junge Welt 21.12.2007 / Thema / Seite 10
In der Nacht des 7. November hatte die sozialistische
Oktoberrevolution mit dem Sturm auf den Winterpalast und der
Verhaftung der Provisorischen Regierung gesiegt (siehe jW v.
7.11.2007, S. 10/11). Doch noch beschränkte sich die Sowjetmacht
auf Petrograd, und die Gegenrevolution marschierte bereits. Der
gestürzte Ministerpräsident Alexander Kerenski rückte
am 9. November mit einer Kosakenarmee auf Petrograd vor. Hier in der
Hauptstadt kam es am 11. November zum Aufstand von Offiziersschülern,
der in blutigen Kämpfen von Rotgardisten und Matrosen
niedergeworfen wurde. Auch der Vormarsch der Kosaken scheiterte an
der ausbleibenden Unterstützung von der Front und der zähen
Verteidigung Petrograds durch revolutionäre Truppen. Kerenski
konnte entkommen und wurde mit Hilfe eines britischen Geheimagenten
aus Rußland geschleust. Gegenüber seinem General Pjotr N.
Krasnow ließen die Revolutionäre Milde walten. Auf sein
Ehrenwort, nicht wieder gegen die Revolution zu kämpfen, wurde
er freigelassen. Wortbrüchig setzte er sich zum Don ab und
führte ab dem Frühjahr eine antibolschewistische
Kosakenbewegung an.
In Moskau, dem Zentrum des traditionellen
Rußland, war der Aufstand ungenügend vorbereitet und der
Kampf um die Rätemacht bei weitem blutiger als in Petrograd. Die
Gegner der Bolschewiki hatten sich um ein »Komitee für
öffentliche Sicherheit« geschart, das vom Moskauer
Bürgermeister Rudnew, Mitglied der Partei der rechten
Sozialrevolutionäre, geleitet wurde. Offiziersschüler
setzten Panzerwagen ein, Rotgardisten hatten Schützen auf den
Hausdächern postiert. Die Kämpfe zogen sich eine Woche hin.
Am Morgen des 14. Dezember waren Offiziersschüler in den Kreml
eingedrungen und hatten ein Blutbad unter den dort stationierten
Soldaten angerichtet, die mit den Bolschewiki sympathisierten. Nun
beschossen die Revolutionäre auch den Kreml mit Artillerie. Nach
dem Sturm dieses wichtigsten historischen Denkmals des alten Rußland
am folgenden Tag erklärte sich das »Komitee für
öffentliche Sicherheit« zu einem Waffenstillstand bereit.
Die Offiziere und Junker mußten einen Teil ihrer Waffen
abgeben, wurden aber nicht arretiert. 500 Revolutionäre waren in
den Kämpfen für die Sowjetmacht in Moskau gefallen. Sie
wurden, geleitet von 50 000 Menschen, in einem Grab auf dem
Roten Platz beigesetzt. »Die Lichter erloschen. Das letzte
Banner zog vorüber, die letzte schluchzende Frau blickte noch
einmal starr zurück. Langsam verebbte auf dem großen Platz
die proletarische Flut«, schildert der US-amerikanische
Journalist John Reed seine Eindrücke. »Plötzlich
wurde mir klar, daß das fromme russische Volk keine Priester
mehr brauchte, um sich das Himmelreich zu erflehen. Auf Erden bauten
sie an einem Reich, schöner, als es der Himmel je sein konnte,
und für ein solches Reich lohnt es sich, zu sterben.«1
Der
Übergang der Macht an die Sowjets vollzog sich nun im ganzen
Land. Insbesondere in Industriestädten wie dem als russisches
Manchester geltenden Iwanowo-Wosnessensk und in Wladimir ging die
Macht problemlos auf die Räte über, während in den
Wolgastädten Kasan und Saratow Junker und Anhänger der
Provisorischen Regierung bewaffneten Widerstand leisteten. Im Ural
und Sibirien wurde das Sowjetsystem meist ohne größeren
Widerstand durchgesetzt. In nichtindustriellen Provinzzentren wie
Lenins Geburtsstadt Simbirsk oder Pensa zog sich die Errichtung der
Sowjetmacht bis Dezember hin. Taschkent, die Hauptstadt von
Russisch-Zentralasien, wurde eine von Kosaken und Stammeskriegern
attackierte rote Insel. Während die Erdölstadt Baku unter
bolschewistischer Kontrolle stand, setzten sich in der georgischen
Hauptstadt Tbilissi die dortigen nationalistisch ausgerichteten
Menschewiki durch.
Rund einen Monat nach dem Sturm auf den
Winterpalast hatten die Bolschewiki die wichtigsten Fronten und den
Generalstab der Armee erobert und sich die Herrschaft über die
entscheidenden Städte und Eisenbahnzentren des nördlichen
und mittleren Rußland sowie von Sibirien weitgehend gesichert.
Zentren der Gegenrevolution bildeten sich nach der Niederschlagung
eines bolschewistischen Aufstandes im Südwesten um das Kiewer
Parlament, die »Zentral-Rada«, die an den Nationalismus
der Ukrainer appellierte, sowie im Südosten in den Gebieten der
Don-, Kuban- und Orenburgkosaken. In Rostow am Don versammelten sich
Führer bürgerlicher Parteien, Offiziere, Aristokraten und
Unternehmer. Ihre Hoffnung richteten sich auf den Ataman der
Donkosaken, General Alexei M. Kaledin, der zusammen mit General
Michail V. Alexejew und dem Putschistenführer Lawr G. Kornilow
eine gegenrevolutionäre Freiwilligenarmee aufstellte.
Eine Minderheit innerhalb der Führung der Bolschewiki
forderte die Bildung einer Regierung, in die auch die
sozialdemokratischen Menschewiki sowie die bäuerlichen
Sozialrevolutionäre eintreten sollten. Doch Sozialrevolutionäre
und Menschewiki verlangten die Absage an die Rätemacht und einen
Rücktritt Lenins als Regierungschef. Die Mehrheit des
Zentralkomitees der Bolschewiki hatte daher eine Resolution
angenommen, wonach alle weiteren Verhandlungen zur Bildung einer
gesamtsozialistischen Regierung nur zur Entlarvung dieser Parteien
geführt werden sollten. Daraufhin erklärten am 17. November
Grigori Sinowjew, Lew Kamenew, Alexej Rykow, Viktor Nogin und
Wladimir Miljutin ihren Rücktritt aus dem ZK. Zugleich traten
die drei letztgenannten sowie Iwan Theodorowitsch und Alexander
Schlapnikow aus der Regierung aus und forderten eine
gesamtsozialistische Regierung als einzige Alternative zur »durch
politischen Terror im Amt gehaltene[n] rein bolschewistische[n]
Regierung«.2 Lenin brandmarkte diese Opposition als »Deserteure
und Streikbrecher« (LW, Bd. 26, S. 300). Kamenew wurde als
Vorsitzender des Gesamtrussischen Zentralexekutivkomitees der Räte
durch Jakow Michailowitsch Swerdlow ersetzt.
Die Voraussetzung
für eine Erweiterung der Regierung um die Partei der Linken
Sozialrevolutionäre wurde Ende November auf dem in Petrograd
abgehaltenen zweiten Allrussischen Bauernkongreß gelegt.
»Rechts sah man einige Offiziere und die patriarchalischen,
bärtigen Gestalten der älteren und wohlhabenderen Bauern,
im Zentrum waren einige wenige Bauern, Unteroffiziere und ein paar
Soldaten, während die Delegierten auf der Linken fast ohne
Ausnahme die Uniformen einfacher Soldaten trugen«,3 beschrieb
John Reed die geänderte soziale Zusammensetzung des Kongresses
gegenüber dem vorangegangenen Bauernkongreß, auf dem
Intellektuelle und Großbauern den Ton angegeben hatten. Über
die Hälfte der Delegierten gehörten den Linken
Sozialrevolutionären an, während die Bolschewiki nur ein
knappes Fünftel hinter sich hatten und die rechten
Sozialrevolutionäre ein Viertel. Es kam zu heftigen Debatten
zwischen Lenin, dem ehemaligen Landwirtschaftsminister der
Provisorischen Regierung Viktor M. Tschernow und der Führerin
der Linken Sozialrevolutionäre Maria Spiridonowa. Die
unscheinbare, blasse und bebrillte Spiridonowa war nach einem
Attentat auf einen zaristischen General lange inhaftiert worden und
galt als die einflußreichste Frau Rußlands. Lenin, dessen
Reden immer wieder von Protestrufen unterbrochen wurden, betonte die
Bedeutung des unmittelbar nach dem Oktoberaufstand vom Allrussischen
Kongreß der Arbeiter- und Soldatenräte nach dem Wunsch der
Bauern erlassenen Dekrets über Grund und Boden und konstatierte,
daß das Recht der Arbeiter zur Übernahme der Fabriken
genauso legitim sei wie das Recht der Bauern zur Aufteilung des
Landes. Nach dem Austritt der konservativen Delegierten stellte sich
der Bauernkongreß schließlich hinter die Sowjetmacht und
wählte ein neues Exekutivkomitee, daß mit dem
Gesamtrussischen Zentralexekutivkomitee der Arbeiter- und
Soldatenräte verschmolz. Am 22. Dezember erklärten die
Linken Sozialrevolutionäre ihre Bereitschaft, dem Rat der
Volksbeauftragten beizutreten. Andrej Kolegajew übernahm das
Landwirtschaftsressort, Isaak Steinberg wurde Volkskommissar für
Justiz und der Armenier Prosch Pertschewitsch Proschjan Kommissar für
Post und Telegraphenwesen. Die Linken Sozialrevolutionäre
verließen die Regierung allerdings im März 1918 aus
Protest gegen die Unterzeichnung des Diktatfriedens von Brest-Litowsk
wieder.
Gefährlicher als die sich erst formierende militärische
Bedrohung waren in den ersten Wochen der Revolution Boykott und
Sabotage der Staatsbürokratie sowie künstlich geschürte
Unruhen krimineller Elemente. So erklärte das Komitee des
Verbandes der Staatsangestellten zwei Tage nach der
Oktoberrevolution: »Wir halten es nicht für möglich,
unsere Erfahrungen, unsere Kenntnisse und den Verwaltungsapparat
solchen Gewalttätern zu übergeben«4 – gemeint
war die Sowjetregierung. Der Streik der Regierungsbeamten wurde von
Banken und Handelshäusern finanziert. In den Ministerien trafen
die Volkskommissare auf verschlossene Büros, wichtige Dokumente
waren entfernt und Tresore leergeräumt worden. Alexandra
Kollontai, Volkskommissarin für soziale Fürsorge und
weltweit die erste Frau im Ministerrang, wurde mit einem Streik ihres
Ministeriums konfrontiert, während zahllose Delegationen
ausgehungerter Krüppel und Waisen das Gebäude umlagerten.
Mit Tränen in den Augen ordnete Kollontai die Verhaftung der
Streikenden an, bis sie die Schlüssel für den Tresor
erhielt. Doch die bisherige Leiterin des Geschäftsbereichs, eine
Gräfin Sofia Panina, hatte die Gelder bereits beiseite
geschafft.
Während große Geldsummen an das
gegenrevolutionäre »Komitee zur Rettung des Vaterlandes«
ausgezahlt wurden, weigerte sich die Staatsbank, Forderungen der
Sowjets zu erfüllen. Den Fabriken drohten durch die Sabotage der
Bourgeoisie die Brennstoffe auszugehen und Petrograd die
Lebensmittel. Dazu kamen die sogenannten Weinpogrome. Weinkeller in
der ganzen Stadt wurden geplündert, betrunkene Soldaten
lungerten auf den Straßen herum, antisowjetische Flugblätter
wurden verteilt. Allein in der Nacht zum 17. Dezember kam es zu mehr
als 60 derartigen Zwischenfällen. Es stellte sich heraus, daß
die Kadettenpartei5 eine Organisation geschaffen hatte, um Unruhe
unter Soldaten zu stiften und diesen die Standorte der Weinkeller
verriet. Das Zentrale Exekutivkomitee setzte einen außerordentlichen
Militärkommissar zur Bekämpfung der Trunkenheit ein, der
Plünderungen mit Waffengewalt niederschlagen und Weinkeller mit
Dynamit zerstören ließ. Mit eiserner Selbstdisziplin
verschütteten Kronstädter Matrosen auserlesenste Weine im
Wert von fünf Millionen Dollar aus den Kellereien des
Winterpalastes.
Über Petrograd wurde der
Belagerungszustand verhängt, Rotgardisten mit Panzerwagen
versahen Streifendienst in den Straßen. »Zum Kampf gegen
Konterrevolutionäre und Saboteure sind außerordentliche
Maßnahmen notwendig«, schrieb Lenin an Felix E.
Dzierzynski (LW 26, S. 372). Der erfahrene polnische Bolschewik, der
jahrelang in den Kerkern des Zaren gefangen war, wurde mit dem Aufbau
einer »Außerordentlichen Kommission für den Kampf
gegen die Konterrevolution und Sabotage« – kurz Tscheka –
beauftragt. Diese mit nur wenigen Mitteln und einem kleinen Stab
ausgestattete Polizei hatte anfangs kaum Gemeinsamkeiten mit dem
später gefürchteten Geheimdienst. Die wenigen von ihr
verhängten Todesstrafen betrafen Banditen, nicht politische
Oppositionelle. Presseorgane, die zum offenen Widerstand gegen die
Arbeiter- und Bauernregierung aufriefen oder durch verleumderische
Entstellungen Verwirrung stifteten, wurden verboten. Zugleich betonte
das entsprechende Dekret, daß es sich bei der Zensur um eine
Ausnahmemaßnahme handeln sollte. »Sobald die neue Ordnung
sich gefestigt haben wird, werden jegliche administrative
Einwirkungen auf die Presse eingestellt werden.«6
Die Sowjetregierung verordnete den Acht-Stunden-Arbeitstag und die
allgemeine Arbeitspflicht für alle Bürger zwischen 16 und
55 Jahren. Angehörige der reichen Klassen mußten ein
Budget- und Arbeitsbuch führen. »Personen, die sich des
Betrugs am Staate und am Volke schuldig machen, werden mit
Konfiskation ihres gesamten Vermögens bestraft«, heißt
es im Dekret: »Zur gleichen Strafe sowie zu Gefängnishaft,
Abtransport an die Front oder Zwangsarbeit werden alle Personen
verurteilt, die diesem Gesetz zuwiderhandeln, wie auch Saboteure,
streikende Beamte und Spekulanten« (LW 26, S. 391).
Die
alten Gesetze galten nur insoweit, »als sie von der Revolution
nicht abgeschafft wurden und dem revolutionären Gewissen und
Rechtsbewußtsein nicht widersprachen«.7 Der Rat der
Volkskommissare ließ die alten Gerichtsinstitutionen abschaffen
und gewählte Arbeiter- und Bauerntribunale bilden. Der erste
Prozeß vor dem Petrograder Revolutionstribunal betraf die
Gräfin Sofia Panina wegen der Unterschlagung von Geldern der
öffentlichen Wohlfahrt. Das Tribunal erklärte Panina für
schuldig, beschränkte sich aber auf einen öffentlichen
Tadel und entließ sie aus der Haft, sobald die Gelder
zurückgegeben waren.
Das Besitzrecht an großen
Mietshäusern wurde abgeschafft, die Häuser wurden von den
Mietern gewählten Hauskomitees unterstellt. Schon, um zu
verhindern, daß die Bourgeoisie ihr Vermögen zur
Finanzierung der Konterrevolution verwendet, wurde am 27. Dezember
das Bankwesen zum Staatsmonopol erklärt; die Privatbanken wurden
mit der Staatsbank zur einheitlichen Volksbank vereinigt. Die
Besitzer von Banksafes mußten diese zur Inspektion öffnen,
Goldbesitz wurde vom Staat übernommen. Dividendenzahlungen und
Aktiengeschäfte wurden verboten, und am 10. Februar annullierte
ein Dekret die Schulden der russischen Regierung. Ausländische
Anleihen wurden »unbedingt und ohne Ausnahme« für
nichtig erklärt.
Zwecks planmäßiger
Regulierung der Volkswirtschaft war durch das Dekret über die
Arbeiterkontrolle vom 27. November Fabrikkomitees die Macht über
Produktion, Kauf und Verkauf sowie die Finanzen aller Unternehmen
übergeben worden, die Lohnarbeiter beschäftigten. Ein
Oberster Wirtschaftsrat wurde eingesetzt, der das Recht hatte,
Industrieunternehmen zu enteignen. Firmen, die sich der
Arbeiterkontrolle der Produktion nicht unterwerfen wollten, wurden
grundsätzlich beschlagnahmt. Eingeleitet wurde die
Nationalisierung der Industrie mit der Beschlagnahmung der
Likin-Manufaktur. Es folgten mehrere Bergwerksaktiengesellschaften,
das Flugzeugwerk Antara in Simferopol und die Petrograder
Putilow-Werke. Die völlige Verstaatlichung der Industrie erfolge
erst im Sommer 1918.
Um die Finanznot der Räte zu
bekämpfen, kam es zu einer regelrechten »rotgardistischen
Attacke gegen das Kapital«8, wie Lenin es formulierte. Der
Kommandant der Roten Partisanenarmee im Süden, Wladimir A.
Antonow-Owsejenko, ließ beispielsweise 15 reiche Bürger
Charkows in einen Eisenbahnzug einsperren und drohte ihnen
Deportation in die Donezbergwerke an, wenn sie nicht die von den
Arbeitern als Weihnachtsgeld verlangte eine Million Rubel
zahlten.
Mit der Deklaration über die Rechte der Völker
Rußlands löste die Sowjetmacht am 15. November ein
weiteres wesentliches Versprechen der Revolution ein. Die
einstmals vom Zarismus unterdrückten Völker hatten nun das
Recht auf Selbstbestimmung bis zur Lostrennung und Bildung eines
eigenen Staates. Gleichzeitig warb die Sowjetregierung um einen Bund,
durch den »die Arbeiter und Bauern der Völker Rußlands
zu einer einzigen revolutionären Kraft zusammengeschweißt
werden, fähig, allen Anschlägen der imperialistischen,
annexionistischen Bourgeoisie zu widerstehen«.9
In einem Aufruf an alle »werktätigen
Muslime Rußlands und des Ostens« wurde diesen die Achtung
ihrer Religion und Kultur zugesichert. Gleichzeitig wurden sie zum
Kampf gegen koloniale Unterdrückung an der Seite der Rätemacht
aufgerufen. Gemäß dem Prinzip der Selbstbestimmung
unterzeichnete der Rat der Volkskommissare am 31. Dezember das Dekret
über die staatliche Unabhängigkeit Finnlands.
Auf
kultureller Ebene war Rußland auf dem Stand des Mittelalters.
Religion spielte eine große Rolle, das Bildungsniveau war
extrem niedrig, 70 bis 80 Prozent der Bevölkerung waren
Analphabeten. Die Sowjetmacht setzte hier eine Kulturrevolution in
Gang. Bereits am Tag nach der Oktoberrevolution hatte Lenin den
bekannten marxistischen Kulturpolitiker Anatoli W. Lunatscharski das
Volkskommissariat für »Aufklärung« mit den
Worten anvertraut, seine Hauptaufgabe liege in der Bekämpfung
des Analphabetentums. Dies sei noch keine politische Aufgabe, sondern
vielmehr die Vorbedingung, um überhaupt über Politik
sprechen zu können.
Das russische Alphabet wurde von
überflüssigen Buchstaben und Zeichen bereinigt und der um
dreizehn Tage hinter dem westlichen zurückliegende russische
Kalender am 1. Februar 1918 abgeschafft. Die Sowjetregierung rief das
Volk zum Schutz kultureller Reichtümer und Denkmäler auf.
Ein Staatsverlag wurde mit der Herausgabe von Volksausgaben
russischer Klassiker beauftragt. Selbst die Öffnungszeiten der
Petrograder Stadtbibliothek fanden die Aufmerksamkeit Lenins. »Der
Lesesaal der Bibliothek muß, wie es in allen Kulturstaaten in
privaten Bibliotheken und Lesesälen für die Reichen Brauch
ist, täglich, einschließlich der Sonn- und Feiertage, von
acht Uhr morgens bis elf Uhr abends geöffnet sein« (LW 26,
S. 328).
Neue Gesetze stellten die rechtliche Gleichheit
zwischen Mann und Frau her. Lediglich Zivilehen wurden vom Staat
anerkannt. Die Scheidung konnte auf Wunsch eines der beiden
Ehepartner ausgesprochen werden. Uneheliche Kinder erhielten die
gleichen Rechte wie ehelich gezeugte. Die feudale Ständegliederung
und die Adelstitel wurden aufgehoben. Am 9. Februar 1918 wurde ein
Gesetz zur völligen Trennung von Staat und Kirche sowie Schule
und Kirche erlassen. Gleichzeitig garantierte ein Dekret, daß
»jeder Bürger sich zu einer beliebigen Religion bzw. zu
keiner Religion bekennen kann« und Diskriminierungen aufgrund
des Glaubens unzulässig sind. Solche Aufgaben der
bürgerlich-demokratischen Revolution wurden sozusagen als
Nebenprodukt der sozialistischen Revolution gelöst. »In
nur zehn Wochen«, schrieb Lenin, »haben wir auf diesem
Gebiet tausendmal mehr geleistet, als die bürgerlichen
Demokraten und Liberalen (die Kadetten) und die kleinbürgerlichen
Demokraten (die Menschewiki und Sozialrevolutionäre) in acht
Monaten ihrer Herrschaft geleistet haben.«10
Die
Beschlüsse der ersten zweieinhalb Monate Sowjetmacht wurden Ende
Januar 1918 vom III. Gesamtrussischen Sowjetkongreß in der
»Deklaration der Rechte des werktätigen und ausgebeuteten
Volkes« bestätigt. »Bei uns in Rußland ist
jetzt auf innenpolitischem Gebiet die neue Staatsordnung der
sozialistischen Sowjetrepublik endgültig als Föderation
freier Republiken der verschiedenen Nationen Rußlands
anerkannt«, resümierte Lenin (LW 26, S. 478). Die
wichtigste Frage war nun die Sicherung des Friedens. Während
erste Einheiten der zukünftigen Roten Armee gebildet wurden,
begannen in Brest-Litowsk die Friedensverhandlungen mit den
Vertretern der Achsenmächte Deutschland, Österreich-Ungarn,
Osmanisches Reich und Bulgarien.
1 John Reed: 10 Tage,
die die Welt erschütterten, Berlin 1957, S. 327
2 William
H. Chamberlin: Die russische Revolution 1917–1921, Bd. 1,
Frankfurt/Main 1958, S. 325
3 John Reed: 10 Tage, die die Welt
erschütterten, S. 370
4 Albert Nenarokow: Geschichte der
Großen Sozialistischen Oktoberrevolution in Wort und Bild, Köln
1987, S.315
5 Die Konstitutionellen Demokraten, kurz KD und
deshalb Kadetten genannt, repräsentierten das russische
Großkapital.
6 John Reed: 10 Tage, die die Welt
erschütterten, S. 447
7 William H. Chamberlin: Die
russische Revolution 1917–1921, S. 333
8 Zitiert nach
Albert Nenarokow: Geschichte der Großen Sozialistischen
Oktoberrevolution ..., S. 319
9 Ebd., S. 304
10 Zitiert
nach Albert Nenarokow: Geschichte der Großen Sozialistischen
Oktoberrevolution ..., S. 315