Tageszeitung junge Welt

08.04.2006 / Wochenendbeilage / Seite 15 (Beilage)


Die erste Intifada

Vor 70 Jahren begann in Palästina ein Aufstand der arabischen Bevölkerung

Von Nick Brauns

Zwischen 1936 und 1939 war Palästina Schauplatz einer ersten Intifada gegen britische Mandatsherrschaft und zionistischen Siedlerkolonialismus. Hintergrund war ein massiver Anstieg der zionistischen Zuwanderung seit 1932. Allein 1935 kamen 61854 Siedler ins Land. Verstärkt wurde der Zustrom durch jüdische Flüchtlinge aus Nazideutschland, denen sonst kein Land die Einreise gestattete. Zwischen 1932 und 1936 flossen 30000000 Pfund von zionistischen Organisationen nach Palästina. Kleine arabische Landbesitzer waren durch blanke Not zum Verkauf gezwungen, und weitere 172 010 Dunam Boden gingen in jüdische Hände über. Von den Briten begünstigt, hatten Zionisten zahlreiche Verwaltungspositionen erobert. Gleichzeitig ging die zionistische Führung von ihrer Strategie der schrittweisen Errichtung einer jüdischen Heimstatt ab und zielte offen auf einen eigenen Staat.

 

 

Panik um Landverkauf


Unter arabischen Intellektuellen löste die massive Einwanderung Panik aus, würden doch die Araber bei gleichbleibendem Zustrom von Siedlern bald zu einer Minderheit im eigenen Land werden. Bereits im Oktober 1933 war die arabische Bevölkerung in einen Generalstreik gegen die britische Mandatsherrschaft getreten, die durch das Versprechen einer jüdischen Heimstatt in der Balfour Declaration von 1917 Hauptförderer des Siedlerkolonialismus war.

 

Das Scheitern des zivilen Widerstands führte zum bewaffneten Kampf. Seit 1934 hatte Scheich Izz el-Din el-Qassam, der einen fundamentalistischem Islam predigte, in der Umgebung von Haifa Jugendliche paramilitärisch organisiert. Qassam starb bei einem Gefecht mit britischen Sicherheitskräften in der Gebirgsregion bei Dschenin. Die Bedeutung des Scheichs, den die Hamas zu ihren Ahnen rechnet, liegt weniger im amateurhaften Versuch, einen Guerillakrieg zu entfachen, sondern in seiner nachfolgenden Verklärung als Märtyrer. Sein Opfertod hatte die Bereitschaft zum bewaffneten Kampf unter der bäuerlichen Bevölkerung und der palästinensischen Jugend weiter gesteigert.

 

Zum eigentlichen Auslöser des Aufstandes wurde am 15. April 1936 die Ermordung zweier jüdischer Reisender bei Nablus durch Anhänger Qassams. In der angespannten Atmosphäre löste der Doppelmord umgehend Vergeltungsakte aus, die eine weitere Gewaltspirale in Gang setzten.

 

Um nicht die Kontrolle über die revoltierende Basis zu verlieren, schlossen sich die traditionellen Partei- und Clanführer unter Leitung des Mufti von Jerusalem Amin el-Husseini zu einem Obersten Arabischen Komitee zusammen, das zum Generalstreik aufrief. Von der britischen Besatzungsmacht wurde die Erfüllung eines Dreipunkteprogramms verlangt: Beendigung der jüdischen Einwanderung, Verbot des Landverkaufs an die Juden und Unterordnung der Mandatsbehörde unter eine demokratisch von der Bevölkerungsmehrheit gewählte Regierung.

 

Der Generalstreik umfaßte die größeren Städte Palästinas mit ihren Geschäftszentren, Kleinbetrieben, Transportunternehmen und Verwaltungen. Die Maßnahmen liefen weitgehend ins Leere, weil die jüdische Bevölkerung sich nicht daran beteiligte und gerne die von Arabern aufgegebenen ökonomischen Positionen besetzte. So erlaubte die britische Mandatsmacht den Zionisten, anstelle des bestreikten Hafens von Jaffa vor der Küste von Tel Aviv eine Mole zu errichten, die später alle Aufgaben des veralteten Jaffaer Hafens übernehmen konnte.

 

Gleichzeitig mit dem Generalstreik begann der bewaffnete Widerstand von mehreren tausend zumeist bäuerlichen Kämpfern. Ohne zentrale Leitung unter dem Kommando örtlicher Führer organisierten die Partisanen Sabotageakte gegen Eisenbahnzüge und Pipelines und griffen jüdische Siedlungen an. Unter den Kämpfern fanden sich Nationalisten und Anhänger des Mufti ebenso wie örtliche Straßenräuber und panarabische Freiwillige. Vereinzelt auftauchende Hakenkreuze zeigten, daß bei der bäuerlichen Bevölkerung neben einem fortschrittlichen Antikolonialismus auch rückschrittliche antijüdische Elemente anzutreffen waren. Aber zum wahren Symbol des Aufstandes wurde die Keffieh, das Palästinensertuch, das nun von der ganzen Bevölkerung getragen wurde, damit die Aufständischen unter der arabischen Bevölkerung schwimmen konnten wie der Fisch im Wasser.

 

 

 

Arabische Widersprüche


Die Guerillabewegung erlitt im Zuge einer britischen Gegenoffensive im September eine schwere Niederlage bei Dsch‘aba. In der ersten Oktoberhälfte wurde auch der Generalstreik abgebrochen, da die arabischen Eigentümer der Orangenplantagen um ihre Ernte fürchteten.

 

Doch im Juli 1937 flammten die Kämpfe erneut auf, nachdem Großbritannien einen für die Araber inakzeptablen Teilungsplan für Palästina vorschlug. Nach der Erschießung des Distriktkommissars von Galiläa am 26. September 1937 löste die britische Besatzungsmacht das Oberste Arabische Komitee auf und deportierte die Führer nach Rhodesien und auf die Seychellen. Dem Mufti, der sich um eine Unterstützung des Aufstandes durch die faschistischen Mächte Deutschland und Italien bemühte, gelang in Frauenkleidern die Flucht in den Libanon.

 

Die Rebellion erreichte im Herbst 1938 ihren Höhepunkt, als die Rebellen das enge Straßengewirr der Altstadt von Jerusalem, das Bergland im Zentrum Palästinas, Galiläa, Hebron, Beersheba und Gaza kontrollierten. Doch das Machtvakuum wurde nicht genutzt, die Rebellion nicht zur Revolution erweitert. Der Aufstand trug alle Züge und Schwächen einer bäuerlichen Revolte. Clanstreitigkeiten unter den Führern, die in bewaffneten Kämpfen untereinander gipfelten sowie zunehmende Gewalt gegen die arabische Bevölkerung beim Eintreiben von Spenden erleichterten den Briten die Niederschlagung des Aufstandes.

 

Die britische Luftwaffen bombardierte jetzt ganze Dörfer. Ergriffene Partisanen wurden hingerichtet, Tausende Araber häufig ohne Anklage inhaftiert. Die damaligen Aufstandsbekämpfungsmaßnahmen aus militärischer Übermacht, einem Netz von festungsartigen Polizeistationen und Sicherheitsstraßen, kollektiver Vergeltung durch Häuserzerstörung sowie dem Einsatz von Konterguerilla unter Einschluß der zionistischen Kampfgruppe Haganah und Irgun sind bis heute Elemente der israelischen Besatzungspolitik geblieben.

 

Im März 1939 brach der Aufstand unter den massiven Unterdrückungsmaßnahmen zusammen. Er hatte mehr als 5000 Arabern, 400 Juden und 200 Briten das Leben gekostet. Das Scheitern der Revolte hatte ihre Ursachen auch in der feudalen Zersplitterung der palästinensischen Gesellschaft, der Uneinigkeit ihrer Führer sowie dem Fehlen eines klaren, vorwärtsweisenden Programms.

 

Quellentextaus dem Jahr 1938: Keffieh als Symbol

 

Inzwischen ist die Lage in Palästina unhaltbar geworden. Wenn im Frühjahr 1938 noch von einem Bandenkrieg gesprochen werden konnte, ist im Herbst eine wahre Volkserhebung zu verzeichnen. Die Ausweisung des Mufti von Jerusalem hat keineswegs die Folge gehabt, seine Tätigkeit einzudämmen – ganz im Gegenteil: Im Libanon hat er viel mehr Freiheit, die Propaganda zu leiten und den Kampfgeist zu wecken. In Bagdad wird ein Komitee der Dreizehn zur Verteidigung Palästinas gegründet. Der ehemalige oberste Bandenführer Fauzi-ed-din-Kaukadji, der aus Palästina fliehen mußte, leitet von Bagdad aus die kriegerischen Unternehmungen und schickt strategische Pläne. Sein Bruder beschäftigt sich mit der Waffenlieferung. Abgesehen von einigen alten türkischen Gewehren sind alle Waffen ganz modern. Eine Truppe von dreihundert jungen Freiwilligen in Bagdad ist nur dazu da, die Weisungen des Komitees auszuführen und mit den Aufständischen Fühlung zu halten.

 

Die Aufständischen selbst bekommen täglich neuen Zuzug. Jahrelang waren die Städter zurückhaltend. Sie sahen mit dem dauernden Kleinkrieg alle Verdienstmöglichkeiten hinschwinden. Jetzt haben sie sich angeschlossen. Im August gibt die Leitung der Aufständischen die Weisung: Alle Araber in ganz Palästina haben den Tarbusch abzulegen und die Keffieh zu tragen. Das ist ein Symbol der Einigung. Manche Europäer lachen darüber – was bedeutet der Wechsel einer Kopfbedeckung? fragen sie. Aber es ist mehr als ein Symbol. Es ist eine Art Tarnung für den Krieg. Zuvor waren die Landleute, das heißt die Aufständischen, wenn sie in die Stadt kamen, leicht zu erkennen, – an ihrem Kopftuch. Jetzt sehen alle gleich aus. Und alle kann man nicht verhaften. Der Berichterstatter der Times schreibt am 5. Oktober einen sehr ernsten Satz: »Wenn nicht schnell eine Lösung gefunden wird, mag es notwendig sein, Palästina noch einmal von neuem zu erobern.« Schon ist eine so wichtige Stadt wie Bethlehem von den englischen Truppen aufgegeben worden.

 

* Margret Boveri: Vom Minarett zum Bohrturm, Eine politische Biographie Vorderasiens, Zürich/Berlin/Leipzig 1938, S.431