Aus: Ausgabe vom 06.03.2021, Seite 15 / Geschichte
PUTSCH IN DER
TÜRKEI
Aus dem Gleichgewicht
Vor 50 Jahren zwang die Armee in der
Türkei die Regierung zum Rücktritt. Linke Guerillagruppen nahmen den Kampf auf
Von Nick Brauns
Am 12. März 1971 erzwang der türkische
Generalstab mit einem Memorandum den Rücktritt der konservativen Regierung von
Ministerpräsident Süleyman Demirel, die für »Anarchie, Bruderzwist sowie
soziale und wirtschaftliche Zerrüttung« verantwortlich gemacht wurde. Die
Militärs übertrugen die Regierung bis zur Abhaltung von Neuwahlen Ende 1973
einem Technokratenkabinett unter dem neuen
Ministerpräsidenten Nihat Erim.
Ein Großteil der Linken der Türkei –
einschließlich der Führung des Bundes der Revolutionären Arbeitergewerkschaften
(DISK) – hatte den unblutigen Putsch anfangs begrüßt. Schließlich hatte die
Armee bereits 1960 die reaktionäre Regierung von Adnan Menderes gestürzt und
mit einer anschließend vorgelegten fortschrittlichen Verfassung den rechtlichen
Rahmen für den nachfolgenden Aufschwung einer sozialistischen Bewegung gegeben.
Vordenker der türkischen 68er Studentenbewegung wie der alte Kommunist Mihri Belli vertraten die These,
dass angesichts der numerischen Schwäche der Arbeiterklasse in dem noch
unterentwickelten Land eine Junta aus Armee und sozialistischen Intellektuellen
die Macht übernehmen sollte. Doch inzwischen hatte sich der Klassencharakter
des Offizierskorps gewandelt, das sich 1960 noch aus schlecht besoldeten, aber
patriotisch gesinnten Söhnen der unteren Volksklassen zusammengesetzt hatte.
Über den mit Hilfe von US-Beratern geschaffenen Pensionsfonds der Streikkräfte
(OYAK), der Anteile an den wichtigsten Industrien des Landes besaß, waren die
Offiziere und Generäle Teil der besitzenden Klassen geworden, deren Interessen
sie fortan verteidigten. »Die soziale Bewusstwerdung hatte die Möglichkeit
unserer Ökonomie überschritten«, rechtfertigte einer der Putschgeneräle, Semih
Sancar, später das Eingreifen der Armee.
Repressionen
gegen Linke
Der Putsch von 1971 erfolgte vor dem
Hintergrund anwachsender Arbeiterproteste, die im Juni 1970 in einem
zweitägigen Generalstreik in Istanbul gipfelten, einer Radikalisierung der
Studentenbewegung, wachsender Unzufriedenheit der Landbevölkerung über das
Ausbleiben einer Bodenreform sowie des Beginns einer kurdischen
Nationalbewegung. Unmittelbarer Auslöser der Militärintervention war die
Absicht des Generalstabs, einem Komplott jüngerer linksgerichteter Offiziere
zuvorzukommen, die den Austritt aus der NATO und einen staatssozialistischen
Entwicklungsweg anstrebten.
Innerhalb weniger Tage zerschlug sich im
März 1971 der Mythos vom »revolutionären Potential« der kemalistischen Armee.
Denn unter dem Kriegsrecht setzte eine systematische Verfolgung der Linken mit
Masseninhaftierungen von Gewerkschaftern, Studenten und kurdischen Aktivisten
ein. Die Föderation der Revolutionären Jugend (Dev
Genc) als wichtigste Trägerin der 68er Radikalisierung wurde verboten. Die
Arbeiterpartei der Türkei (TIP), die Mitte der 60er Jahre als erste
sozialistische Partei ins Parlament eingezogen war, wurde vom Verfassungsgericht
wegen »Verstoßes gegen die Unteilbarkeit der Nation« verboten, da sie die
Rechte der kurdischen Nation eingefordert hatte.
Scharf verfolgt wurden insbesondere die
Anhänger von zwei aus der Dev Genc hervorgegangenen
Guerillagruppen, die kurz vor dem Putsch begonnen hatten, mit Banküberfällen
und Entführungen ihre Revolutionskassen zu füllen. Einige Mitglieder dieser vom
Maoismus und der lateinamerikanischen Guerilla beeinflussten Gruppen hatten
eine Kampfausbildung in Camps der Palästinensischen Befreiungsorganisation
(PLO) absolviert.
In der Türkei herrschte aufgrund ihrer
Abhängigkeit vom Imperialismus ein »künstliches Gleichgewicht« zwischen den
Volksmassen und der Oligarchie; der bewaffnete Kampf sollte diese Balance
erschüttern und zu einer revolutionären Situation führen. So beschrieb der
vormalige Studentenführer Mahir Cayan die Strategie
der von ihm mitbegründeten Volksbefreiungspartei-Front der Türkei (THKP-C).
Demgegenüber propagierte die gleichfalls mehrheitlich aus Studenten gebildete
Volksbefreiungsarmee der Türkei (THKO) einen antiimperialistischen
Befreiungskampf in Form eines ländlichen Volkskriegs nach maoistischem Muster.
Todesurteile
Vier von der THKO verschleppte
US-Soldaten kamen im März 1971 ohne Zahlung des geforderten Lösegelds
unversehrt wieder frei. Doch die bereits kurz nach dem Putsch in Gefangenschaft
geratenen THKO-Militanten Deniz Gezmis, Yusuf Aslan
sowie Hüseyin Inan wurden am 9. Oktober 1971 von einem Militärgericht zum Tode
verurteilt. »Ich wollte nichts außer der Unabhängigkeit der Türkei«,
rechtfertigte Gezmis in seinem Schlussplädoyer den
Kampf gegen »den amerikanischen Imperialismus und seine Kollaborateure«. Die
Todesurteile wurden im folgenden Jahr von der konservativen Parlamentsmehrheit
bestätigt.
Einige Wochen nachdem ein Kommando der
THKP-C im Mai 1971 den israelischen Generalkonsul Ephraim Elrom
in Istanbul entführt und angesichts drohender Entdeckung durch die Polizei
getötet hatte, wurde Cayan gefasst. Doch ihm gelang
mit weiteren Revolutionären die Flucht aus dem Militärgefängnis durch einen
selbstgegrabenen Tunnel. Um ihre zum Tode verurteilten Genossen freizupressen,
entführte ein gemeinsames zehnköpfiges Kommando von THKP-C und THKO unter
Leitung von Cayan im März 1972 drei britische und
kanadische Techniker einer NATO-Radarstation am Schwarzen Meer. Nur der
THKP-C-Aktivist Ertugrul Kürkcü überlebte, als die
Armee das Gebäude in der Ortschaft Kizildere, in dem
sich die Revolutionäre mit ihren Geiseln verschanzt hatten, bombardierte. Die
Todesurteile gegen Gezmis, Aslan und Inan wurden am
6. Mai 1972 im Zentralgefängnis von Ankara durch Hängen vollstreckt. »Es lebe
der Marxismus-Leninismus! Es lebe der Unabhängigkeitskampf des türkischen und
des kurdischen Volkes«, soll Gezmis kurz vor seiner
Hinrichtung ausgerufen haben. Mit der maoistischen
TKP/ML schickte sich 1972 eine weitere bewaffnete Organisation an, im kurdisch-alevitisch geprägten Dreieck Malatya–Elazig–Dersim »Rebellengebiete« zu schaffen. Ihr erst 24jähriger
Gründer Ibrahim Kaypakkaya starb am 18. Mai 1973 an
den Folgen der Folter im Gefängnis von Diyarbakir.
Militärisch waren alle drei linken
Guerillagruppen nach rund zwei Jahren bewaffneten Kampfes aufgerieben. Doch der
Mythos ihrer in jungen Jahren für ihre Ideale gestorbenen Anführer hat neue
Generationen von radikalen Linken in der Türkei und Kurdistan bis heute
nachhaltig geprägt.
Das Erbe der
Revolutionsbewegung von 1971
Ein Großteil der politischen Gefangenen war durch eine Amnestie
1974 freigekommen. In der zweiten Hälfte der 70er Jahre gelangten
Organisationen wie der »Revolutionäre Weg« (Dev Yol), die sich als Erben der 71er Revolutionsbewegung
verstanden, vorübergehend zu Masseneinfluss, ehe sie nach dem nächsten
Militärputsch vom 12. September 1980 blutig zerschlagen wurden.
Für Abdullah Öcalan, den späteren Gründer der Arbeiterpartei
Kurdistans (PKK) wurde das Kizildere-Massaker zu
einem Wendepunkt in seinem Leben. Er wurde damals in Folge eines von ihm in
Ankara deswegen organisierten Studentenprotestes für sieben Monate inhaftiert.
Öcalan hat später betont, das Andenken von Mahir Cayan
und seinen Genossen lebe im kurdischen Freiheitskampf weiter. So erscheint es
konsequent, dass sich 2016 mehrere aus der Tradition der Revolutionsbewegung
der 70er Jahre kommende kommunistische Parteien mit der PKK zu einer
Guerillaallianz zusammengeschlossen haben, um gemeinsam den Kampf gegen das
islamistisch-faschistische AKP-MHP-Regime zu führen.
Die heute mit einem Auftrittsverbot
belegte bekannteste linksradikale Musikformation der Türkei, Grup Yorum, sieht ihre Wurzeln in
der Bewegung um Mahir Cayan und Deniz Gezmis. Mit seinem Schwur für eine »völlig unabhängige
Türkei« bietet der hingerichtete Studentenführer Gezmis
indessen auch Identifikationsmöglichkeiten für Kemalisten. In mehreren von der
Oppositionspartei CHP regierten Gemeinden in der Westtürkei wurden daher
Denkmäler für Gezmis und seine Genossen errichtet. In
vielen alevitischen Haushalten hängt derweil das
ikonische Foto von Gezmis im Parka mit Pelzkragen in
einer Reihe mit Bildern von Che Guevara und dem Imam
Ali.
Nick Brauns