Nachportos verfügt hat.“ Das maßlose Markenurteil sorgte für Empörung in der Presse. Die Staatsanwälte sollten sich besser um Wirtschaftskriminelle und Neofaschisten kümmern, als jemand des Betruges zu bezichtigen, wo sich niemand betrogen fühlt, so der Tenor. Selbst sieben Wirtschaftsstaatsanwälte kritisierten in einem offenen Brief ihren Kollegen Kienbaum von der politischen Abteilung der Staatsanwaltschaft, dass es bedauerlich sei, „wenn hierdurch der böse Schein entstünde, ein mutmaßliches Vermögensdelikt werde nur wegen politischer Bezüge – die nichts mit dem Delikt zu tun haben – anders als vergleichbare Fälle behandelt“.

In einem Leserbrief, den der Tagesspiegel wegen „unbeweisbarer Behauptungen gegen die Staatsanwaltschaft“ und Befangenheit der Autorinnen nicht drucken wollte, schrieben Traude Bührmann und Dorothea S.: „`Der Schlüssel liegt im Text des Rote-Hilfe-Aufklebers´ - Dieser Satz im Tagesspiegel-Kommentar vom 14.3.1979 um die falsch geklebte Briefmarke weist auf den wahren Grund der Anklage und Verurteilung wegen Betruges hin: Der Brief war an Waltraut Siepert, die im Hochsicherheitstrakt des Moabiter Knastes gefangen ist, geschrieben. Um Kontakte zu politischen Gefangenen zu stören und zu verhindern, um sie zu isolieren – das heißt, ihnen die Lebensbedingungen zu entziehen, sollen wir draußen eingeschüchtert werden. … Dass Staatsanwalt Kienbaum die 30-Pfennig-Sache verfolgte, ist nicht zufällig. Er ist derselbe Staatsanwalt, der die Prozesse gegen Frau Siepert geführt hat, der schon hier durch seinen Über-Eifer auffiel. … Wenn Staatsanwalt Kienbaum mit solch einer Verbissenheit 30 Pfennige zur Verfolgung seiner Ziele einsetzt, hat er wahrscheinlich die Verhältnismäßigkeit des Lebens überhaupt verloren. Wie kann er da noch ein öffentliches Interesse vertreten.“

Aus: Die Rote Hilfe 3/2010