Soz Nr. 03/2018 |

Efrin: Erdogans Vietnam?

 

Seit einem Monat trotzt Efrin in Nordsyrien dem Angriffskrieg der türkischen NATO-Armee


von Nick Brauns

 

Seit dem 20.Januar führt die Türkei einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen den Kanton Efrin im Norden Syriens. Aus der Luft und am Boden wird eine während der letzten sieben Jahre vom Krieg verschonte Region angegriffen, in der neben der einheimischen kurdischen Bevölkerung auch hunderttausende arabische Flüchtlinge aus anderen Landesteilen Zuflucht gefunden haben.

Auf Seiten der türkischen NATO-Armee kämpfen tausende radikale Jihadisten aus dem Umfeld von al-Qaeda sowie faschistische Graue Wölfe unter der Fahne der Freien Syrischen Armee (FSA).

Die türkische Regierung rechtfertigt ihren zynisch als «Operation Olivenzweig» bezeichneten Angriffskrieg als Antiterroroperation zur Befreiung Efrîns von den Volks- und Frauenbefreiungseinheiten YPG und YPJ. Für die Türkei gehe es in Efrin um Sein oder Nichtsein, erklärte der Führer der faschistischen Grauen Wölfe, Devlet Bahceli, der mit dem türkischen Präsidenten Erdogan in einer antikurdischen Kriegsallianz steht, den Angriff des 80-Millionen-Lands auf den Kanton von der Größe des Saarlands mit rund einer Million Einwohner. Ein Ziel Ankaras ist es, die dauerhafte Etablierung eines mehrheitlich von Kurden bewohnten Selbstverwaltungsgebiets entlang der Grenze zur Türkei zu verhindern. Darüber hinaus soll mit der Kommune von Efrîn die Keimzelle einer auf die Region ausstrahlenden rätedemokratischen und multiethnischen Alternative vernichtet werden.

Anders als in den beiden anderen östlich des Euphrat gelegenen Kantonen der Demokratischen Föderation Nordsyrien, Kobanê und Cizirê, sind in Efrin keine US-Soldaten stationiert. Washington hat erklärt, Efrin liege außerhalb des Operationsgebietes gegen den Islamischen Staat (IS) und stünde nicht unter dem Schutz der US-geführte Koalition. Russische Militärbeobachter wiederum haben mit ihrem Rückzug aus Efrin grünes Licht für die türkischen Luft- und Bodenangriffe gegeben.

Russlands Absicht ist es, die Kurden mit Hilfe des türkischen Knüppels für ihre militärische Allianz mit den USA zu bestrafen, Efrin zur Unterordnung unter das syrische Regime zu zwingen und zugleich einen Keil in die NATO zu treiben. Von einem Verrat der USA oder Russlands an den Kurden möchte der führende Kader der kurdischen Freiheitsbewegung, Riza Altun, dennoch nicht sprechen. «Der Begriff ‹Verrat› ist richtig, wenn er für die Kurden verwendet wird, die ihre Zukunft von den USA abhängig gemacht haben. Aber in Rojava ist das nicht der Fall. Es gibt sowieso kein gemeinsames Zukunftsprojekt mit den USA … Es wird von uns ein antiimperialistischer Kampf geführt. Deshalb kann eine antiimperialistische Kraft nicht sagen, dass die Imperialisten sie verraten hätten.»

 

Kriegsbegeisterung

Noch vor den außenpolitischen Zielen liegen dem Krieg innenpolitische Absichten Erdogans zugrunde. Der knappe Ausgang des Referendums über die Einführung eines Präsidialsystems im April letzten Jahres hatte gezeigt, dass rund die Hälfte der Bevölkerung nicht hinter dem Präsidenten steht. Zur schwindenden Hegemonie der Regierungspartei AKP kommt die zunehmend desolate Wirtschaftslage. Es geht dem AKP-Regime darum, im Vorfeld der regulär für 2019 angesetzten, aber wohl vorgezogenen Neuwahlen eine breite gesellschaftliche Zustimmung zur Ausschaltung jeglicher Opposition zu schaffen.*

Ein Großteil der nominellen Oppositionsparteien hat bereits freiwillig kapituliert. Die kemalistisch-sozialdemokratische CHP steht, gefangen in ihrer Staatsfixiertheit, ebenso Gewehr bei Fuß wie die faschistische MHP und die von ihr abgespaltene Gute Partei (IYI). Die Religionsbehörde Diyanet hat den «Jihad» gegen die «ungläubigen Marxisten» der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und ihrer syrisch-kurdischen Schwesterpartei PYD ausgerufen, in den Moscheen wird für den Sieg in Efrin gebetet. Fußballfans feiern den Krieg in Choreographien, Bürgermeister und Künstler signieren Granaten. Der Hashtag «Syrien soll brennen – Efrin soll vernichtet werden» trendete eine Nacht lang weltweit beim Kurznachrichtendienst Twitter. Meinungsforscher sehen rund 80 Prozent der Bevölkerung der Türkei hinter dem Krieg – in der Metropole Diyarbakir im kurdischen Südosten des Landes lehnt allerdings eine ebensolche Mehrheit die Angriffe auf Efrin entschieden ab.

Öffentliche Stimmen gegen den Krieg sind kaum zu vernehmen. Um die 800 Personen wurden wegen kriegskritischer Äußerungen in sozialen Netzwerken oder der Beteiligung an Protesten festgenommen. Auch die Vorsitzenden der Ärztekammer wurden wegen «Aufwiegelung der Bevölkerung» und «Terrorpropaganda» inhaftiert, weil sie sich gegen Krieg ausgesprochen hatten. Lediglich die linke Demokratische Partei der Völker (HDP) konnte ihren Parteitag in Ankara am 11.Februar zu einer kraftvollen Antikriegskundgebung mit Zehntausenden Teilnehmern nutzen.

 

Die Gemengelage

Während die türkische Regierung auch nach einem Monat Krieg dreist behauptet, es habe keine zivilen Toten gegeben, starben nach Angaben der Gesundheitsbehörden von Efrin bislang fast 200 Zivilisten im Bomben- und Granathagel auf Dörfer und städtische Wohnviertel. Systematisch wird zivile Infrastruktur wie Wasser- und Stromversorgung, Großbäckereien und Schulen sowie das Zentrum der Hilfsorganisation Kurdischer Roter Halbmond beschossen. Bombardiert wurden auch archäologische Stätten wie ein 3000 Jahre alter hethitischer Tempel. «Mit den Angriffen wird bezweckt, die Bevölkerung zu vertreiben und die demographische Struktur zu verändern», erklärte der Sprecher der um die YPG gebildeten Demokratischen Kräfte Syriens (SDF), Redur Xelil. An Stelle der kurdischen Bevölkerung will die türkische Regierung Hunderttausende syrisch-arabische Flüchtlinge aus der Türkei ansiedeln. Doch eine Massenflucht aus Efrin blieb bislang aus, stattdessen sind Tausende Menschen aus anderen Städten Nordsyriens mit Solidaritätskonvoys nach Efrin gekommen. Christliche Kämpfer des Militärrats der Assyrer haben sich ebenso dem Widerstand angeschlossen wie jesidische Milizionäre aus dem Nordirak.

Die syrische Regierung, deren Truppen den Korridor zwischen Aleppo und Efrin kontrollieren, ließ diese Verstärkung passieren. Denn bei allen Separatismusvorwürfen gegenüber den Kurden hat auch das syrische Regime kein Interesse daran, Efrin unter türkische Besatzung geraten zu lassen. So gibt es Verhandlungen über die Stationierung syrischer Truppen in Efrin. Doch während von Seiten der Selbstverwaltung die Bereitschaft besteht, den Schutz des Luftraums und der Grenze zur Türkei in die Hand der Regierungstruppen zu legen, wird eine Rückkehr der Region zum politischen Status von 2010 für inakzeptabel erklärt. Eben eine solche «Lösung» auf dem Rücken der Kurden wird aber von Moskau forciert – auch Ankara könnte das Gesicht wahren, wenn Efrin wieder unter die politische Kontrolle der Zentralregierung fallen sollte.

 

Volkskrieg

Zeitungen und Fernsehkanäle in der Türkei verbreiten Tag für Tag frei erfundene Erfolgsmeldungen von angeblich über 1500 getöteten «Terroristen». In Wahrheit ist es den Invasionstruppen trotz technischer Überlegenheit auch nach einem Monat nicht gelungen, viel tiefer als 5 Kilometer nach Efrin einzudringen und einige Dutzend Dörfer zu besetzen. Über ein Dutzend Panzer – darunter mehrere Leopard-II aus deutscher Lieferung – sowie zwei Kampfhubschrauber wurden von den YPG zerstört. Die gebirgige Geographie des Kantons kommt den Verteidigern entgegen. Vor allem aber konnte sich die Bevölkerung sechs Jahre lang auf den Angriff der Türkei vorbereiten. Viele Zivilisten haben eine Selbstverteidigungsausbildung an der Waffe erhalten, es wurden eine Verteidigungsinfrastruktur und Bunker zum Schutz der Zivilbevölkerung errichtet.

Hatte Erdogan ernsthaft gehofft, Efrin innerhalb weniger Tage einzunehmen, so sieht er sich mit einem revolutionären Volkskrieg konfrontiert. Denn entgegen der Propaganda seiner gleichgeschalteten Medien haben die Menschen in Efrin nicht auf die Befreiung vom «YPG-Terror» gewartet. Sie sehen in den Volksverteidigungseinheiten vielmehr den einzigen Schutz gegen die Massaker und Gräueltaten der an der Seite der Türkei kämpfenden Jihadisten.

Eine Einnahme und gar die dauerhafte Kontrolle des Kantons erscheinen unrealistisch, wenn die türkische Armee nicht die Intensität ihrer Angriffe massiv steigert und etwa im großen Stil chemische Waffen einsetzt. Insbesondere ein Häuserkampf in der Hauptstadt des Kantons wäre für die türkische Armee äußert verlustreich. Kommunisten aus der Türkei, die mit dem internationalen Freiheitsbatallion auf der Seite der YPG/YPJ gegen die türkischen Invasoren kämpfen, haben die Losung ausgegeben: «Kobanê war Stalingrad, machen wir Efrin zu Vietnam». Denn in Kobanê konnte dem von der Türkei unterstützten IS im Winter 2014/15 die erste große Niederlage beigebracht werden.

Dass Erdogan in Efrin eine militärische Niederlage erleiden wird, ist denkbar. Dass sein Regime aber darüber stürzen wird, wie die YPG erklärt hat, erscheint unwahrscheinlich. Denn bislang betreffen die in die Hunderte gehenden Verluste der Angreifer mehrheitlich syrische Söldner. Zudem ist es der AKP durch die Gleichschaltung und Zensur der Medien und durch weitgehende Ausschaltung von Opposition möglich, der Bevölkerung selbst Niederlagen als Siege zu verkaufen. Ein Einbruch der Kriegsunterstützung an der Heimatfront, wie er wesentlich für die Niederlage der USA im Vietnamkrieg war, ist daher derzeit nicht absehbar. Es droht vielmehr die Errichtung eines offen faschistischen Regimes, unter dem sich die rassistisch-chauvinistische Kriegshetze auch in Pogromen gegen Kurden, Aleviten und Linke im eigenen Land zu entladen droht.