junge Welt 03.03.2008 / Thema / Seite 10


Revolutionäre Politik statt hohler Phrase

Serie: 90 Jahre Oktoberrevolution. Im März 1918 wurde der Diktatfrieden von Brest-Litowsk geschlossen

Von Nick Brauns

Das Versprechen eines sofortigen Friedensschlusses war die stärkste Triebkraft der russischen Oktoberrevolution. Von der Umsetzung des unmittelbar nach dem Oktoberaufstand vom Allrussischen Rätekongreß beschlossenen »Dekrets über den Frieden« hing das weitere Schicksal der Sowjetmacht ab.

Am 15. Dezember 19171 wurde ein vorläufiger Waffenstillstand zwischen Sowjetrußland sowie dem Deutschen Reich und Österreich-Ungarn geschlossen. Die Friedensverhandlungen begannen am 22. Dezember in Brest-Litowsk. Von der im Krieg ausgebrannten Zarenfestung am Bug war nur ein düsterer Kasernen- und Barackenkomplex erhalten geblieben, der dem deutschen Oberkommando Ost als Hauptquartier diente. Hier trafen nun die Vertreter des preußisch-deutschen Militarismus und seiner Verbündeten und die Abgesandten des revolutionären Rußland aufeinander. Leiter der sowjetischen Delegation war Adolf A. Joffe. Dazu kamen Lew B. Kamenew, der Historiker Michail N. Pokrowski und Lew M. Karachan. Die mit den Bolschewiki verbündeten Linken Sozialrevolutionäre schickten Anastasija A. Bizenko, die wegen eines Attentats auf einen zaristischen Beamten lange Jahre in Haft gesessen hatte. Auf die noch an den Waffenstillstandsverhandlungen symbolisch teilnehmenden Arbeiter, Bauern und Matrosen hatten die Bolschewiki diesmal verzichtet. Das Deutsche Reich wurde vom Staatssekretär des Äußeren, Richard von Kühlmann, die Oberste Heeresleitung durch General Max Hoffmann und Österreich-Ungarn durch seinen Außenminister Graf Ottokar Czernin vertreten. Dazu kamen türkische und bulgarische Emissäre.

Joffe schlug als Grundlage für Friedensverhandlungen die folgenden auf dem »Dekret für den Frieden« aufbauenden Festlegungen vor:

1. Zwangsannektierungen von während des Krieges ergriffenen Gebieten sind unstatthaft. Truppen, die solche Gebiete besetzt halten, werden in kürzester Zeit zurückgezogen.

2. Die ihrer Unabhängigkeit im gegenwärtigen Krieg beraubten Völker werden wieder in ihre alten Rechte eingesetzt.

3. Nationalitäten, die sich vor dem Krieg nicht der politischen Unabhängigkeit erfreuten, wird die Möglichkeit garantiert, sich vermittels eines Volksentscheides dem einen oder anderen Staat anzuschließen oder ihre Unabhängigkeit zu erklären. Der Volksentscheid muß bei vollster Wahlfreiheit der gesamten Bevölkerung des gegebenen Gebietes vorgenommen werden und darf Emigranten und Flüchtlinge nicht ausschließen.

4. Bezüglich der von mehreren Nationalitäten bewohnten Gebiete wird das Recht der Minderheiten durch besondere Gesetze geschützt, die ihre nationale, kulturelle und wenn möglich administrative Autonomie gewährleisten.

5. Keines der kriegführenden Länder ist verpflichtet, anderen Ländern sogenannte »Kriegsunkosten« zu erstatten.2

Weiterhin sprach sich Joffe für ein Verbot von Wirtschaftsboykotten und Seeblockaden starker gegen schwache Nationen aus. Zum Erstaunen der russischen Delegation erklärte sich Kühlmann im Namen der Viererallianz am 25. Dezember zu einem Frieden ohne Zwangsannexionen und Kontributionen auf der Basis des Rechtes der Völker auf Selbstbestimmung bereit. Doch beim Mittagessen am folgenden Tag machte der jeglicher Diplomatie abgeneigte General Hoffmann deutlich, daß die vier Mittelmächte einen Austritt der von deutschen Truppen besetzten Länder Polen, Litauen und Kurland aus dem russischen Imperium und deren Anschluß an Deutschland nicht als Zwangsannexion betrachten würden. Durch die Direktheit des Generals war deutlich geworden, daß weitere Verhandlungen nicht zur Erzielung eines Übereinkommens mit den Mittelmächten, sondern nur zum Zwecke der höchstmöglichen Revolutionierung der breiten demokratischen Masse in diesen Staaten geführt werden konnten. Dafür sei es notwendig gewesen, die Gespräche so lange wie möglich hinauszuziehen und sie mit besonderer polemischer und dialektischer Meisterschaft zu führen, schrieb Joffe in der 1928 von der Kommunistischen Internationale in Deutsch veröffentlichten »Illustrierten Geschichte der Russischen Revolution 1917«. »In dieser Absicht wurde L. D. Trotzki an die Spitze der Delegation gestellt, und Brest-Litowsk wurde zur Arena jenes Wortkampfes der Scharfsinnigkeit und Findigkeit, in welchem, nach dem eigenen nachträglichen Eingeständnis unserer Gegner ›niemand von uns auch nur annähernd an Trotzki herankam‹, jenes historischen Zusammenstoßes nicht nur zweier Weltanschauungen, sondern auch zweier verschiedener Welten, wo die gesamte Bourgeoisie auf der einen, das gesamte Proletariat auf der anderen Seite stand.«3

Die nächste Phase der Friedensverhandlungen ab dem 1.Januar 1918 war geprägt durch ein Rededuell zwischen Trotzki und Kühlmann über das Selbstbestimmungsrecht. Trotzki erklärte, daß nur ein freies Referendum, das nicht in Gegenwart deutscher Besatzungstruppen abgehalten wird, den wirklichen Volkswillen ausdrücken könnte, während Kühlmann darauf bestand, daß in den besetzten Gebieten geschaffene Körperschaften diesen Willen bereits kundgetan hätten. »Der General Hoffmann trug in die Verhandlungen eine erfrischende Note hinein«, schilderte Trotzki. »Ohne große Sympathie für die diplomatischen Instruktionen Kühlmanns zu zeigen, legte der General mehrmals seinen Soldatenstiefel auf den Tisch, um den sich komplizierte juristische Debatten drehten. Wir unsrerseits, wir zweifelten keinen Augenblick, daß gerade dieser Stiefel des Generals Hoffmann als die einzige ernsthafte Realität bei diesen ganzen Verhandlungen zu betrachten sei.«4 Trotzkis Ziel war es, Zeit zu gewinnen und die Arbeiter Deutschlands und Österreichs mit flammenden Appellen zur Revolution zu treiben. Tatsächlich kam es ab Mitte Januar in Österreich-Ungarn und anschließend im Deutschen Reich zu einer Massenstreikwelle, die allerdings aufgrund der verräterischen Rolle von rechten Sozialdemokraten in den Streikkomitees erfolglos abgebrochen und militärisch niedergeschlagen wurde.

»Weder Krieg noch Frieden«

Am 18. Januar bezeichnete General Hoffmann eine »von militärischen Gesichtspunkten diktierte« Linie als zukünftige Grenze Rußlands auf einer Karte von Osteuropa. Polen, Litauen, das westliche Lettland einschließlich Riga und die estnischen Moonsundinseln wären damit an Deutschland gefallen. Angesichts dieser ultimativen Forderungen erbat Trotzki eine mehrtägige Verhandlungspause für Konsultationen mit der bolschewistischen Führung.

Entgegen späterer Darstellungen der sowjetischen Geschichtsschreibung spielte sich der Kampf innerhalb der Bolschewiki um die Frage des Friedensschlusses nicht primär zwischen Lenin und Trotzki ab, sondern zwischen Lenin und den sogenannten linken Kommunisten um Nikolai Bucharin. Lenin forderte die Unterzeichnung des Friedensvertrages, koste es, was es wolle. Die russische Armee befand sich in völliger Auflösung. Die Soldaten strebten in ihre Dörfer, um bei der Landverteilung nicht leer auszugehen. Sie stimmten – so Lenin – mit den Füßen für den Frieden ab. Nun gehe es allein darum, »wie man am sichersten und besten der sozialistischen Revolution die Möglichkeit geben kann, sich zu festigen oder sich wenigstens in »einem Lande so lange zu halten, bis andere Länder sich anschließen werden«. (Lenin Werke, LW 26, 446) Für einen solchen Zeitgewinn war Lenin bereit, auch einen annexionistischen Frieden einzugehen – bis zum erhofften Ausbruch der Revolution in Deutschland.

Die insbesondere in der Moskauer Organisation der Bolschewiki starken »linken Kommunisten« behaupteten dagegen, es sei unzulässig für eine revolutionäre Macht, Abkommen mit Imperialisten zu treffen, und forderten, einen revolutionären Krieg zu führen. Da Lenins Standpunkt nur mit Hilfe einer Spaltung der Partei und einem Bruch der Regierung durchzusetzen gewesen wäre, versuchte Trotzki, mit der Kompromißformel »Weder Krieg noch Frieden« eine Brücke zu bauen. Die russische Regierung solle sich zwar öffentlich weigern, das Friedensdiktat zu unterzeichnen, zugleich aber den Kriegszustand für beendet erklären und ihre Truppen offiziell demobilisieren. Sollte die deutsche Armee dann weiter vorrücken, würden Bauern und Arbeiter einen Partisanenkrieg beginnen und dies rasch die Revolutionierung innerhalb der deutschen Truppen und der Werktätigen in Deutschland nach sich ziehen.

Bei einem Vieraugengespräch vereinbarten die beiden Sowjetführer schließlich einen Deal. »Nun gut, nehmen wir an, wir haben uns geweigert, den Frieden zu unterschreiben, und die Deutschen gehen zum Angriff über. Was tun Sie nun?« wollte Lenin wissen. »Wir unterschreiben den Frieden unter den Bajonetten. Das Bild wird der ganzen Welt klar sein«, so Trotzki. »Und Sie werden dann nicht die Parole des revolutionären Krieges unterstützen?« fragte Lenin. »Unter keinen Umständen«, versprach Trotzki. »Bei dieser Sachlage kann das Experiment nicht gar so gefährlich werden. Wir riskieren, Estland oder Lettland zu verlieren«, erklärte Lenin und fügte listig lächelnd hinzu: »Schon allein eines guten Friedens mit Trotzki wegen lohnt es sich, Lettland und Estland zu verlieren.«5

Nach heftiger Debatte stimmten auf einer Sitzung des bolschewistischen Zentralkomitees am 24. Januar neun Mitglieder für Trotzkis Losung »Weder Krieg noch Frieden«. Der revolutionäre Krieg wurde mit elf gegen zwei Stimmen bei einer Enthaltung abgelehnt, und Lenins angesichts der Massenstreiks in Österreich geäußerter Vorschlag, die Vertragsunterzeichnung durch Verschleppen der Friedensverhandlung möglichst lang hinauszuschieben, wurde mit Mehrheit von einer Stimme verworfen.

Berlin bricht Waffenstillstand

Bei den am 30. Januar wieder aufgenommenen Friedensverhandlungen waren auch Vertreter der von bürgerlich-nationalistischen Parteien beherrschten Kiewer Zentralrada anwesend. »Mein Plan ist, die Petersburger und die Ukrainer gegeneinander auszuspielen und zumindest mit einer Seite zu einem Frieden zu gelangen«, vermerkte Graf Czernin in seinem Tagebuch. Am 1. Februar verkündete Czernin im Namen der Mittelmächte die Anerkennung der Ukrainischen Volksrepublik »als eines freien souveränen Staates, absolut berechtigt, internationale Beziehungen einzugehen«. Da sich zu diesem Zeitpunkt bereits große Landesteile zur Sowjetukraine erklärt hatten, witzelte Trotzki über eine nicht existierende ukrainische Republik, deren Territorium sich auf ihre Delegationsräume in Brest-Litowsk beschränkte. Ungeachtet dessen schlossen die Mittelmächte am 9. Februar mit den Vertretern der Rada einen Sonderfrieden und versprachen im Gegenzug für Lebensmittellieferungen militärische Hilfe gegen die Bolschewiki.

Trotzki wählte den Tag nach diesem Sonderfrieden für seinen theatralischen Auftritt. »Wir ziehen uns aus dem Krieg zurück«, erklärte er den verblüfften Diplomaten und Militärs. »Wir verkünden das allen Völkern und Regierungen. Wir geben den Befehl zur vollen Demobilisierung unsrer Armee. (...) Zugleich weigern wir uns, Bedingungen zu unterschreiben, die der deutsche und österreichisch-ungarische Imperialismus mit dem Schwert auf den lebenden Körper der Völker schreibt. Wir können nicht die Unterschrift der russischen Revolution unter einen Friedensvertrag setzen, der Millionen menschlicher Wesen Unterdrückung, Leid und Unglück bringt.«6 Anschließend reiste Trotzki ab.

Die deutsche Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. Nach fingierten Hilferufen adeliger Großgrundbesitzer und reicher Bürger erklärte das Deutsche Reich am 16. Februar den Waffenstillstand für beendet, und die Ostarmeen setzten am 18. Februar ihren Vormarsch zur Befreiung des Baltikums »vom bolschewistischen Terror« fort. Die Landräuber stießen auf keinen Widerstand von russischer Seite. Da ein Angriff auf Petrograd nicht mehr auszuschließen war, beschloß der Rat der Volkskommissare die Evakuierung der Regierung nach Moskau und forderte mit der Proklamation »Das sozialistische Vaterland ist in Gefahr« die totale Mobilmachung aller verfügbaren Kräfte zum Schutz der Revolution.

Lenin warnte mit aller Entschiedenheit vor einem weiteren »Spiel mit dem Kriege«. Nachdem Trotzki gemäß der unter vier Augen getroffenen Abmachung auf Lenins Standpunkt einschwenkte, wurde über Radio eine Botschaft an Berlin verkündet, in der die beiden Sowjetführer ihre Bereitschaft zur Unterzeichnung des Friedensvertrages verkündeten. Am 22. Februar traf bei ihnen ein Schreiben mit neuen, weitaus ungünstigeren Friedensbedingungen der Deutschen, verbunden mit einem 48stündigen Ultimatum, ein. Estland, Lettland, Finnland sowie die Ukraine sollten von russischen Truppen und Roten Garden geräumt werden. Dies bedeutete die deutsche Annexion des Baltikums und die Errichtung von Protektoraten in der Ukraine und Finnland.

In der Prawda rechnete Lenin scharf mit denjenigen Bolschewiki ab, die sich selbst in dieser Situation noch für einen revolutionären Krieg aussprachen. »Die Demobilisierung ist in vollem Gange. Die alte Armee existiert nicht mehr. Die neue ist eben erst im Entstehen. Wer sich nicht durch Worte, Deklamationen und pathetische Aufrufe einlullen will, muß erkennen, daß die ›Losung‹ des revolutionären Krieges im Februar 1918 eine leere Phrase ist, hinter der nichts Reales, Objektives steckt. Gefühle, Wünsche, Entrüstung, Empörung – das ist der einzige Inhalt dieser Losung im gegenwärtigen Zeitpunkt. Und eine Losung, die nur einen solchen Inhalt hat, ist eben eine revolutionäre Phrase.« (LW 27, 3)

Auf der Sitzung des Zentralkomitees der Bolschewiki vom 23. Februar 1918 sprachen sich Lenin, Jelena Strassowa, Grigori J. Sinowjew, Jakow M. Swerdlow, Josef W. Stalin, Grigori J. Sokolnikow und Iwar T. Smilga für die sofortige Annahme der deutschen Bedingungen aus, die linken Kommunisten Andrej S. Bubnow, Moische S. Uritzki, Nikolai I. Bucharin und Georgi Lomow-Oppokow stimmten dagegen. Trotzki, Joffe, Feliks Dzierzynski und Nikolai N. Krestinski enthielten sich der Stimme, da sie Lenin zwar nicht unterstützten wollten, andererseits aber auch nicht die Verantwortung für seinen im Falle einer Ablehnung seines Antrages ultimativ angedrohten Austritt aus dem Zentralkomitee und dem Rat der Volkskommissare tragen wollten. »Wenn man Zeit gewinnen, wenn man wenigstens eine kurze Atempause für die organisatorische Arbeit bekommen kann, so sind wir verpflichtet, das zu erreichen«, rechtfertigte Lenin im Namen des Zentralkomitees den Beschluß gegenüber der Parteimitgliedschaft. »Indem wir die Sowjetmacht wahren, erweisen wir dem Proletariat aller Länder in seinem unglaublich schwierigen, schweren Kampf gegen seine Bourgeoisie die beste, die stärkste Unterstützung. Einen größeren Schlag für die Sache des Sozialismus heutzutage als den Zusammenbruch der Sowjetmacht in Rußland gibt es nicht und kann es nicht geben.« (LW 27, 45)

Raubfrieden

Am 3. März unterzeichnete Grigori J. Sokolnikow anstelle des vom Posten des Volkskommissars für das Äußere zurückgetretenen Trotzki in Brest-Litowsk den Vertrag. Der Diktatfrieden beraubte Rußland 26 Prozent seiner Bevölkerung, 27 Prozent des fruchtbaren Bodens, 26 Prozent des Eisenbahnnetzes, 33 Prozent der Textilindustrie, 73 Prozent der Eisenindustrie und 75 Prozent der Kohlebergwerke. Eine zusätzliche Vertragsklausel verfügte die Abtretung einiger Kaukasusdistrikte an die Türkei. Die russische Regierung verpflichtete sich zur Demobilisierung ihrer Armee und zur Einstellung revolutionärer Propaganda gegen die Mittelmächte – zumindest bei diesem Punkt kündigte Lenin vor dem Allrussischen Sowjetkongreß einen baldigen Vertragsbruch an.

Endgültig ratifizierte der Vierte Allrussische Rätekongreß am 15. März den Vertrag mit 784 gegen 261 Stimmen und 115 Enthaltungen, darunter auch die 64 Stimmen der »linken Kommunisten«. Der deutsche Reichstag nahm den Friedensvertrag am 22. März mit den Stimmen der Mehrheitssozialdemokratie an, die damit gleichsam im voraus den späteren Prinzipien des gegen Deutschland gerichteten Versailler Friedensdiktats von 1919 zustimmten.

Aus Protest gegen die Unterzeichnung des Friedensdiktats verließen die Linken Sozialrevolutionäre die Koalitionsregierung mit den Bolschewiki und kündigten den Kampf »bis aufs Messer« an. Das war durchaus wörtlich zu nehmen, denn die Partei griff wieder zu ihrem jahrzehntelang erprobten Mittel des individuellen Terrors. So erschoß am 6. Juli der 19jährige Jakob Blumkin im Auftrag der Linken Sozialrevolutionäre den deutschen Botschafter Graf Wilhelm von Mirbach, um so einen Bruch des Brester Friedens zu provozieren.

Das Fazit von Brest

Der Friedensvertrag bedeutete das Ende der Sowjetregierungen in der Ukraine und Finnland. In der Ukraine errichteten die Deutschen ein Marionettenregime aus Großgrundbesitzern und reichen Bauern unter General Pawlo Skoropadski, das sich allein auf deutsche Bajonette stützte. Gegen Skoropadskis Versuche, Grund und Boden an die Großgrundbesitzer zurückzugeben, und gegen die Ausplünderung des Landes durch Lebensmittellieferungen an die Mittelmächte kam es bald zu einer gewalttätigen Bauernbewegung, die von den nach Rußland geflüchteten ukrainischen Kommunisten unterstützt wurde.

»Das Fazit von Brest ist nicht Null, selbst wenn es jetzt zu einem brutalen Unterwerfungsfrieden kommt. Durch die russischen Delegierten wurde Brest zur (...) revolutionären Tribüne. Es brachte die Entlarvung der Mittelmächte, die Entlarvung der deutschen Raubgier, Verlogenheit, Hinterlist und Heuchelei. (...) Es wird sich zeigen, welche Ernte den heutigen Triumphatoren aus dieser Saat reifen wird. Sie sollen ihrer nicht froh werden.«7 Diese prophetischen Zeilen schrieb Karl Liebknecht im März 1918 im Zuchthaus Luckau und fügte hinzu: »Das Versagen des Proletariats – nicht des russischen: das hat seine Schuldigkeit hundertfach getan! – sondern des deutschen Proletariats ist der letzte Grund aller andren Gründe der russischen Katastrophe. Als Märtyrer für die Sünden des deutschen Proletariats kann der russische Sozialismus, das russische Proletariat, sein Haupt stolz erheben, auch in seinem tiefsten Fall. Das deutsche Proletariat aber hat seine Ehre im Spiel; es muß alles tun, sie zu retten; seine Ehre und damit sein Geschick und das Geschick des russischen und des Proletariats der ganzen Welt.«8

Dieser historischen Pflicht kam die deutsche Arbeiterklasse mit der Novemberrevolution 1918 nach, die zur Annullierung des Vertrages von Brest-Litowsk führte. Bis dahin hatte Lenins »revolutionäre Realpolitik« (Georg Lukács), die über die revolutionäre Phrase gesiegt hatte, der Sowjetmacht das Überleben gesichert.



1 Die Zeitangaben folgen durchgängig dem neuen (gregorianischen) Kalender, der am 14. Februar 1918 eingeführt wurde und die vorrevolutionäre julianische Zeitrechnung ablöste; diese »hinkte« jenem 13 Tage hinterher.

2 zit. nach: William Henry Chamberlin: Die Russische Revolution, Erster Band, Frankfurt/Main 1958, S. 361 f.

3 Illustrierte Geschichte der Russischen Revolution 1917, Berlin 1928, S. 503

4 Leo Trotzki: Von der Oktoberrevolution bis zum Brester Friedensvertrag, Frankfurt/Main 1983, S. 112

5 Leo Trotzki: Mein Leben, Berlin 1930, S. 368 f.

6 zit. nach: Sebastian Haffner: Der Teufelspakt, Reinbek bei Hamburg 1968, S. 30

7 Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band IX, Berlin/DDR 1971, S. 440

8 a.a.O., S. 443f.