Der „Eingekerkerte“
Vor 175 Jahren scheiterte in Paris eine Verschwörung
um Auguste Blanqui
Von Nick
Brauns
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Den am Sonntag nichtsahnend durch
die Pariser Innenstadt flanierenden Bürgern bot sich ein eigentümliches
Schauspiel. Vor ihren Augen stürmten an jenem 12. Mai 1839 mehrere hundert
Männer ein Waffenlager, verteilten die Gewehre und zogen anschließend unter dem
Absingen republikanischer Lieder zur Polizeidirektion. Nachdem sie dort auf
Widerstand gestoßen waren, besetzten sie das Rathaus.
Doch der mit den Worten »Zu den Waffen, Bürger! Die Schicksalsstunde der
Unterdrücker hat geschlagen« beginnende Appell einer »Provisorischen Regierung«
verhallte bei den überraschten Parisern, die die Straße mit Beginn der
Schießereien fluchtartig verlassen hatten, ohne jede Resonanz. Als der
isolierte Aufstand am folgenden Tag zusammenbrach, waren knapp 80 Todesopfer zu
beklagen. Die Führer des Putsches, Armand Barbé und
Auguste Blanqui, wurden zuerst zum Tode verurteilt,
doch dann begnadigt und zu lebenslanger Zwangsarbeit auf die Gefängnisinsel Mont-Saint-Michel vor der Normandieküste
gebracht.
Organisierte Minderheit
Blanqui galt im Frankreich des 19. Jahrhunderts bei
Freunden wie Feinden als die Verkörperung des sozialistischen Revolutionärs
schlechthin. Der 1805 als Sohn eines früheren Abgeordneten des
Revolutionskonvents Geborene beteiligte sich schon während seines Jura- und
Medizinstudiums an den Aktivitäten der radikal-republikanischen Opposition gegen
die restaurative Bourbonen-Monarchie. Mit der Waffe in der Hand stand er
während der dreitägigen Pariser Julirevolution 1830, die König KarlX. außer Landes trieb, auf den Barrikaden. Doch schnell
erkannte er, daß das einfache Volk durch den
nachfolgenden, sich auf die liberale Bourgeoisie stützenden »Bürgerkönig«
Louis-Philippe um die Früchte seines Kampfes betrogen wurde. »Jawohl, meine
Herren, dies ist der Krieg zwischen den Reichen und den Armen«, warf der 1832
wegen staatsfeindlicher Umtriebe verhaftete Blanqui
seinen Richtern entgegen, »die Reichen haben ihn also gewollt, denn sie sind
der Angreifer«. Von Gefängnisaufenthalten unterbrochen stürzte sich Blanqui in das Organisieren von Verschwörerbünden,
in denen Arbeiter, Handwerker, kleine Ladenbesitzer, Soldaten und Studenten
unter dem Kommando eines von ihm und Barbé geleiteten
Zentralkomitees den bewaffneten Aufstand vorbereiteten.
Die rund 1000köpfige »Gesellschaft der Jahreszeiten«, die den Aufstand vom 12.
Mai 1839 durchführte, bestand aus streng hierarchisch organisierten Gruppen,
die in Wochen, Monate und Jahre unterteilt waren. Sechs Mitglieder bildeten
jeweils eine »Woche« unter Leitung eines »Sonntag«, vier Gruppen einen »Monat«
unter Leitung eines »Juli«. Blanqui setzte auf einen
Handstreich entschlossener Berufsrevolutionäre, um so einen Volksaufstand
auszulösen, der zur Errichtung einer Diktatur führen sollte. »Das Volk wird für
einige Zeit eine revolutionäre Führungsmacht nötig haben, die es in die Lage
versetzt, seine Rechte auszuüben«, rechtfertigte Blanqui
eine solche Herrschaft der revolutionären Elite, die die Reichen enteignen, das
Steuer- und Bankensystem sozial umgestalten, allgemeine Gleichberechtigung
durchsetzen und das bis dahin von seinen Ausbeutern unwissend gehaltene Volk zum
Gemeinschaftssinn erziehen sollte. »Zielen wir zunächst auf den Aufstand ab:
mehr Leidenschaft! Die Doktrinen behalten wir für später«, verwarf Blanqui den theoretischen Diskurs zugunsten der Tat. So
unscharf seine Sozialismusvorstellungen blieben, so
detailliert arbeitete er in seinen »Instruktionen für den Aufstand« die
technische Seite des Griffs zu den Waffen aus.
Zeitgenossen
schilderten den gerade einmal 143 Zentimeter kleinen, stets schwarz
gekleideten, in Haft frühzeitig ergrauten, streng vegetarisch lebenden
Revolutionär als furchteinflößende Gestalt. „Sein Blick war so düster und seine
Stimme so mild, daß man vor ihm von Panik ergriffen
wurde“, schrieb der mit Blanqui durchaus
sympathisierende Schriftsteller Victor Hugo, der in dessen stechenden Augen die
Schrecken der Jakobinerdiktatur wiederzuerkennen glaubte. „Ein entsetzlicher
Mensch, düsteren Geschicken geweiht, der das Aussehen eines grauenerregenden
Gespenstes hatte, wenn er sich der Vergangenheit erinnerte, und das eines
Dämons, wenn er an die Zukunft dachte.“
Geschichte lehrt Gegenteil
1847 kam Blanqui nach achteinhalbjähriger
Kerkerhaft durch einen – von ihm energisch zurückgewiesenen – Gnadenakt des
Königs frei. Als im folgenden Jahr die Arbeiter von Paris in der Februarrevolution die Monarchie stürzten, eilte er in die
Hauptstadt, wo er nach den Worten von Karl Marx »zum wirklichen Führer der
proletarischen Partei« wurde.
Da das Volk für sozialistische Forderungen noch nicht »reif« sei, trat Blanqui für ein Programm der Verteidigung demokratischer
Freiheiten ein. Erst wenn die Massen die Erfahrung machten, daß
die aus der Revolution hervorgegangene provisorische Regierung ihren Freiheiten
im Wege steht, öffne sich die Tür für eine weitergehende sozialistische
Mobilisierung, war seine Überzeugung. Angesichts des rückständigen Bewußtseins der provinziellen Bevölkerung wandte sich der
Revolutionär gegen die Durchführung von allgemeinen Wahlen, die er in dieser
Situation als »Gefahr für die Republik« bezeichnete. Nach einer Rede auf einer
Kundgebung gegen die Nationalversammlung wurde er, dessen im »Zentralen
Republikanischen Klub« organisierte Anhänger angesichts der drohenden
Gegenrevolution von der Massenpolitik zur Geheimbündelei zurückgekehrt waren,
am 26. Mai 1848 erneut verhaftet und zu zehn Jahren Haft verurteilt.
Als das Volk von Paris in Folge des deutsch-französischen Krieges 1871 die
Macht ergriff, erlangten Blanquis Schüler
Schlüsselpositionen im Militär-, Polizei- und Justizapparat der Commune. Friedrich Engels nannte es eine »Ironie der
Geschichte«, daß die Blanquisten,
indem sie eben nicht durch eine Verschwörung, sondern durch eine revolutionäre
Massenbewegung an die Macht gelangt waren, »das Gegenteil von dem taten, was
ihre Schuldoktrin vorschrieb«. Die Kommunarden ernannten den wenige Tage vor
seiner Wahl in die Commune in der Provinz verhafteten
Blanqui zu ihrem Ehrenpräsidenten. Die gegenrevolutionäre
Regierung in Versailles schlug im Wissen um den hohen Symbolwert Blanquis dessen Austausch gegen Geiseln einschließlich des
Erzbischofs von Paris aus. Während Marx die auf Rätestrukturen basierende Commune als »die endlich entdeckte politische Form, unter
der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen konnte«, rühmte,
spielte die Pariser Erfahrung für den erneut eingekerkerten Blanqui
kaum eine Rolle.
Im Gefängnis beschäftigte sich der alte und kranke Revolutionär nun mit
philosophischen Fragen der Kosmologie und Astronomie. Wieder in Freiheit gab er
eine Zeitung mit dem programmatischen Titel Ni Dieu ni Mâitre
(Weder Gott noch Herrscher) heraus. Während einer Agitationsrede vor Pariser
Arbeitern erlitt der 75jährige einen Schlaganfall, er starb kurz darauf am 1.
Januar 1881. Fast 200000 Proletarier gaben dem »Eingekerkerten« – wie sie den
unbeugsamen Revolutionär, der fast die Hälfte seines Lebens hinter Gittern
verbracht hatte, ehrfurchtsvoll nannten – das letzte Geleit zum Friedhof Père-Lachaise.
(Erschien leicht
gekürzt unter dem Titel „Falsche Taktik“ in junge Welt 10.Mai 2014)
Quellentext. Friedrich Engels über Blanqui
als Mann der Tat
Blanqui ist wesentlich politischer
Revolutionär, Sozialist nur dem Gefühl nach, mit den Leiden des Volks
sympathisierend, aber er hat weder eine sozialistische Theorie noch bestimmte
praktische Vorschläge sozialer Abhülfe. In seiner politischen Tätigkeit war er
wesentlich »Mann der Tat«, des Glaubens, daß eine
kleine wohlorganisierte Minderzahl, die im richtigen Moment einen
revolutionären Handstreich versucht, durch ein paar erste Erfolge die
Volksmasse mit sich fortreißen und so eine siegreiche Revolution machen kann.
Diesen Kern konnte er unter Louis-Philippe natürlich nur als geheime
Gesellschaft organisieren, und da passierte denn, was gewöhnlich bei
Verschwörungen passiert: Die Leute, überdrüssig des ewigen Hinhaltens mit
leeren Versprechungen, es werde nun bald losgehen, verloren zuletzt ganz die
Geduld, wurden rebellisch, und so blieb nur die Wahl: entweder die Verschwörung
zerfallen zu lassen oder ohne allen äußeren Anlaß loszuschlagen.
Man schlug los (12. Mai 1839) und wurde im Nu erdrückt.
Übrigens war diese Blanquische Verschwörung die
einzige, in der die Polizei nie Fuß fassen konnte; der Schlag kam ihr wie aus heiterm Himmel. – Daraus, daß Blanqui jede Revolution als den Handstreich einer kleinen
revolutionären Minderzahl auffaßt, folgt von selbst
die Notwendigkeit der Diktatur nach dem Gelingen: der Diktatur, wohlverstanden,
nicht der ganzen revolutionären Klasse, des Proletariats, sondern der kleinen
Zahl derer, die den Handstreich gemacht haben und die selbst schon im voraus wieder unter der Diktatur eines oder einiger
weniger organisiert sind.
aus: Marx-Engels-Werke, Band 18, Seite 529