junge Welt 21.12.2007 / Thema / Seite 10


Attacke auf das Kapital

Serie: 90 Jahre Oktoberrevolution. Die Ausbreitung der Sowjetmacht in Rußland im Herbst und Winter 1917

Von Nick Brauns

In der Nacht des 7. November hatte die sozialistische Oktoberrevolution mit dem Sturm auf den Winterpalast und der Verhaftung der Provisorischen Regierung gesiegt (siehe jW v. 7.11.2007, S. 10/11). Doch noch beschränkte sich die Sowjetmacht auf Petrograd, und die Gegenrevolution marschierte bereits. Der gestürzte Ministerpräsident Alexander Kerenski rückte am 9. November mit einer Kosakenarmee auf Petrograd vor. Hier in der Hauptstadt kam es am 11. November zum Aufstand von Offiziersschülern, der in blutigen Kämpfen von Rotgardisten und Matrosen niedergeworfen wurde. Auch der Vormarsch der Kosaken scheiterte an der ausbleibenden Unterstützung von der Front und der zähen Verteidigung Petrograds durch revolutionäre Truppen. Kerenski konnte entkommen und wurde mit Hilfe eines britischen Geheimagenten aus Rußland geschleust. Gegenüber seinem General Pjotr N. Krasnow ließen die Revolutionäre Milde walten. Auf sein Ehrenwort, nicht wieder gegen die Revolution zu kämpfen, wurde er freigelassen. Wortbrüchig setzte er sich zum Don ab und führte ab dem Frühjahr eine antibolschewistische Kosakenbewegung an.

In Moskau, dem Zentrum des traditionellen Rußland, war der Aufstand ungenügend vorbereitet und der Kampf um die Rätemacht bei weitem blutiger als in Petrograd. Die Gegner der Bolschewiki hatten sich um ein »Komitee für öffentliche Sicherheit« geschart, das vom Moskauer Bürgermeister Rudnew, Mitglied der Partei der rechten Sozialrevolutionäre, geleitet wurde. Offiziersschüler setzten Panzerwagen ein, Rotgardisten hatten Schützen auf den Hausdächern postiert. Die Kämpfe zogen sich eine Woche hin. Am Morgen des 14. Dezember waren Offiziersschüler in den Kreml eingedrungen und hatten ein Blutbad unter den dort stationierten Soldaten angerichtet, die mit den Bolschewiki sympathisierten. Nun beschossen die Revolutionäre auch den Kreml mit Artillerie. Nach dem Sturm dieses wichtigsten historischen Denkmals des alten Rußland am folgenden Tag erklärte sich das »Komitee für öffentliche Sicherheit« zu einem Waffenstillstand bereit. Die Offiziere und Junker mußten einen Teil ihrer Waffen abgeben, wurden aber nicht arretiert. 500 Revolutionäre waren in den Kämpfen für die Sowjetmacht in Moskau gefallen. Sie wurden, geleitet von 50 000 Menschen, in einem Grab auf dem Roten Platz beigesetzt. »Die Lichter erloschen. Das letzte Banner zog vorüber, die letzte schluchzende Frau blickte noch einmal starr zurück. Langsam verebbte auf dem großen Platz die proletarische Flut«, schildert der US-amerikanische Journalist John Reed seine Eindrücke. »Plötzlich wurde mir klar, daß das fromme russische Volk keine Priester mehr brauchte, um sich das Himmelreich zu erflehen. Auf Erden bauten sie an einem Reich, schöner, als es der Himmel je sein konnte, und für ein solches Reich lohnt es sich, zu sterben.«1

Der Übergang der Macht an die Sowjets vollzog sich nun im ganzen Land. Insbesondere in Industriestädten wie dem als russisches Manchester geltenden Iwanowo-Wosnessensk und in Wladimir ging die Macht problemlos auf die Räte über, während in den Wolgastädten Kasan und Saratow Junker und Anhänger der Provisorischen Regierung bewaffneten Widerstand leisteten. Im Ural und Sibirien wurde das Sowjetsystem meist ohne größeren Widerstand durchgesetzt. In nichtindustriellen Provinzzentren wie Lenins Geburtsstadt Simbirsk oder Pensa zog sich die Errichtung der Sowjetmacht bis Dezember hin. Taschkent, die Hauptstadt von Russisch-Zentralasien, wurde eine von Kosaken und Stammeskriegern attackierte rote Insel. Während die Erdölstadt Baku unter bolschewistischer Kontrolle stand, setzten sich in der georgischen Hauptstadt Tbilissi die dortigen nationalistisch ausgerichteten Menschewiki durch.

Rund einen Monat nach dem Sturm auf den Winterpalast hatten die Bolschewiki die wichtigsten Fronten und den Generalstab der Armee erobert und sich die Herrschaft über die entscheidenden Städte und Eisenbahnzentren des nördlichen und mittleren Rußland sowie von Sibirien weitgehend gesichert. Zentren der Gegenrevolution bildeten sich nach der Niederschlagung eines bolschewistischen Aufstandes im Südwesten um das Kiewer Parlament, die »Zentral-Rada«, die an den Nationalismus der Ukrainer appellierte, sowie im Südosten in den Gebieten der Don-, Kuban- und Orenburgkosaken. In Rostow am Don versammelten sich Führer bürgerlicher Parteien, Offiziere, Aristokraten und Unternehmer. Ihre Hoffnung richteten sich auf den Ataman der Donkosaken, General Alexei M. Kaledin, der zusammen mit General Michail V. Alexejew und dem Putschistenführer Lawr G. Kornilow eine gegenrevolutionäre Freiwilligenarmee aufstellte.

Alleingang und Bündnisse

Eine Minderheit innerhalb der Führung der Bolschewiki forderte die Bildung einer Regierung, in die auch die sozialdemokratischen Menschewiki sowie die bäuerlichen Sozialrevolutionäre eintreten sollten. Doch Sozialrevolutionäre und Menschewiki verlangten die Absage an die Rätemacht und einen Rücktritt Lenins als Regierungschef. Die Mehrheit des Zentralkomitees der Bolschewiki hatte daher eine Resolution angenommen, wonach alle weiteren Verhandlungen zur Bildung einer gesamtsozialistischen Regierung nur zur Entlarvung dieser Parteien geführt werden sollten. Daraufhin erklärten am 17. November Grigori Sinowjew, Lew Kamenew, Alexej Rykow, Viktor Nogin und Wladimir Miljutin ihren Rücktritt aus dem ZK. Zugleich traten die drei letztgenannten sowie Iwan Theodorowitsch und Alexander Schlapnikow aus der Regierung aus und forderten eine gesamtsozialistische Regierung als einzige Alternative zur »durch politischen Terror im Amt gehaltene[n] rein bolschewistische[n] Regierung«.2 Lenin brandmarkte diese Opposition als »Deserteure und Streikbrecher« (LW, Bd. 26, S. 300). Kamenew wurde als Vorsitzender des Gesamtrussischen Zentralexekutivkomitees der Räte durch Jakow Michailowitsch Swerdlow ersetzt.

Die Voraussetzung für eine Erweiterung der Regierung um die Partei der Linken Sozialrevolutionäre wurde Ende November auf dem in Petrograd abgehaltenen zweiten Allrussischen Bauernkongreß gelegt. »Rechts sah man einige Offiziere und die patriarchalischen, bärtigen Gestalten der älteren und wohlhabenderen Bauern, im Zentrum waren einige wenige Bauern, Unteroffiziere und ein paar Soldaten, während die Delegierten auf der Linken fast ohne Ausnahme die Uniformen einfacher Soldaten trugen«,3 beschrieb John Reed die geänderte soziale Zusammensetzung des Kongresses gegenüber dem vorangegangenen Bauernkongreß, auf dem Intellektuelle und Großbauern den Ton angegeben hatten. Über die Hälfte der Delegierten gehörten den Linken Sozialrevolutionären an, während die Bolschewiki nur ein knappes Fünftel hinter sich hatten und die rechten Sozialrevolutionäre ein Viertel. Es kam zu heftigen Debatten zwischen Lenin, dem ehemaligen Landwirtschaftsminister der Provisorischen Regierung Viktor M. Tschernow und der Führerin der Linken Sozialrevolutionäre Maria Spiridonowa. Die unscheinbare, blasse und bebrillte Spiridonowa war nach einem Attentat auf einen zaristischen General lange inhaftiert worden und galt als die einflußreichste Frau Rußlands. Lenin, dessen Reden immer wieder von Protestrufen unterbrochen wurden, betonte die Bedeutung des unmittelbar nach dem Oktoberaufstand vom Allrussischen Kongreß der Arbeiter- und Soldatenräte nach dem Wunsch der Bauern erlassenen Dekrets über Grund und Boden und konstatierte, daß das Recht der Arbeiter zur Übernahme der Fabriken genauso legitim sei wie das Recht der Bauern zur Aufteilung des Landes. Nach dem Austritt der konservativen Delegierten stellte sich der Bauernkongreß schließlich hinter die Sowjetmacht und wählte ein neues Exekutivkomitee, daß mit dem Gesamtrussischen Zentralexekutivkomitee der Arbeiter- und Soldatenräte verschmolz. Am 22. Dezember erklärten die Linken Sozialrevolutionäre ihre Bereitschaft, dem Rat der Volksbeauftragten beizutreten. Andrej Kolegajew übernahm das Landwirtschaftsressort, Isaak Steinberg wurde Volkskommissar für Justiz und der Armenier Prosch Pertschewitsch Proschjan Kommissar für Post und Telegraphenwesen. Die Linken Sozialrevolutionäre verließen die Regierung allerdings im März 1918 aus Protest gegen die Unterzeichnung des Diktatfriedens von Brest-Litowsk wieder.

Behinderungen durch Staatsdiener

Gefährlicher als die sich erst formierende militärische Bedrohung waren in den ersten Wochen der Revolution Boykott und Sabotage der Staatsbürokratie sowie künstlich geschürte Unruhen krimineller Elemente. So erklärte das Komitee des Verbandes der Staatsangestellten zwei Tage nach der Oktoberrevolution: »Wir halten es nicht für möglich, unsere Erfahrungen, unsere Kenntnisse und den Verwaltungsapparat solchen Gewalttätern zu übergeben«4 – gemeint war die Sowjetregierung. Der Streik der Regierungsbeamten wurde von Banken und Handelshäusern finanziert. In den Ministerien trafen die Volkskommissare auf verschlossene Büros, wichtige Dokumente waren entfernt und Tresore leergeräumt worden. Alexandra Kollontai, Volkskommissarin für soziale Fürsorge und weltweit die erste Frau im Ministerrang, wurde mit einem Streik ihres Ministeriums konfrontiert, während zahllose Delegationen ausgehungerter Krüppel und Waisen das Gebäude umlagerten. Mit Tränen in den Augen ordnete Kollontai die Verhaftung der Streikenden an, bis sie die Schlüssel für den Tresor erhielt. Doch die bisherige Leiterin des Geschäftsbereichs, eine Gräfin Sofia Panina, hatte die Gelder bereits beiseite geschafft.

Während große Geldsummen an das gegenrevolutionäre »Komitee zur Rettung des Vaterlandes« ausgezahlt wurden, weigerte sich die Staatsbank, Forderungen der Sowjets zu erfüllen. Den Fabriken drohten durch die Sabotage der Bourgeoisie die Brennstoffe auszugehen und Petrograd die Lebensmittel. Dazu kamen die sogenannten Weinpogrome. Weinkeller in der ganzen Stadt wurden geplündert, betrunkene Soldaten lungerten auf den Straßen herum, antisowjetische Flugblätter wurden verteilt. Allein in der Nacht zum 17. Dezember kam es zu mehr als 60 derartigen Zwischenfällen. Es stellte sich heraus, daß die Kadettenpartei5 eine Organisation geschaffen hatte, um Unruhe unter Soldaten zu stiften und diesen die Standorte der Weinkeller verriet. Das Zentrale Exekutivkomitee setzte einen außerordentlichen Militärkommissar zur Bekämpfung der Trunkenheit ein, der Plünderungen mit Waffengewalt niederschlagen und Weinkeller mit Dynamit zerstören ließ. Mit eiserner Selbstdisziplin verschütteten Kronstädter Matrosen auserlesenste Weine im Wert von fünf Millionen Dollar aus den Kellereien des Winterpalastes.

Über Petrograd wurde der Belagerungszustand verhängt, Rotgardisten mit Panzerwagen versahen Streifendienst in den Straßen. »Zum Kampf gegen Konterrevolutionäre und Saboteure sind außerordentliche Maßnahmen notwendig«, schrieb Lenin an Felix E. Dzierzynski (LW 26, S. 372). Der erfahrene polnische Bolschewik, der jahrelang in den Kerkern des Zaren gefangen war, wurde mit dem Aufbau einer »Außerordentlichen Kommission für den Kampf gegen die Konterrevolution und Sabotage« – kurz Tscheka – beauftragt. Diese mit nur wenigen Mitteln und einem kleinen Stab ausgestattete Polizei hatte anfangs kaum Gemeinsamkeiten mit dem später gefürchteten Geheimdienst. Die wenigen von ihr verhängten Todesstrafen betrafen Banditen, nicht politische Oppositionelle. Presseorgane, die zum offenen Widerstand gegen die Arbeiter- und Bauernregierung aufriefen oder durch verleumderische Entstellungen Verwirrung stifteten, wurden verboten. Zugleich betonte das entsprechende Dekret, daß es sich bei der Zensur um eine Ausnahmemaßnahme handeln sollte. »Sobald die neue Ordnung sich gefestigt haben wird, werden jegliche administrative Einwirkungen auf die Presse eingestellt werden.«6

Komitees leiten Fabriken

Die Sowjetregierung verordnete den Acht-Stunden-Arbeitstag und die allgemeine Arbeitspflicht für alle Bürger zwischen 16 und 55 Jahren. Angehörige der reichen Klassen mußten ein Budget- und Arbeitsbuch führen. »Personen, die sich des Betrugs am Staate und am Volke schuldig machen, werden mit Konfiskation ihres gesamten Vermögens bestraft«, heißt es im Dekret: »Zur gleichen Strafe sowie zu Gefängnishaft, Abtransport an die Front oder Zwangsarbeit werden alle Personen verurteilt, die diesem Gesetz zuwiderhandeln, wie auch Saboteure, streikende Beamte und Spekulanten« (LW 26, S. 391).

Die alten Gesetze galten nur insoweit, »als sie von der Revolution nicht abgeschafft wurden und dem revolutionären Gewissen und Rechtsbewußtsein nicht widersprachen«.7 Der Rat der Volkskommissare ließ die alten Gerichtsinstitutionen abschaffen und gewählte Arbeiter- und Bauerntribunale bilden. Der erste Prozeß vor dem Petrograder Revolutionstribunal betraf die Gräfin Sofia Panina wegen der Unterschlagung von Geldern der öffentlichen Wohlfahrt. Das Tribunal erklärte Panina für schuldig, beschränkte sich aber auf einen öffentlichen Tadel und entließ sie aus der Haft, sobald die Gelder zurückgegeben waren.

Das Besitzrecht an großen Mietshäusern wurde abgeschafft, die Häuser wurden von den Mietern gewählten Hauskomitees unterstellt. Schon, um zu verhindern, daß die Bourgeoisie ihr Vermögen zur Finanzierung der Konterrevolution verwendet, wurde am 27. Dezember das Bankwesen zum Staatsmonopol erklärt; die Privatbanken wurden mit der Staatsbank zur einheitlichen Volksbank vereinigt. Die Besitzer von Banksafes mußten diese zur Inspektion öffnen, Goldbesitz wurde vom Staat übernommen. Dividendenzahlungen und Aktiengeschäfte wurden verboten, und am 10. Februar annullierte ein Dekret die Schulden der russischen Regierung. Ausländische Anleihen wurden »unbedingt und ohne Ausnahme« für nichtig erklärt.

Zwecks planmäßiger Regulierung der Volkswirtschaft war durch das Dekret über die Arbeiterkontrolle vom 27. November Fabrikkomitees die Macht über Produktion, Kauf und Verkauf sowie die Finanzen aller Unternehmen übergeben worden, die Lohnarbeiter beschäftigten. Ein Oberster Wirtschaftsrat wurde eingesetzt, der das Recht hatte, Industrieunternehmen zu enteignen. Firmen, die sich der Arbeiterkontrolle der Produktion nicht unterwerfen wollten, wurden grundsätzlich beschlagnahmt. Eingeleitet wurde die Nationalisierung der Industrie mit der Beschlagnahmung der Likin-Manufaktur. Es folgten mehrere Bergwerksaktiengesellschaften, das Flugzeugwerk Antara in Simferopol und die Petrograder Putilow-Werke. Die völlige Verstaatlichung der Industrie erfolge erst im Sommer 1918.

Um die Finanznot der Räte zu bekämpfen, kam es zu einer regelrechten »rotgardistischen Attacke gegen das Kapital«8, wie Lenin es formulierte. Der Kommandant der Roten Partisanenarmee im Süden, Wladimir A. Antonow-Owsejenko, ließ beispielsweise 15 reiche Bürger Charkows in einen Eisenbahnzug einsperren und drohte ihnen Deportation in die Donezbergwerke an, wenn sie nicht die von den Arbeitern als Weihnachtsgeld verlangte eine Million Rubel zahlten.

Mit der Deklaration über die Rechte der Völker Rußlands löste die Sowjetmacht am 15. November ein weiteres wesentliches Versprechen der Revolu­tion ein. Die einstmals vom Zarismus unterdrückten Völker hatten nun das Recht auf Selbstbestimmung bis zur Lostrennung und Bildung eines eigenen Staates. Gleichzeitig warb die Sowjetregierung um einen Bund, durch den »die Arbeiter und Bauern der Völker Rußlands zu einer einzigen revolutionären Kraft zusammengeschweißt werden, fähig, allen Anschlägen der imperialistischen, annexionistischen Bourgeoisie zu widerstehen«.9

Kulturelle Befreiung

In einem Aufruf an alle »werktätigen Muslime Rußlands und des Ostens« wurde diesen die Achtung ihrer Religion und Kultur zugesichert. Gleichzeitig wurden sie zum Kampf gegen koloniale Unterdrückung an der Seite der Rätemacht aufgerufen. Gemäß dem Prinzip der Selbstbestimmung unterzeichnete der Rat der Volkskommissare am 31. Dezember das Dekret über die staatliche Unabhängigkeit Finnlands.

Auf kultureller Ebene war Rußland auf dem Stand des Mittelalters. Religion spielte eine große Rolle, das Bildungsniveau war extrem niedrig, 70 bis 80 Prozent der Bevölkerung waren Analphabeten. Die Sowjetmacht setzte hier eine Kulturrevolution in Gang. Bereits am Tag nach der Oktoberrevolution hatte Lenin den bekannten marxistischen Kulturpolitiker Anatoli W. Lunatscharski das Volkskommissariat für »Aufklärung« mit den Worten anvertraut, seine Hauptaufgabe liege in der Bekämpfung des Analphabetentums. Dies sei noch keine politische Aufgabe, sondern vielmehr die Vorbedingung, um überhaupt über Politik sprechen zu können.

Das russische Alphabet wurde von überflüssigen Buchstaben und Zeichen bereinigt und der um dreizehn Tage hinter dem westlichen zurückliegende russische Kalender am 1. Februar 1918 abgeschafft. Die Sowjetregierung rief das Volk zum Schutz kultureller Reichtümer und Denkmäler auf. Ein Staatsverlag wurde mit der Herausgabe von Volksausgaben russischer Klassiker beauftragt. Selbst die Öffnungszeiten der Petrograder Stadtbibliothek fanden die Aufmerksamkeit Lenins. »Der Lesesaal der Bibliothek muß, wie es in allen Kulturstaaten in privaten Bibliotheken und Lesesälen für die Reichen Brauch ist, täglich, einschließlich der Sonn- und Feiertage, von acht Uhr morgens bis elf Uhr abends geöffnet sein« (LW 26, S. 328).

Neue Gesetze stellten die rechtliche Gleichheit zwischen Mann und Frau her. Lediglich Zivilehen wurden vom Staat anerkannt. Die Scheidung konnte auf Wunsch eines der beiden Ehepartner ausgesprochen werden. Uneheliche Kinder erhielten die gleichen Rechte wie ehelich gezeugte. Die feudale Ständegliederung und die Adelstitel wurden aufgehoben. Am 9. Februar 1918 wurde ein Gesetz zur völligen Trennung von Staat und Kirche sowie Schule und Kirche erlassen. Gleichzeitig garantierte ein Dekret, daß »jeder Bürger sich zu einer beliebigen Religion bzw. zu keiner Religion bekennen kann« und Diskriminierungen aufgrund des Glaubens unzulässig sind. Solche Aufgaben der bürgerlich-demokratischen Revolution wurden sozusagen als Nebenprodukt der sozialistischen Revolution gelöst. »In nur zehn Wochen«, schrieb Lenin, »haben wir auf diesem Gebiet tausendmal mehr geleistet, als die bürgerlichen Demokraten und Liberalen (die Kadetten) und die kleinbürgerlichen Demokraten (die Menschewiki und Sozialrevolutionäre) in acht Monaten ihrer Herrschaft geleistet haben.«10

Die Beschlüsse der ersten zweieinhalb Monate Sowjetmacht wurden Ende Januar 1918 vom III. Gesamtrussischen Sowjetkongreß in der »Deklaration der Rechte des werktätigen und ausgebeuteten Volkes« bestätigt. »Bei uns in Rußland ist jetzt auf innenpolitischem Gebiet die neue Staatsordnung der sozialistischen Sowjetrepublik endgültig als Föderation freier Republiken der verschiedenen Nationen Rußlands anerkannt«, resümierte Lenin (LW 26, S. 478). Die wichtigste Frage war nun die Sicherung des Friedens. Während erste Einheiten der zukünftigen Roten Armee gebildet wurden, begannen in Brest-Litowsk die Friedensverhandlungen mit den Vertretern der Achsenmächte Deutschland, Österreich-Ungarn, Osmanisches Reich und Bulgarien.



1 John Reed: 10 Tage, die die Welt erschütterten, Berlin 1957, S. 327

2 William H. Chamberlin: Die russische Revolution 1917–1921, Bd. 1, Frankfurt/Main 1958, S. 325

3 John Reed: 10 Tage, die die Welt erschütterten, S. 370

4 Albert Nenarokow: Geschichte der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution in Wort und Bild, Köln 1987, S.315

5 Die Konstitutionellen Demokraten, kurz KD und deshalb Kadetten genannt, repräsentierten das russische Großkapital.

6 John Reed: 10 Tage, die die Welt erschütterten, S. 447

7 William H. Chamberlin: Die russische Revolution 1917–1921, S. 333

8 Zitiert nach Albert Nenarokow: Geschichte der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution ..., S. 319

9 Ebd., S. 304

10 Zitiert nach Albert Nenarokow: Geschichte der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution ..., S. 315